Ins Unleserliche

Chancen und Risiken des Lesens im Netz

Philipp Greifenstein

Letzte Woche hatte ich das Vergnügen mit einer Sekretärin eines Kirchenfunktionärs zu telefonieren. Selbstverständlich habe sie dem gesuchten Gesprächspartner meine Anfrage, die per Email erfolgte, ausgedruckt. Er habe sie auch heute Morgen gleich in seine Tasche gepackt. Der Rückruf müsste darum wohl noch am selben Tage erfolgen. Wie beruhigend.

Wir überlegen ernsthaft, unser Periodikum in Zukunft nur noch digital zu verbreiten. Schließlich sind die Kosten für Satz und Druck gemessen an der immer weiter schrumpfenden analogen Leserschaft nicht mehr vermittelbar. Und könnten sich nicht auch viele der analogen Leser mit ihrer gewohnten Mitgliederzeitschrift als PDF-Mag anfreunden? Wer ausdrucken mag, kann das ja zukünftig trotzdem machen.

Auch 2019 scheint das Lesen im Netz noch immer gespaltene Gefühle hervorzurufen. Ich brauche ja viele Bücher nicht mehr zu lesen, seitdem ich auf Twitter belesenen Menschen folge, die mir das Wichtigste in aller Kürze auseinandersetzen. Was heißt Belesenheit eigentlich angesichts Millionen von Texten, die darauf warten, gelesen zu werden? Und das nicht irgendwo, sondern nur ein paar Klicks weit entfernt?

Meine Gedanken kreisen darum um eine einzige These wie um einen alten Turm: Die ganze Prosumenten-Sache – das Ineinanderfallen von Konsumenten und Produzenten – hat dazu geführt, dass es zu viel Text gibt. So viel Text, der ungelesen bleibt. An dem nur die Autor*in Interesse hat. Natürlich wurde und wird gerade im Netz viel geschrieben, um sich der eigenen Gedanken ansichtig zu werden. No readers necessary. Aber es soll mir ja ums Lesen gehen. Dafür braucht es Text, nicht zu viel, nicht zu wenig, gut dargeboten, überhaupt auffindbar.

Mit dieser These über Lesen im Netz zu schreiben ist lustig. Denn es entsteht ja dabei schon wieder überflüssiger Text. Text, der vielleicht gar nicht gelesen wird. Diese Misere kann wohl nur performativ aufgehoben werden (s.u.).

Text

Text im Netz wird heute so gestaltet, dass er auf Smartphones mit einem Fingerzeig gescrollt werden kann. Wer nicht will, dass sein Text überscrollt wird, der gestaltet ihn wie dieses Magazin seine Beiträge. Man darf diese Sperrigkeit bewundern, mag sie auch am Unvermögen der Mitarbeiter*innen liegen. Das Lesen dieses Magazins ist genauso beschwerlich wie das Aussprechen des Namens in der lockeren Konversation. Aber ich übe ja auch noch am flotten Zungenschlag bei Nicäno-Konstantinopolitanum. In beiden Fällen helfen natürlich Griechischkenntnisse, also eine Literarität, die keineswegs selbstverständlich ist.

Text im Netz ist am besten voraussetzungsfrei. Er wird schnell konsumiert, nebenbei. Wer sich dagegen sperrt, darf sich gern das Abzeichen des Widerständlers umhängen. Das ändert im Zweifel nichts daran, dass der Text eben nicht gelesen wird. tl;dr – von der re;publica zuletzt als Motto ausgegeben – ist nicht allein eine Problemanzeige. Ja, allein unterkomplexe Überschriften und Anreißer zu konsumieren führt in die Informations-Falle. Aber zum Lesen wird niemand gezwungen. Wer Text produziert, kommt um die Sorgfalt der Textgestaltung nicht umhin.

Text ist wertvoll.

Texten

Wer schreibt, muss zuvor viel Lesen. Dann fiele vielleicht auf, dass die Frage des Schreibens eine Frage der Notwendigkeit ist. Braucht’s das, dass ich im Angesicht vieler guter Texte auch noch in die Tasten haue?

Es gibt doch schon zu viel Text.

Texten als Onanie. Freundlicher könnte von Selbstbespiegelung, einer Übung der Selbsterkenntnis gesprochen werden. Erkennen wir uns in unseren Texten wieder? Sind sie nicht tatsächlich Spiegel, in denen nur ein dunkles Bild unserer Selbst jeweils fragmentarisch erscheint, nur um im nächsten Moment von Scham und Reue gefressen zu werden?

