Wer findet das „Easter-Egg“?

Über Verheißung und Elend der medialen Kultur

Hans-Martin Gutmann

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Steven Spielberg hat 2018 gleich zwei Mega-Blockbuster in die Kinos gebracht. „Die Verlegerin“ („The Post“, Drehbuch Liz Hannah und Josh Singer, mit Maryl Streep und Tom Hanks) ist nur knapp am Oscar-Segen als „bester Film“ vorbeigeschrappt. Und „Ready Player One“ (Drehbuch/Roman Ernest Cline, mit Tye Sheridan = Wade Owen Watts/Parzival und Olivia Cooke = Samantha Evelyn Cook/Art3mis) ist seit dem Filmstart weltweit auf Platz 4 der weltweit erfolgreichsten Filme 2018 (Stand Ende April 2018).

Okay, das ist gut gelaufen. Die Resonanz bei Kritikern, Festivals, Filmprofis und Publikum ist super. Trotzdem: Das war ein Risiko. Wieso bringt Spielberg gleich zwei Filme gleichzeitig auf den Markt? Auf den ersten Blick haben sie nicht viel gemeinsam.

„Die Verlegerin“ erzählt in langen Bögen und langsamen Einstellungen den Konflikt um die „Pentagon-Papiere“. Eine historisch brisante Konstellation: Der Vietnamkrieg wird seit Jahren mit immer höherem Militäreinsatz und immer größeren Opfern an Menschen, an natürlicher Lebensumwelt und Material von den USA mit großer Brutalität geführt. Die Widerstandsbewegung vor allem unter Studierenden und Intellektuellen gewinnt in den USA selbst an Einfluss, die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet.

Da werden der „Washington Post“ geheime Analysen aus dem Verteidigungsministerium zugespielt. Aus ihnen geht klar hervor: Politische Führung und Militärführung der USA wissen seit langem, dass der Vietnamkrieg für die USA nicht zu gewinnen ist. Trotzdem werden die militärischen Einsätze immer weiter eskaliert.

Die neue Verlegerin Kay Graham – sie hat nach dem Tode ihres Mannes die Zeitung übernommen und wird als gegenüber dem Aufsichtsrat der Zeitung zunächst als schwach und lavierend gezeichnet – und Chefredakteur Ben Bradley stehen unter enormem Druck. Sollen sie die Papiere veröffentlichen und so die Freiheit der Presse nutzen, bewahren und in politische Macht umsetzen: Gegen massive politische und juristische Drohungen von außen und gegen das ökonomische und juristische Kalkül des Aufsichtsrats der Zeitung, der sämtliche Register zieht, um die Veröffentlichung zu verhindern? In einem dramatischen Showdown geht es letzten Endes um den inneren Konflikt der Verlegerin. Gegen ihre persönliche Schwäche, gegen allen politischen, ökonomischen und juristischen Druck von innen und außen entscheidet sie sich schließlich für die Veröffentlichung, für die Pressefreiheit, und gewinnt so binnen Stunden persönliches Format, verlegerischen Erfolg für ihre Zeitung – und eine Rettungsperspektive für die US-amerikanische Demokratie.

Zwischen Spielbergs erster Lektüre des Drehbuchs und dem Filmstart liegen nur acht Monate. Eine rasante, fast unheimlich anmutende Leistung von Schauspielenden, Crew, Technikern, Ton, Schnitt, Verleih und allen, die mitgewirkt haben – erleichtert vielleicht dadurch, dass Steven Spielberg, Maryl Streep und Tom Hanks in ähnlicher Weise angetrieben und motiviert waren. Es geht den Beteiligten darum, der Zerstörung von Demokratie und Pressefreiheit in den USA, die sich in den ersten Monaten nach dem Wahlsieg von Donald Trump bereits klar abzeichnet und immer mehr Fahrt aufnimmt, Klärung, Position, ja Widerstand entgegenzusetzen.

Der Film erzählt, wie unter den Bedingungen der „alten“ medialen Kultur – der Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, wie unter Bedingungen einer Dominanz der Printmedien, der Telefonkommunikation, des Fernsehens, ja selbst des ganz materiell-diesseitigen Transports und Versteckens von papiernen Aktenbergen brisanten Materials – ein Sieg der medialen Kultur über undurchsichtig mächtige politisch-ökonomische Interessen möglich wird. Entscheidend ist, was in der Zeitung steht.

