Die Zeichen des Endes

Vom Listeneintrag zum dramatischen Agens zur Leerstelle

Wolfgang Kemp

Zeichen sind früh Vorzeichen. Die Tatsache, dass der Mensch die Zukunft nicht wissen kann, steigern viele Kulturen und fast alle Religionen zum Drama einer endzeitlichen Semiotik. Um die damit verbundenen Mahnungen im Gedächtnis der Gläubigen zu fixieren, sind die Zeichen meist in Form von Listen gegeben: am bekanntesten die sieben Schalen des Zorns und die vier Reiter aus der Apokalypse des Johannes. Da der Koran äußerst unkonkret in Sachen Jüngstes Gericht bleibt, haben die folgenden Schriftquellen, vor allem die Hadithe freies, phantasievolles Spiel, was die Vorzeichen der Endkatastrophe angeht: mal sind es sechs, mal zehn, mal 50 Endzeichen. Die älteren Verlautbarungen halten sich an die üblichen Naturereignisse wie Erdbeben, Rauch, der die Erde überzieht, oder Brechen des Himmels. Diese Art von Endzeichen hat eine hohe Priorität, weil sie keinen Interpretationsaufwand fordern und sich an alle richten. Die nach koranischen Quellen fügen den Listen irdische Ereignisse hinzu wie: Die Anzahl der Männer wird sinken und die Anzahl der Frauen wird steigen, sodass auf jedem Mann 50 Frauen treffen usw.

Ich werde im Folgenden drei Schnitte durch drei Zeiten machen, um an ausgesuchten Kunstwerken spezifische Arten der Vorzeichen des Endes und der Reaktion auf diese darzustellen. Mir geht es vorrangig um die Kommunikationsstruktur, welche die Visualisierungen solcher Endsignale einrichten: Zeichen sind nur Zeichen, wenn sie einen Adressaten haben, der sie erst einmal wahrnimmt und im besten Falle versteht. Es geht also um die Koexistenz von Zeichen und Zeichenleser.

Ergebnisorientiert: Zeichen des sicheren Endes

Ich beginne mit einer weniger bekannten Liste von Unglücksboten, mit der Liste der letzten 15 Tage vor dem Jüngsten Gericht und ihrer Vorzeichen – zu diesem Komplex entstand zuletzt eine Hamburger Dissertation von Daniela Wagner.[1] Ursprung und Verfasserschaft der Liste sind umstritten. Es reicht, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Liste quasi kanonisch durch das „dritte Evangelium“, die „Legenda Aurea“ des Jacobus da Voragine, gemacht wurde. Mein Beispiel ist die Oberweseler Lehrtafel vom Anfang des 16. Jahrhunderts.[2] (Abb. 1)

Um das Primat der Diegese vor der Mimesis, der Lehre vor der schieren Abbildung zu sichern, ist das Mittelalter, das wir hier in einer sehr späten Ausformung erreichen, sehr bestrebt, den Weg vom Sender zum  Empfänger zu begleiten und die Botschaft zu verstärken, so wie es Randkommentare im Codex oder auf der Bühne der geistlichen Spiele Spielleiter oder Proklamatoren tun. Die kanonische Absicherung der Texte geschieht durch die Voranstellung der Autoren samt ihrer Sanktionierung durch göttliche Inspiration – man denke an die Evangelisten. Um ein Beispiel aus der Ikonographie der Vorzeichen zu nehmen: In der Miniatur zum Buch Daniel (Abb. 2), welche der Menetekel-Botschaft an Belsazar gewidmet ist, treten drei personale Instanzen auf: der Sender (Gott), der Empfänger (Belsazar) und der Deuter/Autor oder Interpretant in der Sprache der Semiotik (Daniel).

Die Botschaft ist auch gegeben. Sie wird nicht aktiv von der göttlichen Feder geschrieben, sondern ist fertig und quasi als Allgemeingut in die Fläche eingetragen – ihre Gültigkeit verdankt sie gleichermaßen ihrer durch die feste Einrahmung bewirkte Anbindung an die Hand Gottes und an den Rand der Miniatur. Dazu vergleiche man die lose Beschriftung der irdischen Personen. Daniel, „der Mann, der Deutung geben kann“, war nicht Zeuge des Erscheinens der göttlichen Schrift während des Gastmahls des Belsazar. Er wurde hinzugerufen, und ihm wurde der Text vorgelegt. Er übersetzte und interpretierte die Botschaft mit ihren prophetischen Inhalten, die zum Teil noch am selben Tag sich erfüllten. In der Miniatur fungiert er aber nicht nur als Deuter, sondern auch als zweiter Autor, als Hauptfigur und Quelle des Buches Daniel, welches von ihm in der dritten Person erzählt und seine Visionen in der ersten Person überliefert.

