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Magazin für Theologie und Ästhetik


Dschungel, Höhle und Tempel

Steven Spielbergs Indiana Jones-Trilogie

Karsten Visarius

Die Entstehung von "Jäger des verlorenen Schatzes" geht auf das inzwischen legendäre Zusammentreffen zweier "Wunderkinder"[1] zurück, 33 Jahre alt das eine, 30 das andere. Beide hatten zu diesem Zeitpunkt, im Mai 1977, bereits überwältigende Kinoerfolge hinter sich - George Lucas, der Ältere, mit "Star Wars", der am gerade zurückliegenden Wochenende mit Besucherrekorden gestartet war, Steven Spielberg vor allem mit "Der weiße Hai" zwei Jahre zuvor. Lucas hatte nach einer bereits Anfang der siebziger Jahre entstandenen Idee mit Philip Kaufman eine Geschichte über einen Archäologen und Glücksritter geschrieben, der im Wettlauf mit den Nazis auf der Jagd nach der verlorenen Bundeslade war. Diese Geschichte traf sich mit Spielbergs Wunsch, einen Abenteuer-Thriller à la James Bond zu machen. "Während dieser schicksalhaften Begegnung am Strand von Hawaii (wir bauten dabei eine monumentale Sandburg) erzählte mir George die Grundzüge der Geschichte, und ich begann schon Blut zu lecken."[2] Als Drehbuchautor wurde der damals noch weitgehend unbekannte Lawrence Kasdan hinzugezogen. Mit Lucas als Produzent, Spielberg als Regisseur und dem Star Wars-Team für die Spezialeffekte wurde der Film schließlich 1980 in einer Rekordzeit von 73 Tagen gedreht, ganze zwei Wochen schneller als im von der Paramount genehmigten Drehplan vorgesehen - ein Umstand, der dem finanziellen Erfolg des Projekts deutlich zugute kam und unter anderem der präzisen Vorbereitung der einzelnen Takes durch detaillierte Storyboards zu verdanken war.[3]

Produktionstechnik, Ökonomie, eine Vision vom Kino und Sandburgenbauen - in der Kooperation von Lucas und Spielberg für "Raiders of the Lost Arc" verdichtet sich eine Konstellation, aus der ab Mitte der siebziger Jahre eine neue Epoche des Hollywood-Kinos entstand. Eher äußerlich lässt sie sich durch das Phänomen des "blockbusters" kennzeichnen, einem zunächst auf die Kinoökonomie gemünzten Begriff für Filme mit einem hohen Produktionsbudget und einer globalen Marketingstrategie, die nach einem vorbereitenden Werbefeldzug mit dem gleichzeitigen, flächendeckenden Einsatz von hunderten, auf dem amerikanischen Markt sogar tausenden von Kopien den Löwenanteil des Kinoumsatzes auf sich ziehen. Gleichzeitig verändert sich die Zusammensetzung des Kinopublikums; die Masse der Zuschauer bilden Jugendliche, während andere Altersgruppen dem Kino zunehmend verloren gehen.[4] Ein ganzer Strauß negativer Schlagworte gilt dieser Entwicklung: die Marginalisierung der nationalen Filmkulturen außerhalb Amerikas, der kulturelle Imperialismus Hollywoods, die Trivialisierung und Infantilisierung der Stoffe, die Reduzierung dramaturgischer Entwicklung zugunsten technischer Effekte, die Verflachung der Charaktere zu Comic-Schablonen, die Entleerung des Films von Sinn und Bedeutung und so fort. Zumal in der deutschen Filmkritik, die gerade die Seriosität ihrer Beschäftigung durchgesetzt hatte, konnte man eine zeitlang zuverlässig mit einem Manichäismus von (verächtlichem) Kinoerfolg und (wahrer) Filmkultur rechnen.[5] Aber auch in Amerika musste ein Regisseur wie Spielberg, mit einer Reihe erfolgreicher Blockbuster von "Der weiße Hai" über die Indiana-Jones-Trilogie und "E.T." bis zu "Jurassic Park", lange auf seine kulturelle Nobilitierung warten. Über Jahre musste er sich mit Spezial-Oscars für technische Kategorien begnügen, bis ihn die Academy mit sieben Oscars für "Schindlers Liste" - und damit für die Auseinandersetzung mit einer unbestritten anspruchsvollen Thematik, dem Holocaust - auch künstlerisch anerkannte.