Die politische Realität wird entscheidend durch das beeinflusst, was in den Medien veröffentlicht wird. Hier und nicht in der Face-to-Face-Kommunikation alltäglicher und politischer Lebenswelten entscheidet sich die Fortsetzung des Vietnamkrieges, letzten Endes das Schicksal des US-Präsidenten Richard Nixon (in den letzten Filmbildern wird der Watergate-Skandal angedeutet) und des ganzen Landes. Und, na klar: Entscheidend bleibt in allem auch die Verlässlichkeit und Standhaftigkeit des Chefredakteurs, der Redakteure der „Washington Post“, entscheidend bleibt, dass die Verlegerin sich dazu durchringen kann, angesichts brisanter Konfliktkonstellationen klar Kurs zu halten: für die Verfassung der Vereinigten Staaten und die Bewahrung demokratischer Freiheiten und Rechte.

Dennoch. Das Wichtigste geschieht in der medialen Welt der „Washington Post“.

Spielt „Die Verlegerin“ in der gerade zurückliegenden Vergangenheit, so „Ready Player One“ in der nahen Zukunft. Im Jahr 2045 versinken Amerikas Großstädte in Übervölkerung und Verslumung. Der Film beginnt mit einer eindrücklichen Skizze dieser Face-to-Face-Alltagswelt: In Wabenform gestapelte Wohncontainer. Verwahrlosung und Drogensucht in den Familien. Armut und Naturzerstörung. Diese Alltagswelt ist ein riesiger Schrottplatz. Einzige Chance, dem zu entkommen, ist die Flucht in die mediale Kultur einer virtuellen Welt, in ein allumfassendes MMROPG (Massively Multiplayer Rule Online Playing Game) mit Namen „Oasis“, in dem große Teile der Bevölkerung, auf jeden Fall aber fast die gesamte Jugendkultur über Avatare präsent sind.

So auch Wade, der sich vom Inneren eines Schrottautos aus in diese Welt einloggt und als „Parzival“ in „Oasis“ sein Leben lebt. Hier – und nicht in der zerstörten Face-to-Face-Alltagswelt – werden die Kämpfe des Lebens ausgefochten, gewonnen oder verloren. Hier entwickeln sich und scheitern Liebesgeschichten und ökonomische Karrieren. Zumindest hat dies den Anschein.

Der von Parzival und allen Mitspielenden verehrte Konstrukteur von „Oasis“, James Donovan Holiday, der das Spiel in den Achtziger Jahren entwickelt hat, hat kurz vor seinem Tode ein Vermächtnis in seinem Testament an die Bewohnerschaft von „Oasis“ hinterlassen: Irgendwo in Oasis ist ein „Easter-Egg“ versteckt. Wer das Easter-Egg findet, gewinnt unbegrenzte Macht in der „Oasis“. Nur der Spieler kann es gewinnen, der drei Schlüssel findet, um drei Tore zu öffnen und zum Ei zu gelangen. Dafür sind faktisch unlösbare Aufgaben zu lösen. Die erste Aufgabe ist, bei einem von unüberwindlichen Hindernissen ausgebremsten (und Spielberg verwendet hier das gesamte Arsenal der Godzilla-Filme) Autorennen die Ziellinie zu überfahren. Das ist in fünf Jahren noch niemandem gelungen.

Wade/Parsival ist genauso wie alle Mitspielenden davon besessen, das Easter-Egg zu kriegen.  Daran entscheidet sich sein Leben, das Leben aller Mitspielenden, letztlich das Leben der gesamten Welt. Davon erzählt dieser Film in komplexen und schnellen Sequenzen und Filmschnitten genauso wie in langen Erzählbögen. Wie wird der Kampf ausgehen zwischen Wade/Parsival mit seinen Mitstreitern in der „Oasis“ und den Avataren eines gigantischen Konzerns, der seine Herrschaft in „Oasis“ mit allen Mitteln durchsetzen will und mit dem Easter-Egg seine Macht nicht nur in der digitalen Welt, sondern auch im realen Leben sichern will?

