Inge Kirsner: Arrival:  Geschichte deines Lebens. Ein Film und seine literarische Grundlage                                                                                                          


Lieber Jörg,

mit einem Science-Fiction-Film fing es an und soll nun auch mit S-F weitergehen! Über "Solaris" lernten wir uns kennen, einem Werk des großen Russen Andrej Tarkowskij, vor über einem Vierteljahrhundert, als man die Filme noch auf Videokassetten speicherte und Du mir von da an immer wieder wertvolle Anregungen in Sachen Religion und Film gegeben hast und zum Schluss vor meinem Weggang Richtung Süden ein schnappendes kleines Krokodil ("Ab jetzt musst Du Dich allein durchbeißen").

So schreibe ich Dir jetzt als Geburtstagsgruß zu Deinem 60. auch etwas zu einem Science-Fiction-Film. Genretechnisch zählt die diesem zugrundeliegende Kurzgeschichte offiziell zu "Fantasy", aber die Übergänge sind fließend.

Zum Film "Arrival" (Denis Villeneuve, USA 2016)

"Arrival" erzählt von der Ankunft einer fremden Lebensform auf der Erde und den Reaktionen der Menschen (und Regierungen) darauf. Die Antwort der siebenarmigen krakenähnlichen Wesen - Heptapoden genannt - auf die brennendste Frage "Warum seid ihr hier?" kann mit her­kömm­li­chen Mitteln nicht entziffert werden, deshalb wird die Linguistin Louise Banks zu Hilfe geholt. Sie erkennt im Laufe ihrer Kontaktaufnahme, dass die Äußerungen der Fremden einem System folgen, das die Grenzen der bekannten Sprachen und der bisherigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse überschreitet. [-> Trailer]

Der Film kreist in seinen ersten Einstellungen und Sätzen um die prekäre Vorstellung eines Anfangs und eines Endes der Zeit; eine Frauenstimme ertönt aus dem Off, die zu uns spricht und uns fortan begleiten wird auf der Reise zur "entfesselten Zeit". Was ist Anfang, was Ende? Wie in Tarkowskijs "Solaris" wird die Zeit als Konstruktion entlarvt. Sie schützt uns und hilft zum Leben, und es ist schwindelerregend, sie aufzulösen. So nimmt uns der Film in diesen bodenlosen Strudel mit hinein, mit Rückblenden, nehmen wir an, und müssen am Ende erkennen, dass es Zukunftsvisionen waren.

Der Film liefert dazu spektakuläre Bilder. Diese sind jedoch weit entfernt von den üblichen Alien-Konfrontation-Katastrophen-Szenarien, vielmehr setzt der Regisseur Villeneuve auf die seltsam-schöne Aura der fremden Wesen, die sich in fließenden Formen ausdrücken. Die aus den Extremitäten austretende tintenähnliche Flüssigkeit formt sich zu dreidimensionalen Schriftzeichen (die am ehesten chinesischen ähneln). Diese lösen sich sogleich wieder auf - wie überhaupt das Element der fremden Wesen das Meer, das Wasser, der Nebel zu sein scheint. Alles ist im Fluss - und gerät in Gegensatz zu den geraden Linien, den harten Grenzen, den klaren Abgrenzungen. Der Film beginnt im Bungalow der Frau - alles ist gerade, rechteckig, aus dem großen Fenster jedoch fällt der Blick auf das Meer und den Strand, jenen Bereich, wo sich zwei Existenzweisen permanent vermischen. Erinnere dich - von da bist du gekommen und wirst dich da hinein auch wieder begeben, scheint uns die grenzauflösende Bewegung des Films ständig zu suggerieren.

Nach anfänglichem Misstrauen und zunehmend gelingender Kontaktaufnahme kommt es schließlich doch zur großen Konfrontation. Deren Basis ist eigentlich ein sprachliches Missverständnis. Louise übersetzt nach Zögern die Antwort der Heptapoden auf die „Frage aller Fragen“ nach dem Zweck des Besuches mit den Worten „Waffe anbieten“ (engl.: "Use weapon").