Vergleichen wir damit Zeichen 1 in der Oberweseler Darstellung (Abb. 2), dann treffen wir in der Leserichtung zuerst auf Hieronymus, der in dieser Version der 15 letzten Tage vor dem jüngsten Gericht als Autor beansprucht und wie der Evangelist vor seinem Text eingesetzt wird. Die Art des jeweiligen Zeichens wird kurz in den Inschriften angesagt. Auf Tafel 1 ist zu lesen – in deutscher Übersetzung: „Am ersten Tag wird sich das Meer vierzig Ellen hoch über die Höhe der Berge erheben und auf seinem Platze stehen wie eine Mauer.“ Was jetzt in der Bildfassung hinzukommt, ist eine andere Art von Zeugen und Betroffenen: Aus dem einen König wird nun ein „Volk“.  Hieronymus hat seine „Autorität“ dem Ganzen verliehen, in der Folge müssen an Stelle des einen Propheten (Daniel) oder Gewährsmannes (Hieronymus) die „Menschen“ als Interpretanten eintreten.

Links ist jeweils das signifikante Geschehen gegeben, und rechts versammeln sich die letzten Menschen, die bis zur Vernichtung im Schlussbild nicht von der revoltierenden Natur körperlich beeinträchtigt werden – und das hat damit zu tun, dass die finalen Akte der Natur zeichenhaft gedämmt erfolgen, sehr schön zu sehen im Bild des ersten Tages. An ihm „wird das Meer auf seinem Platz stehen wie eine Mauer“, ohne die Beisteher zu vernichten. Aber die Zeugen und Stellvertreter der Menschheit reagieren betroffen, schwer zu sagen, ob nur von der Ansicht die katastrophalen Vorgänge bewegt oder sich vergegenwärtigend, was sie gelernt haben, dass hier mit unerbittlicher Konsequenz z. B. das fünfte Zeichen auf das vierte folgt und damit die Prophetie sich erfüllt und ihren vernichtenden Gang gehen wird.

Ob als Wissende oder nur als Bestürzte, auf jeden Fall reagieren sie auf die natürlichen Zeichen natürlich – die Arme zum Himmel ausstreckend, die Hände über dem Kopf zusammenschlagend, die Gesichter verzerrt etc. Im frühen 16. Jahrhundert verfügt auch ein Maler in der Provinz über ein Repertoire an Körpersprache und Mimik und über ein Typenspektrum, um Furcht und Entsetzen glaubhaft zu übermitteln und die Diegese tendenziell in Mimesis zu überführen. Dieser Vorgang, der im 15. Jahrhundert einsetzt, wird von einer neuartigen Beteiligung des Betrachters begleitet. Man kann das sehr schön an dem unterschiedlichen Einsatz der Gestik erkennen: In der Miniatur (Abb. 2) verweist der König auf die Botschaft über ihm, und der Prophet interpretiert sie – als Repräsentanten des interessierten Zeigens und des kundigen Erläuterns sind die Figuren einsinnig besetzt.

Auf der fünften Tafel haben wir in der Mitte die Albertische Zeigerfigur, die das Naturgeschehen dem Betrachter demonstriert (Abb. 4): Die Pflanzen lassen blutigen Tau von oben (rechter Arm) nach unten (linker Arm) fallen. Die zweifache Aktion der Figur entspricht auf der Ebene der Kommunikation ihrer doppelten Besetzung als auf die Sache bezogener Zeiger und als nach außen gerichteter Adressat der Betrachter. Im Grunde gehört dazu noch eine dritte Teilung, die aus dem Doublebind einen Triplebind macht: Die Zurückwendung des Kopfes und die verquält wirkende Augenstellung deuten an, dass der Zeiger sich nicht nur uns vor dem Bild, sondern auch den anderen im Bild mitteilen möchte. Die anderen Personen verhalten sich analog geteilt und schauen entweder den Betrachter oder den Naturvorgang an.

Die jetzt eingerichtete Ansprache des Betrachters wird natürlich auch durch die Tatsache forciert, dass die Zeugen blockhaft vor ihm posieren, einem Chor der Tragödie gleich, und dass die Menschen untereinander kaum Kontakt aufnehmen. Die Welt der letzten Tage ist nur noch Zeichenträger und nur noch belebt von Zeichenlesern und Vermittlern der endzeitlichen Botschaften.