Der Film zieht alle Register der „Reise des Helden“. Alle Handlungsstränge laufen auf die eine alles entscheidende Krisis zu. In der Online-Welt der „Oasis“ wird eine gigantische Schlacht geschlagen. Der böse Konzern ist übermächtig. Die Gruppe der Kämpfer für das Gute um Parzival ist schwach und in aussichtsloser Lage. Aber clever. Zwischendurch können Wade/Parsival und seine Freunde – in Samatha Evelyn Cook/Art3mis ist er ganz alltäglich-außeralltäglich-real verliebt – sich überdies offline kennen lernen.

Die Freundesgruppe um Wade/Parzival besteht aus einer Gruppe von Jugendlichen, einer afroamerikanischen Erwachsenen – in der „Oasis“ übrigens ein muskelbepackter Mann – und einem in die Jahre gekommenes Wohnmobil, das durch die Straßen einer untergehenden Stadtlandschaft rast, die Avatare und Schergen des Konzerns online und offline ständig auf den Fersen.

Hier, im Schicksal der Freundesgruppe entscheidet sich alles. Hier entscheidet sich das Leben. Und zwar, wie sich in der Entwicklung der Filmerzählung immer deutlich herausstellt, jenseits der wilden verzaubernden Online-Welt. Mitten im realen Alltag des Lebens.

Dies ist die These des Filmes: Obwohl alle nur denkbaren Kämpfe online durchgefochten werden – und Spielberg zitiert hier meisterhaft Szenen und Personal sämtlicher Marvel-Superheldenepen genauso wie eine grandiose Sequenz des alten Stephen-King-Gruselstreifens „Shining“: Das Leben entscheidet sich offline. Hier, in den gelingenden und scheiternden Beziehungen der realen Alltagswelt, und nicht in den grandiosen Bildern des Online-Spieles, wird das Leben gewonnen oder verloren.

Na klar: Die Schlachten der medialen Welt (auf dem Niveau grenzenlos spielbarer, tendenziell alle Menschen einbeziehenden MMORPGs) müssen durchgefochten und bis zum finalen Ende durchgespielt und auch gewonnen werden. Und trotzdem. In der runtergekommenen, weithin zerstörten und trotzdem allein Leben ermöglichenden offline-Alltagswelt entscheidet sich, wer den Konflikt des Lebens gewinnt. Wade/Parzival findet in einer grandiosen Online-Schlacht schließlich die notwendigen Schlüssel und das Easter-Egg selbst; dies ist aber ich nicht der Sieg. Entscheidend ist, dass er sich selbst in der Online-Welt von „Oasis“ an die zentralen Konflikte erinnert, an denen der Erschaffer der virtuellen Welten James Donovan Haliday einst in der realen Welt der zwischenmenschlichen Beziehungen gescheitert war. Entscheidend ist, dass die Solidarität der ums Überleben in der realen Welt kämpfenden Freundesgruppe Bestand hat. Entscheidend ist schließlich, dass hier gegen alle Widerstände Liebe gelingt – entscheidend ist, dass sich Wade und Samantha küssen – und nicht ihr Avatare Parzival und Art3mis. Entscheidend sind nicht die gigantischen medialen Schlachten, sondern das Kleine, anscheinend Unbedeutende persönlicher Lebensschicksale und Beziehungen in der Alltagswelt.

Spielbergs These, die er in der gleichzeitigen Veröffentlichung von „Die Verlegerin“ und „Ready Player One“ plausibel machen will, könnte so gelesen werden: Es gibt einen entscheidenden Bruch zwischen der „alten“ medialen Kultur der Printmedien und der modernen digitalen medialen Kultur. In der „alten“ medialen Kultur der 70er Jahre, der Zeitungen, der analogen Telefone und des analogen Fernsehens, ist entscheidend, was in der Zeitung veröffentlicht wird. Damals, noch in den siebziger Jahren gilt: Was in der Welt der Medien passiert, entscheidet über persönliche Lebensschicksale, über den ökonomischen Erfolg, letztlich über die politische Entwicklung der gesamten Gesellschaft.