Als habe er das Diktum von Karl Marx auf den Kopf stellen wollen, dass sich die Geschichte wiederholt, aber das zweite Mal als "lumpige Farce"[6], hat Spielberg in den Indiana Jones-Filmen zuerst die Action-Komödie und danach mit "Schindlers Liste" das historische Drama inszeniert. Erst der spätere Film macht die Bedeutung der Konfrontation zwischen dem amerikanischen Action-Helden und deutschen Nazis im Kampf um die jüdische Bundeslade in "Raiders of the Lost Arc" und um den heiligen Gral in "Indiana Jones and the Last Crusade" transparent, nicht nur als individuelles, biografisches Motiv, das zuletzt zu Spielbergs Stiftung einer "Visual History of the Survivors of the Holocaust" geführt hat. Nach Roberto Benignis Holocaust-Farce "La vita è bella" könnte man sich vielmehr fragen, ob nicht bereits Spielbergs Indiana Jones weniger den Holocaust als historisches Ereignis als seinen Niederschlag im kollektiven Imaginationsraum Kino reflektiert - und damit die Tatsache, dass wir auch dieses Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts kaum noch als in irgendeiner Form Beteiligte erlebt haben, sondern nur noch aus zweiter Hand, in seinen medialen Spiegelungen, davon erfahren können. Gewiss geht Benigni einen entscheidenden Schritt weiter, indem er das KZ selbst zum Schauplatz und den Mord an den Juden zum Thema seines Films macht. In den in den dreißiger Jahren spielenden Indiana Jones-Filmen liegen die größten Verbrechen der Deutschen, 2. Weltkrieg und Holocaust, noch in der Zukunft. Spielbergs Hitler, vielmehr eine als Hitler verkleidete Charge, der in "The Last Crusade" dem Helden ein Autogramm ins archäologische Notizbuch schreibt, erinnert denn auch eher an Ernst Lubitschs Komödie "To Be or Not to Be" - er ist dort bekanntlich Nebendarsteller eines Warschauer Theaters, der die Rolle seines Lebens spielen darf - als an die historische Figur.

Für Spielberg waren solche Überlegungen wohl kaum von Bedeutung. Seine Nazis kommen aus der Kinowelt, in der sie die Schurken schlechthin verkörpern. Ihnen historische Realität zuzuschreiben hieße, Indiana Jones für einen seriösen Archäologen zu halten. Dennoch sind sie weniger künstlich als die amoralischen Magnaten und Technikfetischisten in den James Bond-Filmen, die wenigstens die Weltherrschaft anstreben. Wenn in diesen diffuse Zukunftsängste vor anonymen ökonomischen und technologischen Mächten ein Gesicht erhalten, so weisen die Schauder - und Triumphe - bei Spielberg eher zurück, in eine Welt, in der die Namen und Nachrichten, die Begriffe und Ereignisse der Wirklichkeit noch Anlass zu schreckhaft oder lustvoll imaginierten, jedenfalls dem "Realitätsprinzip" nur begrenzt unterworfenen Geschichten boten. Spielberg, so eine oft variierte Beobachtung, hat im Kino ein Mittel gefunden, diese Welt wieder herzustellen. Nennt man sie "Kindheit", glaubt man sie auch längst überwunden zu haben - und bringt sich dabei um die Einsicht, dass sie immer noch, neben unserer "erwachsenen" Realitätstüchtigkeit, existiert. Man mag den Erfolg des Spielberg-Kinos als Kalkül durchschauen und übersieht dabei, dass er den Spielraum des Kinos neu belebt hat, indem er für unser notorisches, vielleicht kindisches Ungenügen an der Realität, diesen anscheinend unstillbaren Mangel, einen grandiosen Trost gefunden hat. Die treffendste Formel für Spielbergs Geheimnis hat der amerikanische Filmwissenschaftler James Monaco geprägt. Spielberg, so schreibt er in seinem Standardwerk "American Film Now", hat "das Kino in Religion verwandelt."[7] Auch so lässt sich der Wunsch, zurück zu finden, begreifen. Als Stoßgebet von Spielbergs Geschöpf E.T. lautet die gleiche Formel schlicht "Nach Hause!". Nach Hause, das heißt, der Logik des Films zufolge, zurück in eine imaginäre Welt, für die es bestenfalls erfundene Bilder gibt.