Man darf über der Detailanalyse aber nicht das Ganze, den Modus des „Mehrfeldbildes“ (Werner Hofmann) vergessen. Hier bildet sich das Grundmuster ab, das dem christlichen Kerygma Struktur seit Anfang an und in der Kunst seit der Spätantike verleiht: Es basiert auf Erzählungen, bedarf also der Mehrzahl der Bilder, die entweder zyklisch angeordnet sind oder typologisch verschränkt werden oder in Reihenform eine Liste ausbreiten. In dieser Hinsicht noch ein Blick auf die erst in den 1990er Jahren freigelegten Fresken in Vilsbiburg. (Abb. 5, 6) 

Auch als Bilderliste schließen die Darstellungen der 15 Vorzeichen an den Modus der Temporalität auf geradezu rührende Weise an, denn sie geben jedem Feld Sonne und Mond mit, um das Vergehen dieses einen Tages zu signalisieren. Der Freskant, der nicht über die subtileren Mittel der Steuerung von Kommunikation im Bild und mit dem Bild verfügt, setzt stattdessen ein monumentales „Tua res hic agitur“, indem er an den Anfang der Bilderreihe die Vera Icon den Betrachter adressieren lässt.

Ereignisorientiert: das aktive Zeichen

Wenn ich von der Bilderliste übergehe zum Einzelbild, zur monoszenischen Darstellungsform der Neuzeit, kenne ich kein Werk, das durch den Einsatz eines Vorzeichens so total in seinen medialen und bildästhetischen Möglichkeiten herausgefordert wird wie Rembrandts „Gastmahl des Belsazar“ von ca. 1630.[3] (Abb. 7)

Die Quelle, Daniel Kap. 5 ist mit 30 Versen eine der längsten Erzählungen des Alten Testaments überhaupt. Belsazar, König der Chaldäer, feiert mit „tausend Mächtigen“, „mit seinen Frauen und mit seinen Nebenfrauen“ ein großes Fest. Dazu lässt er goldene und silberne Gefäße auftischen, die sein Vater im Tempel zu Jerusalem geraubt hatte. Dass diese Freveltat eines Feindes der Juden der Sühne bedarf, kündigt sich auf der Wand an. Da „gingen hervor Finger wie von einer Menschenhand, die schrieben […] auf die getünchte Wand in dem königlichen Saal“ (Dan 5,5). Hier macht Rembrandt den Schnitt. Die Quelle widmet die verbleibenden 25 Verse der Deutung der Inschrift „Mene mene tekel u-parsim“. Diegesis kommt vor Mimesis. Die unheilverkündende Botschaft erfüllt sich, wie der letzte Vers mitteilt, ziemlich konsequent und schnell: „Aber in derselben Nacht wurde Belsazar, der König der Chaldäer, getötet.“

Der Aufeinanderprall von Präsens und Futur wird auf einen Sekundenbruchteil zugespitzt, siehe die fallenden Becher.  Es sind vor allem zwei Indizien, die der Momentaneität, der Tendenz zur totalen Vergegenwärtigung Richtung verleihen, proleptisch wirken: Erst fallen die Kelche, dann das Königtum. Erst wendet sich der König um, und dann kommt es zur großen Zeitenwende. Besonders diese letztere abrupte Aktion der Umwendung hat in der Kunstgeschichte kein Vorbild. Dass ein König aufspringt und sich umdreht, um etwas hinter ihm zu erblicken, geht gegen jedes Decorum und lässt augenfällig werden, welch höhere Macht den Herrscher hier herausfordert.