Vergeblich versucht sie dem Militär zu erklären, dass diese Auslegung der Übersetzung nicht richtig sein müsse, die Antwort könne auch etwas ganz anderes bedeuten. Um mit dem Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein zu sprechen: Philosophische Probleme kann nur verstehen oder auflösen, wer begreift, durch welche Fehlanwendung von Sprache sie überhaupt erst erzeugt werden. Und die Frage nach der Auslegung des Wortes „Waffe“ ist in diesem Fall eine philosophische. Denn die Aufforderung „Waffe gebrauchen“ könnte auch mit „Nutze das, was du bereits hast oder kennst“ oder "Bediene dich der (eigenen) Mittel" übersetzt werden. Die Aufforderung der Heptapoden wäre dann: Erkenne dich selbst! Im weiteren Verlauf der Handlung findet Louise schließlich heraus, dass die Sprache letztlich das sein könnte, was die Menschen erkennen sollen: dass sie mit einer gemeinsamen Sprache besser miteinander arbeiten können. Und dass sie durch das Begreifen der heptapodischen, nicht-phonetischen Schriftsprache das Kausalitäts­prin­zip und die Linearität hinter sich lassen und sich einer ganzheitlichen Sicht der Geschehnisse annähern würden. Aber dies gehört bereits in den Bereich der Spekulation - die Absichten der Aliens bleiben im Liquiden.

Noch einmal Wittgenstein: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“.[1] Da unser menschliches Denken linear geprägt ist, sehen die Protagonisten noch nicht die ganze Komplexität der Sprache der Heptapoden, die Sätze ohne Anfang und Ende formulieren, Sätze außerhalb unserer linearen Zeitordnung. So sind die Sätze dieser Sprache eher Palindrome, ähnlich des Namens von Louises Tochter, der von vorn und hinten gelesen gleichermaßen H-a-n-n-a-h lautet.

Intuition und Spontanität, eine Erweiterung der Ratio sind es schließlich, die Louise den Kontakt zu den Heptapoden ermöglichen. Die Grenzen des eigenen Sprachsystems müssen überwunden werden, nicht nur die physischen Barrieren, wie sie die Schutzanzüge zu Beginn der ersten Annäherungen darstellen.

Louise begibt sich im Alleingang zu den Heptapoden, nachdem sich das Militär aus Angst vor einem Erstschlag von Seiten der Aliens in den Abwehrzustand begeben und die Forschungsmission abgebrochen hat. Bevor China "den roten Knopf" drückt, muss Louise handeln, und sie gebraucht das Mittel, "bietet die Waffe an", die ihr zu Gebote steht. Ein dramatischer Showdown, der im Film auf drei Ebenen Spannung erzeugt, typisch-filmisch, und doch kreisend um die gleiche Frage, die auch Mittelpunkt der zugrundeliegenden Kurzgeschichte ist: Wie würden wir handeln, wenn wir die Ergebnisse unseres Handels absehen könnten, wissen würden, was geschieht?

"Weißt Du, was mich am meisten überrascht hat? Nicht, die zu treffen, sondern dich zu treffen!" Das sind die (vorletzten) Worte Ians zu Louise am Ende des Films, als sich die Wesen verabschiedet haben. In der Verbindung der beiden Wissenschaftler, die so verschieden an das Phänomen herangegangen sind, treffen sich viele weitere Gegensätze, die die Struktur des Films bestimmen: männlich-weiblich; "harte" und "weiche" Wissenschaft; Logik (Verstand) und Intuition (Gefühl); gekrümmt-gerade; Vergangenheit und Zukunft, Affirmation und Verweigerung. Als Louise am Ende Ians Frage "Willst Du ein Kind?" mit "Ja" beantwortet, gibt das ihrem Vertrauen Ausdruck, dass sie die weitere Lebensreise antreten und annehmen wird, selbst wenn sie weiß, wie die Geschichte weitergeht - und dass das Kind sterben wird. Sie erkennt, dass Zeit nicht linear ist, das hat sie von den Aliens gelernt und sie ist bereit, das von ihnen Gelernte umzusetzen und anzunehmen. Sie wird die "universelle Sprache" verbreiten und so vielen Menschen zugänglich machen in der Hoffnung auf ein Weltbündnis, wie es nach dem Weggang der zunächst bedrohlich erscheinenden Fremden möglich erscheint.

So verbindet dieser Film mit der Schilderung eines persönlichen Schicksals, das Auswirkungen auf das ganze Weltgeschehen hat, Mikro- und Makrokosmos miteinander.

The Story of Your Life

Wer die "Geschichte deines Lebens" von Ted Chiang[2] aus Begeisterung über die Verfilmung von Denis Villeneuve aufschlägt und zu lesen beginnt, realisiert zunächst, dass der letzte Satz des Filmes die erste Frage zu Beginn der Erzählung ist.

"Willst du ein Kind?" - Die Antwort der Frau bleibt zunächst offen. Aber: Erzählt wird die Geschichte aus der Ichperspektive einer Mutter, die der Tochter deren Geschichte erzählt - von Anfang an kennen wir also ´das Ende´, die Antwort.