Nur auf den ersten Blick widerspricht die genretypische Abenteuerwelt der Indiana Jones-Filme diesem Befund, insofern das Abenteuer, wie Georg Simmel schreibt, dadurch bestimmt werden kann, "dass es aus dem Zusammenhange des Lebens herausfällt."[8] Es bildet den Kontrast zum Alltagsleben schlechthin. Das gleiche jedoch könnte man auch vom Kino sagen. Mit dem Kino durchdringt das Abenteuer einer Alternativexistenz den Horizont des alltäglichen Daseins - wenn auch "nur" imaginär. Mögen auch die Gelegenheiten für Abenteuer in der Moderne schwinden, so stellt uns das Kino (wie andere Formen der Freizeit- und Vergnügungsindustrie) fast im Überfluss abenteuerliche Erfahrungen in Aussicht, unmittelbarer, vollkommener und müheloser, als es die eigene Fantasie zuwege brächte. Das Kino verändert auch das Schicksal dieser anderen Seite des Abenteuers, der Fantasie selbst. Sie ist nicht mehr allein eine Beschäftigung von Kindern und unter dem Verdacht unentwegter Pubertät stehender Künstler, die vernünftige Erwachsene sich zu verbieten gelernt haben. Das Kino (und den Fauleren der Schutz des Fernsehschirms) erlaubt auch Erwachsenen, in die Räume der Fantasie einzutauchen, die sie sonst der unbewussten und archaischen Dynamik des Traums überlassen. Inzwischen diktiert uns die postindustrielle Erlebniskultur, auch unseren Alltag möglichst abenteuerlich und fantasievoll, möglichst "kreativ" auszugestalten, bis in die Prozesse der Arbeitswelt hinein.

Der Erfolg der Lucas-Spielberg-Connection in "Raiders of the Lost Arc" fällt in eine Zeit, in der die Reflexion des Kinos und seine Ästhetik noch von dem geschichtsgesättigten und gesellschaftskritisch ambitionierten Projekt des Autorenfilms geprägt ist, in den USA repräsentiert von Regisseuren wie Francis Coppola und Martin Scorsese. Wenige Jahre später, 1985, markiert das (ökonomische) Desaster von Michael Ciminos "Heaven's Gate" mitsamt dem dadurch verursachten Ruin der 1919 von Chaplin, Fairbanks, Griffith und Pickford gegründeten Produktionsfirma United Artists das wenigstens temporäre Scheitern dieses Projekts in Hollywood, mit langfristigen Nachwirkungen für die Kinematografie der Welt - und damit für ihren imaginären Gesamthaushalt. So eindeutig wie es die Frontstellung zwischen Blockbuster- und Autorenkino suggeriert ist die Entwicklung jedoch keineswegs, nicht nur weil Spielberg selbst auch als Kinoautor sui generis betrachtet werden kann, der schon vor "Schindlers Liste" immer wieder ambitionierte, für das amerikanische Publikum alles andere als schmeichelhafte Filme gedreht hat, etwa die Kino- und Kriegssatire "1941" (1941 - Wo, bitte, geht's nach Hollywood?, 1979), die Georg Seeßlen noch in jüngster Zeit als Gegengift gegen einen krachledernen Kassenschlager wie "Pearl Harbour" in Erinnerung gerufen hat.[9] Auch als Drehbuchautor, als Produzent und Förderer jüngerer Kollegen wie Joe Dante und Robert Zemeckis oder eines bewunderten Meisters wie Akira Kurosawa hat Spielberg Funktionen übernommen, die die Kritik dem Konzept des Autorenfilms zurechnet. Mit der Gründung der DreamWorks SKG-Studios 1994 als Konkurrenz zu den in branchenfremden Großkonzernen integrierten major companies Hollywoods haben Spielberg und seine Mitstreiter Jeffrey Katzenberg und David Geffen schließlich eine Organisation geschaffen, die in der Nachfolge der untergegangenen United Artists steht.