Ganz anders in der „neuen“ medialen Kultur des digitalen Kapitalismus. Heute und in naher Zukunft: Die Verheißungen, die Kämpfe, die Träume der medialen offline-Welt sind trotz allen Glanzes und aller Brisanz zweitrangig. Die Welt kann und muss im Elend des Alltags gerettet werden – und letzten Ende nur hier.

Steven Spielberg reflektiert, denke ich, in dieser Gegenüberstellung die Fragmentierung der einen geschlossenen öffentlichen Kultur, die das Bürgertum der klassischen Moderne einmal ausgezeichnet hat[1], im informationellen globalen digitalen Kapitalismus. Die eine Öffentlichkeit zerfällt in zahllose fragmentierte Welten von „Echokammern“, in eine Vielzahl von fundamentalismus- und narzissmusfördernden geschlossenen online-Kommunikationswelten, verbunden mit einer rigiden Hochladung von Innen-Außen-Grenzen: Was draußen und fremd ist, ist tendenziell gefährlich und böse, und die Innen-Räume werden kontrafaktisch als harmonisiert vorgestellt („und willst du nicht harmonisch sein, dass schlag ich dir die Fresse ein“). Es gibt keine Gewähr mehr, welche Nachrichten Fake sind und welche real. Überall breiten sich online und offline fundamentalistische religiöse und/oder politische Positionen und Bewegungen aus und gewinnen an Macht. Die damit entstandenen Gefahren und Zerstörungen von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten werden, wenn die demokratie- und menschenrechtsorientierten Kräfte nicht bald aus dem Quark kommen, von einer bestimmten kritischen Masse an nicht mehr umkehrbar sein. Steven Spielberg könnte sich in diesem Punkt sehr gut mit Erich Kästner verbünden: „Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät.“[2]

Spielberg sieht hier – und das ist die Botschaft von „Die Verlegerin“ – eine zentrale Aufgabe der „alten“ Printmedien und des investigativen Journalismus: Gegen allen politischen Druck, gegen alle Gefährdungen und Zerstörungen der Presselandschaft durch ökonomische Konkurse und/oder Übernahmen durch mächtige Tycoons, gegen all das, für die der mediale Mega-Kasper Donald Trump aktuell die Charaktermaske liefert.

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Noch ein kurzer Nachtrag: Verheißungen und Gefährdungen der neuen medialen Welten sind zentrales Thema der aktuell zeitgenössischen populären Kultur. In einem vielschichtigen und ausdifferenzierten Diskurs werden aktuell absehbare oder erwartbare Entwicklungen der digitalen Welten thematisiert, werden Thesen und Gegenthesen inszeniert, radikale Einwürfen und Phantasien präsentiert. Es geht um Verführungen, Chancen und Zerstörungen von digitalen social networks, von imaginären Welten von MMORPGs und Online-Spielen, darüber hinaus um die Verheißungen und Gefährdungen durch künstliche Intelligenz, Gentechnologie, Roboter- und Computerwelten. All dies ist ständiges Thema von Steven Spielberg (z.B. „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ 1977, „Jurassic Park“ 1993, „A.I.“ 2001), von Hollywood insgesamt (z.B. „I-Robot, Alex Proyas 2004; „I Am Legend“, Francis Lawrence 2007 oder „The Congress“, Ari Folman 2013; die Netflix-Serie „Black Mirror“ seit 2016) und überhaupt der aktuellen populären Kultur.

Diese Diskussion läuft, seitdem es das World Wide Web gibt – wie man sich denken kann auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen und in belletristischer Literatur. Eine klar kritische Stellungnahme stammt aus früher Perspektive vom Autor dieses Beitrages 1998, also fünf Jahre nach dem Beginn des Siegeszuges des World Wide Web:

„Die Welt wird ein Dorf: dieses Versprechen der Internet-Propheten, Kommunikationspartner in der ganzen Welt gewissermaßen in die Si­tuation des Stammtisches einer Dorfkneipe zu versetzen, hat seine Kehrseite: Im Gegenzug wird der konkrete soziale Raum, die alltäg­liche soziale Lebenswelt der Menschen, die durch Realpräsenz kon­stituierte Kommunikation mit Freunden, Nachbarn, Eheleuten abstra­hiert, entwertet, tendenziell sogar zerstört. Die Welt wird ein Dorf, aber um den Preis, daß das Dorf selber zerstört wird, minde­stens den Charakter einer für alle Beteiligten verpflichtenden, bedeutsamen, vertrauten face-to-face-Kommunikation verliert. Das ist keineswegs neu und durchs Internet erst geschaffen, aber hier wird es auf die Spitze getrieben.