In zahlreichen Fantasy- und S-F-Filmen wurde anhand einer Zeitreise durchgespielt, was geschähe, würde man eine Sache in der Vergangenheit verändern (können), alles Gedankenspiele rund um das Kausalitätsprinzip. "Arrival" stellt ein anderes Modell vor, ein teleologisches. In Chiangs Erzählung wird dieses - das Fermatsche Prinzip der kürzesten Zeit - anhand eines Lichtstrahls verdeutlicht. Die Absicht des Lichts ist es, den schnellsten Weg zu nehmen, wobei sein Bestimmungsort klar sein muss. Seine "Berechnung" muss also am Anfang des Weges stehen, es gibt keine Kurskorrektur. "Der Lichtstrahl muss wissen, wo er am Ende ankommen wird, bevor er sich für eine Richtung entscheiden kann, in die er aufbrechen will." (Geschichte, 73).

Der Weg, den das Licht einschlägt, ist immer der schnellstmögliche Weg zwischen zwei Punkten. Dabei "stellt" sich das Licht "nicht die Frage", ob es nicht vielleicht lieber woanders ankommen will. Es kennt seine Zukunft bereits und erfüllt seine Bestimmung. (Wie) Ist dies auf Menschen übertragbar?

Das Weltbild der Menschen gründet auf einer sequentiellen, das der Heptapoden auf einer simultanen Wahrnehmung der Wirklichkeit. Sie erleben alle Ereignisse als gleichzeitig und nehmen (nach dem Variationsprinzip) die minimierende oder maximierende Zielsetzung wahr, die ihnen allen zugrunde liegt. Indem Louise Banks ihre Sprache lernt, erweitert sie ihre Fähigkeit zum simultanen Denken und Fühlen und zunehmend auch, die Zukunft zeitgleich zur Gegenwart zu erleben, sich an die Zukunft "zu erinnern". Im Film verhindert sie damit einen Krieg, weil sie es schafft, mit ihrem Vor-Wissen den chinesischen Präsidenten davon abzuhalten, den militärischen Erstschlag gegen die Heptapoden zu starten.

In der Erzählung droht kein Krieg. Die Heptapoden ziehen sich zurück und hinterlassen bei Louise die Frage nach der Freiheit des Willens - die wiederum sequentiellem Denken entspringt. "Die Heptapoden sind weder frei, noch folgen sie einem Zwang, jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir diese Begriffe verstehen. Sie folgen nicht ihrem Willen, sind aber auch keine hilflosen Automaten. Das Bewusstsein der Heptapoden zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass ihre Handlungen mit dem Lauf der Geschichte übereinstimmen, sondern ihre Absichten richten sich auch nach den Zielen der Geschichte. Sie handeln, um die Zukunft hervorzubringen, um die Chronologie der Ereignisse in die Tat umzusetzen." (Geschichte, 85)

Jetzt, da ihr die Zukunft bekannt ist, handelt sie nicht im Widerspruch zu dieser Zukunft; Louise vergleicht diesen scheinbaren Determinismus mit performativem Sprechen und Handeln, wie es bei Kasualien ausgeübt wird. "Das Vorwissen darüber, was gesagt werden wird, ändert nichts an solchen Handlungen. Bei performativen Sprechakten sind Reden und Tun eins"(Geschichte, 87). Im performativen Reden werden Handlungsverläufe verwirklicht.

Louise weiß, was geschehen wird - und doch weiß sie auch die Antwort auf die eingangs vom zukünftigen Vater Gary gestellte Frage. Diese heißt nicht mehr, wie am Anfang der Erzählung "Willst du...?", sondern: "Möchtest du ein Kind?"[3] - (Jedesmal, wenn man sich an etwas erinnert, verändert sich diese Erinnerung, auch ein Variationsprinzip!). An die Stelle des Willens ist eine Wahl getreten: Magst du auch, was geschehen wird? Bist du einverstanden mit dem, was geschieht? Und es wird geschehen: im Buch ist es ein tragisches Bergunglück, im Film eine unheilbare Krankheit: Die Tochter, der die Geschichte ihrer Zeugung erzählt wird, wird sterben.

Louise weiß das, sie wird dieses Kind bekommen und es lieben und jeden Augenblick mit ihm genießen. Ganz bewusst im Angesicht der unvermeidlichen Todes. Deshalb sagt sie "Ja".