Der Wandel der Kinokultur, den Spielbergs Filme bis zu "Jurassic Park" spiegeln und auf den die zitierte Formulierung Monacos - Kino als "Religion" - gemünzt ist, hat eine kinointerne, filmästhetische Gestalt. Sie wollen keine Aussage über die Welt oder über das Leben, keine Darstellung "wirklicher" Menschen und ihrer Geschichten, ihrer Gefühle oder ihrer Handlungen sein. Bei Spielberg wird das Kino, in einem anderen Sinn als dem der Avantgarde, zu einem autonomen Raum. Seine Grenzen werden bestimmt durch das, was dem Kino möglich ist. Seine Bilder kommunizieren mit einem Subjekt, das sich selbst vergisst, dem Kinozuschauer. Wer dieses Vergessen scheut, ist für das Kino Spielbergs verloren. Spielberg macht es uns jedoch leicht, das Vergessen zu vergessen. Er lässt uns einfach keine Zeit, um innezuhalten, nachzudenken, aufzutauchen aus dem Kinoabenteuer, in das er uns verstrickt. Exemplarisch für den rapiden Fluss von Bildern, Einfällen und staunenerregenden Wendungen ist bereits die immer wieder beschriebene Eingangssequenz von "Raiders of the Lost Arc", gleichsam die "Urszene" der Trilogie, die Antje Goldau und Hans Helmut Prinzler so resümieren: "Sie dauert 13 Minuten und charakterisiert den ganzen Film, seine pausenlose Reihung von Aktionen, seine unvermittelten Übergänge von einer Gefahr in die nächste, seine schnell wechselnden Bilder, die eines nicht aufkommen lassen: Nachdenken über Einzelheiten. Jede Unwahrscheinlichkeit muß sofort von einer neuen Unwahrscheinlichkeit aufgehoben werden, damit in der Summe eine Kinowahrscheinlichkeit entsteht."[10]

Es ist aber nicht nur die Kette dramatischer Aktionen um die Erbeutung - und wenig später den Verlust - einer vergoldeten, fußhohen indianischen Götterstatue aus einer Höhle im südamerikanischen Dschungel, die einen Zustand erzeugt, der sich noch am besten als sprachloses Staunen bezeichnen lässt. Es ist auch eine Organisation des Blicks, die jeden Bezug auf eine Welt außerhalb der Kinobilder unterbindet. Für eine minimale Verortung in Raum und Zeit muss ein kurz aufleuchtender Schriftzug, "South America 1936", genügen, der in Wahrheit nur ausschließt, dass der Film hier und heute spielen könnte. Statt mit einer Exposition zu beginnen, die uns den Schauplatz und die Vorgeschichte der Figuren verriete, versetzt uns die Kamera mitten ins Geschehen, aus einer Perspektive, die sie selbst und uns zum Jäger macht, ständig in Bewegung, mit Bildern als Beute.[11] Im Kontrast zur Feststellung von Goldau und Prinzler bekommen wir nur Einzelheiten, nur Aspekte des Ganzen zu sehen, den Helden lange Zeit nur in Rückansicht, als Silhouette oder mit verschattetem Gesicht, flüchtig auftauchende Gestalten ohne Namen, ein den Blick verstellendes Dickicht, eine für Sekunden aufblitzende steinerne Fratze, Täuschungen und Paraden, bis sich der gesamte Schauplatz, die Höhle mit dem entwendeten Götterbild, in eine unkalkulierbare Todesmaschinerie verwandelt. Eine ironische und hochartifizielle Kameratotale zeigt fast nichts: aus der Tiefe eines Schachtes fast nur Schwarz und eine kleine Öffnung ins Licht, über die sich eine winzige Gestalt hinwegschwingt, Indiana Jones, der eine Felsspalte überwindet. Dschungel und Höhle sind bei Spielberg nicht nur topografische Formationen, sondern zugleich perfekte Kinometaphern, archetypische Wahrnehmungswelten. Dem ganzen vorangestellt ist eine selbstreferentielle Kinofigur. Das Paramount-Signet, ein Berggipfel mit einem Strahlenkranz, verwandelt sich in das fotografische Abbild eines Berges, vor das sich Hut, Halbprofil und Schulter eines Mannes schieben.