In einem alten Schrank im Jugendraum unseres Gemeindehauses fanden wir dereinst stapelweise alten Text. Altes Papier aus DDR-Zeiten, in denen Papier – gutes allzumal – schwer zu kriegen war. Noch Jahrzehnte später aufgefunden. Notizzettelchen in alten Büchern. Zu schade, um weggeworfen zu werden? Sie waren nie zum Verbleib gedacht.

Und überhaupt: Wer traut sich schon, Bücher wegzuwerfen?

Wie ergeht es unseren Blogs und Online-Magazinen? Ist, was darin ist, auch zu schade, um weggeworfen zu werden? Der Platz im Netz ist nicht begrenzt, digitales Papier ist nicht selten. Wir gehen damit verschwenderisch um. Eine Antwort wäre doch, ins Netz zu schreiben, als ob es voll werden könnte.

Komplett wird die Überheblichkeit des Internet-Texters, wenn er annimmt, das von ihm Geschriebene wäre nun für alle Ewigkeit aufbewahrt, auffindbar, eingeschrieben. In diesem Wust kann niemand mehr etwas finden. Am Ende des Tages (sic!) braucht es ein Hirn, um Google-Suchabfragen zu ersinnen. Ich sehne eine Reset-Taste herbei.

Weil für den Christbaum mein Schreibtisch verschoben werden muss, und die Stapel auch wenig hübsch aussehen, ich es aber immer versäume rechtzeitig Ordnung auf der Platte zu machen, landen alle (!) Sachen, die sich am 23. Dezember eines jeden Jahres auf meinem Schreibtisch befinden (außer Notebook, Kugelschreibern, Schreibtischlampe. Sie wissen schon!) in einer Box, die ich dann auf den Dachboden bringe.

Noch nie bin ich in die Verlegenheit gekommen, eine dieser Boxen im neuen Jahr noch einmal anzufassen.

Auf Twitter schreibt einer (Theologe, natürlich!), er hätte nun endlich alle wichtigen Akten digitalisiert. Warum? Nur weil es digital keinen fühlbaren Raum mehr einnimmt, wird es nicht praktischer, wertvoller, segensreicher, sich mit Text zu umgeben. Das lässt sich doch alles neu beschaffen.

Weitersagen

Das Christentum entstammt einer Tradition des Weitersagens. Keine*r der Osterzeug*innen hat sich erst einmal in Ruhe hingesetzt, um die eigenen Eindrücke zu verschriftlichen. Während manche noch immer Emails ausdrucken, kommt das Netz des Jahres 2019 (hier für Archivzwecke erwähnt) den Christen mit seiner Entwicklung entgegen. Statt langer Texte surrt alles auf ein paar Sätze und am besten noch Videos zusammen. Selbst die sind extrem kurz geworden. 15 Sekunden wird auf TikTok getanzt. Und gelacht. Und weiter.

Das Markusevangelium geht heute nicht mal als Longread in den NY Times durch. Und Andreas Mertin irrt, wenn er in seinem letzten Artikel zur Kirche im Netz schreibt, 14 000 Wörter wären kein Buch. Vom Gegenteil überzeugte mich vor kurzem die Lektüre eines vielgelesenen Kirchenbeschwerdepamphlets. Es ist kein gutes Buch. Ein paar Wörter mehr hätte es verdient gehabt.

Weitersagen begründet eine Gemeinschaft. Hast Du schon gehört? Beim Lesen bin ich mir da nicht mehr so sicher. Gibt es eine Generation Harry Potter? Vielleicht gerade noch. Werther, Fänger im Roggen, Potter. Herr der Ringe gibt’s auf DVD. Die großen Geschichten unserer Zeit werden verfilmt, und laufen dann als Bewegtbild über mannigfaltige Ausgabegeräte.

Da ja die meisten kirchlichen Texte im Netz gar nicht da hingehören, könnten wir das Schreiben ins Netz auch gleich bleiben lassen und zum Filmen übergehen. Das können wir zwar auch nicht, aber das kann man ja lernen. Ich hab da Hoffnung. Zuletzt auf dem Barcamp Kirche online in Berlin (so ne Veranstaltung mit #digitaleKirche) blieb meine Session zu „Ins Netz schreiben“ leer, während die YouTube-Session voll war (ich war dann auch dort).

Weitersagen ist jedenfalls mehr jesuslike. Und macht im Zweifelsfall auch weniger Mühe. Die Mühe, die in einen Text fließt, jedenfalls sollte kein Argument sein, um für das Lesen desselben zu werben. Lesen ist keine Moralfrage.

Ich bin halt Wirkungsschreiber. 20 000 Wörter zum Spaß an der Freude oder damit der Redakteur mit der Zunge schnalzt, das lässt meine Zeit nicht zu, wenn es auch mein Ego manchmal ganz geil fände.