Religion im Film

                                                           "Du tust mir kund den Weg zum Leben.
                                                           Vor dir ist Freude die Fülle
                                                           und Wonne zu deiner Rechten ewiglich"
                                                                                               (Psalm 16,11)

Vorherrschend im Film ist zunächst der Einbruch des "Ganz Anderen", wie der Gottesbegriff von Karl Barth im 20.Jahrhundert neu justiert wurde.[4] Hier sind es die außerirdischen Lebewesen, die Denkmuster und Sprachgrenzen sprengen und neue Erfahrungswelten eröffnen. Die Wesen begeben sich freiwillig in Kontakt mit den Menschen, und sie tun dies mithilfe von Spiegeln (in Chiangs Erzählung eine Möglichkeit der medialen Übertragung; nach 1.Kor. 12,13 dunkles Bild für die noch verborgenen Offenbarungen Gottes). Sie lassen sich nicht von den Absichten der Menschen vereinnahmen (Informationsaustausch) und verdeutlichen ihrerseits eine Absichtslosigkeit, die vom Militär immer wieder als "Taktik" gedeutet wird. Sie scheinen den Kontakt aus Freude am ´ziellosen´ Austausch gesucht zu haben und sie gehen auf die Kommunikationsangebote der Menschen ein. Wie die Weisheit im biblischen Buch der Sprüche (8, 30-31) haben sie Freude am Spiel und "Lust an den Menschenkindern".

Zwischen beiden Welten, der irdischen und der diese transzendierenden, gibt es eine Schnittmenge, die Kommunikation ermöglicht. Die ´göttlichen´ Wesen selbst zeigen einen Weg der Verständigung - dazu muss aber lineares Denken zugunsten eines teleologischen aufgehoben werden. Indem die Zukunft bereits in der Gegenwart ´geschaut´ werden kann, stellt sich die Frage nach Freiheit und/oder Determination. Wer sich in diese neue Weltsicht hineinbegibt, ist so frei, die Zukunft erinnernd zu erfüllen. Mit der Fähigkeit, sich an die Zukunft zu erinnern, geht eine grundlegend affirmative Lebenseinstellung einher. Jedes gesprochene Wort, jede Handlung sind bereits bekannt und müssen nur noch in der "erinnerten" Form verwirklicht werden

("Ich habe meine Bestimmung von Anfang an gekannt und entsprechend meinen Weg gewählt", Geschichte, 94).

Chiang vergleicht dies in seiner Erzählung mit performativem Sprechen und Handeln, wie es bei Kasualien ausgeübt wird. Jede/r weiß, wie die Geschichte ´ausgehen´ wird und dennoch will sie vollzogen werden.

Die Protagonistin begreift diese Gabe als Geschenk, theologisch gesprochen als Gnade. Sie übt eine Form des Glaubens ein, in dem sie "Ja" sagt - nicht nur am ´Ende´ mit ihrem Ja zum Kind, sondern auch, indem sie sich im Alleingang zu den Fremden begibt, im Vertrauen darauf, heil aus diesem Kontakt wieder herauszukommen.

Sie lässt sich mit Haut und Haaren auf die anderen ein, indem sie sich des Schutzanzuges entledigt und ihre Hand und ihre Worte als Kontaktfläche anbietet.

Sie weiß, dass ihr Kind sterben wird und lässt sich dennoch vorbehaltlos auf die Zeugung und die Beziehung ein. Sie erweist sich als Meisterin der Lebenskunst, sie "tut, was ihr vor die Hände kommt, mit aller Kraft" (Prediger 9, 10), und sie genießt das Leben und ihre Liebe angesichts der Vergänglichkeit und des Schmerzes. Meister dieser Lebenskunst waren auch die Mystikerinnen und Mystiker, die das "Jetzt" feierten, das Nunc Stans, den Augenblick als "Ewigkeit in der Zeit". Im Kairos kommt das, was war, was ist und was kommt, zusammen. Im Film schieben sich die Bilder ineinander und lassen uns erkennen, was wir waren, sind und sein werden, von Angesicht zu Angesicht.

Anmerkungen


[1]   Ludwig Wittgenstein, Logisch-Philosophische Abhandlung (Tractatus logico-philosophicus), Satz 5.6

[2]   Erstmals erschienen als "Story of Your Life" 1998 in "Starlight 2", dann als "Geschichte deines Lebens" im Sammelband "Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes", Stories von Ted Chiang, Berlin 2011, 37-94

[3]    Allerdings gibt es diese Variation nur in der deutschen Übersetzung; im Englischen heißt es gleichlautend am Anfang und am Ende: "Do you want to make a baby?" , siehe: http://www.kameli.net/~raimu/rnd/ted-chiang-story-of-your-life-2000.pdf, entnommen am 12.11.18, S.1 und S. 39. ("These questions are in my mind when your father asks me, ´Do you want to make a baby?´ And I smile and answer, “Yes,” and I unwrap his arms from around me, and we hold hands as we walk inside to make love, to make you." )

[4]    Siehe Karl Barth, Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie, 1922, und dazu Michael Weinrich, Gott, der ganz Andere, in: evangelische aspekte, 24. Jahrgang, Heft 3, August 2014

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/ik14.htm
© Inge Kirsner, 2018