Auch die beiden anderen Filme der Trilogie beginnen mit einer solchen in sich geschlossenen und von der folgenden Haupthandlung unabhängigen Episode, den Bond-Filmen analog, deren Einleitungssequenzen jedoch erst nach dem Vorbild Spielbergs eine vergleichbare dramatische Verdichtung erreichen. "Indiana Jones and the Temple of Doom" wird eröffnet durch eine Tanznummer im Stil der aufwendigen Busby Berkeley-Musicals der dreißiger Jahre und programmatisch durch den bis auf die Titelzeile in chinesischer Sprache gesungenen Cole Porter-Song "Anything goes". Das bereits ironisch durchsetzte Tableau löst sich auf in eine wilde Saalschlacht um einen Riesendiamanten und ein Röhrchen mit dem Gegengift für den durch einen tödlichen Sektcocktail geschwächten Indiana Jones, geht über in eine Flucht per Auto und Flugzeug und mündet in einen tollkühnen Sturzflug mit dem Schlauchboot aus der an einer Bergflanke des Himalaya zerschellenden Maschine. Nach einer Schussfahrt über verschneite Steilhänge segelt das Boot über eine Felskante, landet hunderte von Metern tiefer in einem reißenden Fluss und bringt die drei Hauptfiguren, Indiana, die Sängerin Willie Scott und den Chinesenjungen Shorty, schließlich zu einem indischen Dorf, dem ein wundertätiger Stein und sämtliche Kinder geraubt wurden. Staunen ist nicht wiederholbar; so folgt denn dieses Sequel zum ersten Film einem anderen Spannungsprinzip, verkettet nicht immer neue, durch Athletik und Geistesgegenwart parierte Bedrohungen und Gefahren, sondern eine Reihe von ausweglosen Situationen, die sich im glücklichen Zufall einer last minute rescue auflösen. Die komische Nebenrolle einer Frau, die aus Zuständen ängstlicher Hysterie bruchlos zu kokettem Selbstbewusstsein zurückfindet, und die naive Perspektive eines jede noch so gefährliche Wendung des Geschehens als großartiges Erlebnis auskostenden Kindes müssen die düsteren Elemente eines Szenarios ausgleichen, das in den Opferritualen und der schwarzen Magie einer der Göttin Kali huldigenden geheimen Sekte nicht immer glückliche Anleihen beim Horrorgenre macht (und sich damit aus Gründen des Jugendschutzes um einen Teil der Zielgruppe gebracht hat). Nicht jeder krasse Effekt wie das Herausreißen eines zuckenden Herzens aus der Brust eines hypnotisch erstarrten Opfers lässt sich als Spiel mit illusionistischen Kinomotiven relativieren. Effekt ist nicht gleich Effekt: In Anlehnung an die Terminologie von Gilles Deleuze lebt der Horror aus dem "grausamen" Affektbild, das Abenteuer aus dem "halsbrecherischen" Aktionsbild.