Nämlich vor allem durch die jetzt technologisch mögliche vollstän­dige Vermischung von Intimität und Universalität in der Raumerfah­rung. Diese Entwicklung deutet sich im Fernsehen schon an: Wenn ich beispielsweise die Tagesschau ansehe, ist die ganze Welt in meinem Wohnzimmer, und das Gesicht und die Gestik von Helmut Kohl ist mir ebenso vertraut wie die von Khofi Annan oder Guildo Horn ("Guildo hat euch lieb"). Das Internet steigert diese Verbindung von Intimität und Universalität um eine entscheidende Drehung: Ich bin jetzt als Kommunikationspartner in die Lage versetzt, zu interagieren. Ich kann mir nicht nur Infor­mationen holen, sondern selbst welche anbieten. Ich kann mit Teil­nehmerInnen aus Chicago und Wladiwostok Schachspielen. Ich habe die ganze Welt auf meiner Home-Page, zwischen Buchrücken, Zimmer­pfanzen, meiner Stereoanlage und dem Kater Kalle in meinem Ar­beitszimmer. Die Durchdringung ist wechselseitig: Die universale Raumerfahrung wird gewissermaßen intimisiert, und die Intimität meines privaten Raumes wird von jedem anderen Raum der Welt durch­drungen. Dies ist aber gleichbedeutend damit, daß die Intimität als Intimität tendenziell aufgehoben wird.“[3]

Die Gegenthese ist besonders klar von einer heute dreißigjährigen Autorin vertreten worden. Sie gehört damit zur Generation der “digital natives“ – und sie kann aus eigenem Erleben kompetenter Stellung nehmen als ein Mensch wie ich, der in einer fortgeschrittenen Lebensphase von der medialen Entwicklung gewissermaßen überrollt wurde.

Josefine Rieks‘ Roman „Serverland“[4] spielt in naher Zukunft, also ungefähr in der gleichen Zeit wie Steven Spielbergs „Ready Player One“. Atmosphäre, Positionalität, Ängste und Sehnsüchte liegen aber komplett anders. Die Handlung spielt etwa eine Generation nach unserer Zeit. Nach einer globalen Volksentscheidung mit klarem Ausgang ist das Internet weltweit abgeschaltet worden. Nur noch einige Freaks wie der Protagonist Reiner interessieren sich für Computerspiele; Reiner sammelt auf Schrottplätzen alte Notebooks und versucht, auf den Festplatten alte Online-Spiele zu reaktivieren. Durch Zufall gerät er mit einem Bekannten an die alten, mittlerweile verrottenden Server-Hallen von Google irgendwo an der holländischen Küste. Es gelingt Reiner, mit Hilfe von zwei alten Autobatterien und einem noch älteren DELL-Rechner Teile des Internet wieder hochzufahren. Spontan entwickelt sich eine Art jugendlicher Protest- und Aufbruchsbewegung. Aber nicht nur Jugendliche: gerade auch Menschen aus der mittlerweile älteren Generation, die das Internet noch gekannt haben, empfinden eine tiefe Sehnsucht nach der Wiederkehr einer Zeit, in der Kommunikation möglich war, die über die Grenzen von Face-to-Face-Beziehungen und eingeschränkten sozialen Nahräumen hinausging. Sehnsucht nach Freiheit und kreativen Lebensentwürfen bindet sich in dieser Erzählung an das Internet als unbegrenzter Raum gleichberechtigter Kommunikation und Befreiung von ebenso engen wie bedrückenden eingespielten Lebenszusammenhängen.