Lesen

Den höchsten Wert hat die Aufmerksamkeit der Leser*in. Sollte diese tatsächlich auf Sekundenlänge zusammengeschnurrt sein, wie so viele Untersuchungen uns weis machen wollen, ist alles Schreiben sinnlos. Man müsste stracks aufh

Zu schreiben ist eine Selbstbeschäftigung. Und lesen? Lesen ist Beschäftigung mit den Gedanken der Anderen. Welten eröffnen sich oder bleiben doch in Schönheit verschlossen. Lesen ist eine Zumutung. Typographie hin oder her.

Hast DU deinem Kind heut‘ schon vorgelesen?

Kannst Du noch Sütterlin lesen? Oder DDR-Schreibschrift schreiben? Deine eigene Handschrift entziffern? Einen Tagebucheintrag deiner Jugendzeit enträtseln?

Vielleicht haben wir das Lesen versaut mit dem Druck, mit Büchern und mit dem Netz, mit den Notebooks und Smartphones in die wir unablässig Buchstaben hämmern, nur ohne Tinte, ohne Farbband, ohne Anschlag, ohne alle Endlichkeit.

Der kurze Liebesbrief in krakeliger Handschrift. Mehr geht nicht.

Lesen ist Ereignis. Wie das Schreiben. Es hat eine sinnliche Qualität. Ist Lesen im Netz sinnlich? Wie muss Text im Netz gestaltet sein, um sinnlich zu sein? Ist Sperrigkeit die einzige Möglichkeit? Schön ist das nicht. Was ist schöner Text? Hat er Serifen? Ist er bunt? Ist gut lesbar = schön? Wie kryptisch darf Geheimnisvolles sein?

Wild werden

Ich schreib das erst einmal ins Unleserliche. Meine aber, wir sollten alle miteinander wild werden. Die Text-Konventionen des Netzes haben die Kirchen nicht so richtig drauf. Auch Journalismus liest sich im Netz viel zu häufig so, wie es in regionalen Tageszeitungen seit Jahr und Tag üblich ist (inkl. solcher Sprachfiguren). Der verlängerte Arm des Leitartiklers ist heute der Twitter-Thread.

Das lässt sich vielleicht nicht mehr ändern, aber doch erträglich gestalten, wenn es ab und an Inseln gibt, auf denen textlich ausgerastet werden kann. Es braucht Texte, die nicht einfach nur mies präsentiert werden, schlecht gesetzt und nicht responsive, sondern richtig gaga sind. Solche, an die ich mich vielleicht sogar erinnern könnte.

Denn lesen im Netz ist eine Qual, weil du nicht aufhören kannst. Kaum bist Du mit einem Text fertig, stürmen sie heran, dutzende, hunderte, tausende, kurze, feine, lange, knappe, breite, gewaltige, kindische, witzige, traurige, endlose, ewige, winzige, fleißige, taube, stumme, sprechende, nachlässige, faule, gemeine, kluge, dumme, törichte, heutige, zeitige, gestrige, vorgestrige, alte, neue, nützliche, brauchbare, vergebliche, nötige, denkliche, brechtsche, mannsche, tanzende, wiegende, stillende, ruhige, laute, weise, verbaute, verschlungene, vergessliche, gefundene. Die vor allem.

Findest Du einen Text oder findet der Text dich?

Zur rechten Zeit oder zur Unzeit. Und er fing bei diesem Wort der Schrift an und predigte ihm das Evangelium von Jesus.

Findest Du den Text oder findet der Text dich?

Lässt Du dich finden, gehst Du eine Verbindung ein, wie der Zauberer mit dem Stab.

Du führst ihn, er leitet dich.

Du denkst, er macht.

Zusammen schafft ihr Neues und zerstört Altes.

Macht ein Licht an (Lumos!), fügt Schmerzen zu (Crucio!), ergreift Macht über andere (Imperio!), ruft Dinge herbei (Accio!), lasst Stille werden (Finite Incantatem!), entwaffnet (Expelliarmus!) oder tötet (Avada Kedavra!).

Ein Text beginnt erst in der Hand der Leser*in zu zaubern. Funken sprühen oder der Text wird ausgetauscht.

Texter*innen sind Zauberstabmacher*innen. Es kommt auf die Qualität an. Und die besten sind stets Gejagte ihres eigenen Könnens. Machen können gute Texte wenige, lesen können sie viele. Jede*r hat einen sehr guten Text verdient. Aber ein guter Text macht aus eine*r schlechten Leser*in keine gute. Höchstens eine*n geübte*n.

Lesen macht im besten Fall gewandt oder klug, aber nicht gut. Im Reich Gottes gibt es keinen Text. Wozu auch? Wenn alles gut ist, braucht es keine Krücken mehr.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/119/phgr01.htm
© Philipp Greifenstein, 2019