Mit wiederum spielerischer Willkür hat Spielberg seinen zweiten Indiana Jones-Film auf 1935, ein Jahr vor dem ersten, datiert und als Vertreter des Bösen eine den Totalitarismus der Epoche verkörpernde, menschenmörderische Gemeinschaft gewählt, die Kinder in einer Art Bergwerks-KZ versklavt und einer dämonischen, machtberauschten Führerfigur folgt. Nach dieser symbolisch befrachteten Geschichte gelingt ihm im dritten Teil der Trilogie eine perfekte Balance zwischen entspannter Ironie und Action-Dramatik, die filmintern und metafilmisch zugleich als (Über)Vater von "Indy" den ersten Bond-Darsteller und Kinomythos Sean Connery ins Spiel bringt, den Helden notorisch zum "Junior" zurechtstutzt und den beiden als Gegenspieler erneut und politisch untadelig die Nazis gegenüberstellt, mit denen sie sich um den Besitz des ewiges Leben versprechenden heiligen Grals streiten - wobei dramaturgisch und historisch feststeht, dass die Nazis bei aller Tücke den Kürzeren ziehen müssen. Die Einleitungsepisode ist diesmal in die Kindheit des zwölfjährigen Indiana verlegt, der auf der Flucht vor den Räubern kostbarer Altertümer und in der Konfrontation mit einem für die allzu fantastischen Abenteuer eines Jungen tauben Vaters und Büchergelehrten eine Prägung für sein ganzes, schon vorausgegangenes oder noch folgendes Kinoleben erfährt. Hut, Peitsche und Schlangenphobie, die der Zuschauer aus den früheren Filmen wiedererkennt, bleiben nach diesem Schlüsselerlebnis sein Markenzeichen. Noch einmal verlagert sich der Focus, vom jederzeit den Umständen gewachsenen Helden in "Raiders" über die Rettung aus einer Art Alptraum in "Temple of Doom" zum psychologisch durchschaubaren, an sein ödipales Schicksal gebundenen und dennoch allem Missgeschick trotzenden, findigen Erben all seiner Vorgänger, ob Zorro, Bogart oder James Bond (und den hierzulande so gut wie unbekannten Helden amerikanischer Serials der dreißiger Jahre wie "Tailspin Tommy" oder "Masked Marvel" und anderen, die Spielberg namhaft gemacht hat[12]) in "The Last Crusade". Die psychologische und kinogeschichtliche Aufgeklärtheit dieses letzten Films der Trilogie kommt seinem Witz zugute. Auch er benutzt die Elemente des Staunens im Kino, die überraschende Rettung aus ausweglosen Situationen, den siegreichen Kampf gegen Naturgewalten, die Überlistung technisch oder politisch überlegener Mächte, den Schauder des Heiligen und das Bestehen seiner Prüfungen. Aber wenn das Staunen der Beginn der Aufklärung ist, so findet mit der Aufklärung das Staunen sein Ende, ob sie die Religion, die Geschichte, die Kindheit oder das Kino betrifft.