In vielem erinnert die Atmosphäre dieses aktuellen Romans an das m.E. zu Unrecht zugrunde gegangenen Kevin-Kostner-Epos „Postman“ (1997): Nach einem verheerenden Krieg sind alle überregionalen Kommunikationskanäle abgebrochen. Sie wieder in Gang zu setzen, bedeutet Befreiung aus Beschränktheit und politischer Unterdrückung. In diesem Film richtet sich die Sehnsucht nach Vernetzung und Kommunikation auf ein heute uraltes Medium, im historischen Verlauf noch Generationen früher als Spielbergs Lob der Printmedien: Auf die Post, in Kostners Film buchstäblich mit Pferden von Ort zu Ort transportiert, von grenzenlos engagierten Jugendlichen, die alles dafür geben, durch Vernetzung und Kommunikation über begrenzte Orte hinaus Freiheit zu ermöglichen.

Und die Theologie?

Kurz und knapp, zunächst pragmatisch-kirchengeschichtlich: Ohne mediale Entwicklung über begrenzte Lebenswelten hinaus gäbe es keine christliche Religion und erst recht keine Reformation zu evangelischen Kirchen. Paulus ist gereist – und er hat vor allem massenhaft wirksame, in den entstehenden Gemeinden zu verlesende Briefe geschrieben. Die Durchsetzung der Reformation war an Buchdruck und massenhafte Publikation von Flugschriften gebunden. Ohne mediale Entwicklung gäbe es keine Kirche, erst recht keine protestantische.

Darüber hinaus lassen sich – für Kundige und Interessierte – symbolische, dogmatisch-theologische und biblische Erzähltraditionen entziffern, mit denen in den Filmen gespielt wird. Um einige zu nennen: Die eigentliche persönlich ebenso wie gesellschaftlich bedeutsame Entscheidung findet vor jeder Handlungsmöglichkeit „im Innern“ der Person ihren Ort: im Gewissen („Die Verlegerin“). Oder: Erlösung (hier repräsentiert im Symbol des „Easter-Egg“) ist nur möglich, wenn gegen allen Augenschein, gegen allen Druck nicht auf grenzenlose Macht, grenzenlosen Reichtum und auf grenzenlose Anerkennung gehofft wird (in der alten symbolischen Ordnung der „sieben Todsünden“: superbia, avaritia, invidia): Die Wahrheit des Lebens liegt im Kleinen („Ready Player One“).

Die Wahrheit des Lebens liegt in den nicht ausgestandenen und unaufgelösten Lebens- und Liebesgeschichten und Beziehungskonflikten. Die Wahrheit des Lebens liegt im Schicksal der kleinen Träume, mit denen vor aller Realisierungsmöglichkeit einmal engagiertes Leben begonnen hat. Sehr theologisch vollmundig formuliert: Das „Easter-Egg“ steht nicht für die abendländisch-christliche Mischung von eigenen Grandiositätsvorstellungen und Sieg/Verachtung gegenüber allem Anderen, sondern für die kreuzestheologisch zu formulierende unhintergehbare Zusammengehörigkeit von Kreuz und Auferstehung.

Man/frau muss aber schon ziemlich stark christlich-theologisch engagiert sein, um auf solche Deutungsvorschlage zu kommen. Vielleicht können wir uns auf dieser Interpretationsinsel treffen: Auf der manifesten Ebene inszenieren die popkulturellen Epen, Dramen, Serien und Songs selbst Religion. Sie arbeiten sich an der abgründigen Angst ab, dass das Leben im Tiefsten schon unrettbar verloren ist.  Und sie inszenieren den Schmerz und die Sehnsucht (Henning Luther), dass gegen allen Augenschein kleine Fluchten, verschüttete Spuren und das Antlitz des Anderen in Richtung Rettung möglich sind.

Anmerkungen


[1] So zumindest Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt/Main 1968

[2] Ansprache Erich Kästners auf der PEN-Tagung in Hamburg am 10. Mai 1958. In: ders., Gesammelte Schriften Band5, 571f.

[3] Hans-Martin Gutmann, Die Gefräßigkeit des Internet. In: Ders. Der Herr der Heerscharen, die Prinzessin der Herzen und der König der Löwen. Religion lehren zwischen Kirche, Schule du populärer Kultur. Gütersloh 1998, 167f.

[4] Josefine Rieks, „Serverland“. Roman Hanser, München 2018

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/hmg02.htm
© Hans-Martin Gutmann, 2018