Man muss, sagt das Kino Spielbergs, das Ende des Staunens nicht befürchten. Zum Staunen bleibt immer Religion, Geschichte, Kindheit und Kino genug. Die innere Höhle, in der sich beklemmende und beglückende Träume und Fantasien bilden, der Dschungel des Draußen, in dem wir mit unzulänglichen Kräften von Mal zu Mal bestehen müssen, der Tempel, in dem wir der Begrenztheit unserer Existenz Respekt erweisen, die Kinoorte des Spielberg-Kinos in seiner Indiana Jones-Trilogie bleiben Fixpunkte des manchmal unwahrscheinlich, oft nur gewöhnlich erscheinenden menschlichen Abenteuers. Georg Simmel hat Leben und Abenteuer in Formulierungen zur Deckung gebracht, die sich auch als eine Beschreibung des Kinos lesen lassen: "Wo unsere irdische Laufbahn als ein bloßes Vorstadium der Erfüllung ewiger Geschicke gilt, wo wir auf der Erde nur einen flüchtigen Gastaufenthalt, aber keine Heimat haben, da liegt offenbar nur eine besondere Färbung des allgemeinen Gefühls vor, dass das Leben als Ganzes ein Abenteuer ist; womit eben nur ausgedrückt ist, dass die Symptome des Abenteuers in ihm zusammenrinnen: dass es außerhalb des Sinnes und stetigen Ablaufs der Existenz steht und dieser doch durch ein Schicksal und eine geheime Symbolik verbunden ist, dass es ein fragmentarischer Zufall ist und doch nach Anfang und Ende wie ein Kunstwerk geschlossen, dass es wie ein Traum alle Leidenschaften in sich sammelt und doch wie dieser zum Vergessenwerden bestimmt ist, dass es wie das Spiel sich gegen den Ernst abhebt und doch wie das Va banque des Spielers auf die Alternative eines höchsten Gewinns oder der Vernichtung geht."[13]

Anmerkungen
  1. So hat James Monaco eine Reihe von Regisseuren genannt, die das Hollywood-Kino der siebziger Jahre prägen: neben Lucas und Spielberg Peter Bogdanovich, William Friedkin, Martin Scorsese, Brian de Palma, Paul Schrader. Siehe: James Monaco, American Film Now. München, Wien 1985, S. 101 ff
  2. Steven Spielberg: Raiders of the Lost Ark. In: Antje Goldau, Hans Helmut Prinzler (Hg.): Spielberg. Filme als Spielzeug. München 1985, S. 101
  3. "Bei "Raiders" hatte ich das Gefühl, ich brauche jedes einzelne Storyboard, um im Drehplan zu bleiben. Wahrscheinlich habe ich mich bei "Raiders" mehr als üblich an die Storyboards gehalten. Ich habe mir gedacht, du hast dir damals im Januar, Februar, März einen guten Film ausgedacht, warum ihn im Juni, Juli, August und September wieder verändern?" Steven Spielberg, a.a.O., S. 106
  4. Inzwischen kämpft auch Hollywood mit komplexen, selbstreferentiellen Erzählstrukturen und anspruchsvollen oder familienkompatiblen Sujets wieder um die lange vernachlässigten Zielgruppen
  5. Eine jüngere Kritikerin, Mariam Lau, hat später den Spieß umgekehrt und nicht unbegründet am Beispiel Steven Spielbergs ihren Kollegen ihre Voreingenommenheit vorgerechnet. Cf. Mariam Lau, Der gute Mensch von Hollywood. In: die tageszeitung, 10.10.1998
  6. Karl Marx: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852). sammlung insel 9, o.O., 1965, S. 9
  7. James Monaco, a.a.O., S. 141
  8. Georg Simmel: Das Abenteuer. In: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais. Berlin 1983, S. 13
  9. Georg Seeßlen: Liebe wird durch Krieg erst schön. In: Die ZEIT, 7.6.2001
  10. Antje Goldau, Hans Helmut Prinzler: Raiders of the Lost Arc. Jäger des verlorenen Schatzes. In: dies. (Hg.), Spielberg, a.a.O., S .99
  11. Ich entlehne diese Formulierung dem Titel einer Publikation von Gertrud Koch, die darin selbst einen Satz aus der "Ästhetischen Theorie" von Theodor W. Adorno zitiert: "Was ich erbeute, sind Bilder". Zum Diskurs der Geschlechter im Film, Basel, Frankfurt am Main 1989
  12. cf. Steven Spielberg, a.a.O., S. 102
  13. Georg Simmel, a.a.O., S. 17

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus:
Zeichen und Wunder. Über das Staunen im Kino. AFG Band 18, Marburg, Schüren Presseverlag 2001.