In Oberwesel treten Agens und Reagens getrennt nebeneinander auf. (Abb. 4) Ein Zeuge verweist, die anderen, der Chor, verhalten sich konform und konfrontieren mit Körper und Blicken den Betrachter – ein klassischer Fall von „äußerer Einheit“ nach Alois Riegl. Rembrandt beschränkt sich auch auf sechs Personen, aber nehmen wir die Geisterhand hinzu, dann wären es sieben, und das ist nach Alberti, noch einmal Alberti, die ideale Besetzung einer Historia, ausreichend, um alle Aktionen und Reaktionen durchzuvariieren. Letzteres tut Rembrandt mit großer Lust an der Aufgabe, Diversität auszufalten und zusammenzuhalten. Koordiniert ergibt das eine „innere Einheit“ nach Riegl:  Integration und nicht Juxtaposition, keine Person schaut in Richtung Betrachter. Einen Moment lang könnte man glauben, auch Rembrandt hätte die Notwendigkeit einer Zeigerfigur gesehen und dem König selbst die Rolle angetragen. Dem ist zweierlei entgegenzusetzen: Der König hält mit der Rechten an dem heiligen Goldgerät der Juden fest, und er wehrt mit der Linken die Ankündigung der auf den Missbrauch folgenden göttlichen Rache ab. Sein Körper funktioniert als Leiter, der zwischen Ursache und angekündigter Konsequenz, zwischen Festhalten und Verlorensein vermittelt. Auch eine Doublebind-Figur, aber anders als der Zeiger auf Tafel 5 (Abb. 4) eine rein innerbildlich motivierte. Als Vermittler in Richtung Betrachter tritt der König nicht in Aktion, weil die Wirkkraft des Zeichens so stark ist - auf ihn, auf die Festgemeinschaft, auf uns. Rembrandt konnte der Schrift des Menetekels keine höhere Konsequenz einräumen, als sie zur Lichtquelle des Bildes zu machen. Nicht auf die Wand wird geschrieben, wie es im Buch Daniel heißt, Hand und Botschaft sind ein luminoses Agens. Zwar wird auch ein Lichtgang von links wahrnehmbar, aber das Licht, das trifft, die Erzählung in Gang setzt und selbst schreibt, ist das Licht der Schrift, des Schreibens. Damit verleiht Rembrandt den visualisierten Zeichen jene Qualität, die der große Theoretiker der Semiotik, Charles Sanders Peirce für diese schwierige Klasse generell in Anspruch nahm. „[T]o seize it’s interpreters eyes and forcibly turn them upon the object meant“, das sei Art und Bestimmung des visuellen Zeichens. Es müsse also mehr sein als Zeichen, nämlich Signal.[4] Das Wort von der „pure psychological compulsion“ könnte direkt auf den „Belsazar“ Rembrandts gemünzt sein. Peirce sagt das zwar nicht, aber wir dürfen hinzufügen, dass das visuelle Zeichenregister sich so vernehmlich machen muss, weil es als „natürliches Zeichen“ als zu selbstverständlich „durchgehen“ könnte. Rembrandt forciert die schriftliche Mitteilung auch deshalb, weil sie den Dramatis personae auf jeden Fall und den Betrachtern vor dem Bild tendenziell unverständlich bleibt. Indem er sie auflädt, gibt er einen sehr schönen Beweis für die Leistung der Medien, nämlich „Unwahrscheinlichkeitsverstärker“ (Jochen Hörisch) zu sein:

Rembrandt kann in seiner monoszenischen Darstellung die biblische Zeitgestalt von Vorhersage und Erfüllung nicht explizieren, er kann die Reaktion auf die (unverstandene) Gottesbotschaft nur zu höchster Dringlichkeit und Intensität steigern und dadurch implizieren, dass auf den Schrecken Schreckliches folgt. Der Fall eines Reiches ist die Konsequenz, ein bedeutenderer profaner Stoff war für die barocke Kunst nicht denkbar. Und es gilt noch zu hinzuzufügen, dass in einer Stammesgesellschaft, die primär auf verbaler Kommunikation aufbaut, der Einbruch des Mediums Schrift und zumal einer überirdischen Schrift eine wirklich systemstürzende Konsequenz haben kann. Rembrandt hat zwar nicht soziologisch über die Kultur der Chaldäer nachgedacht, aber der thematische Rahmen das Festes war ihm bestens bekannt und damit auch, dass ein Fest und damit ein Akt in der Mitte der Gesellschaft in verbaler Kommunikation sich erfüllt.

Ergebnisoffen: das Zeichen Leere

Im Gegensatz zur ergebnisorientierten Vortrag der mittelalterlichen Kunst ist aber die ereignisorientierte Kunst der Neuzeit und des monoszenischen tendenziell ergebnisoffen. Lessing, der Vordenker des fruchtbaren, nicht des furchtbaren Moments, hatte konsequent gefordert, den Schnitt vor dem Höhepunkt des Geschehens zu machen und diesen, wie auch die weiteren Folgen nur anzudeuten. Ergebnisoffen verkürzt die Moderne dann zu offen, in der Literatur zu endlos offen, in der Kunst zu leer und unbestimmt. Rembrandt geht in diese Richtung voran, indem er mit einer fremden Schrift eine unverständliche Botschaft an die Wand malt. Kafkas Landvermesser („Das Schloss“) geht aufs Schloss, in der Erwartung dort eine Stelle anzutreten, aber es folgt nichts, kein Arbeitsauftrag, nur Prozeduren ohne Ende, vergebenes Warten. Ähnlich die Grundfiguren in „Der Prozess“ und „Das Gesetz“. „Nichts als ein Erwarten, ewige Hilflosigkeit“, notierte Franz Kafka am 15. März 1914 in sein Tagebuch. Das Bild zum Thema ist wohlbekannt, und es stammt von einem überzeugten Kafka-Leser: Richard Oelzes „Die Erwartung“, entstanden in Paris um 1935.[5] (Abb. 8)

Eine ähnlich monothematische Konzeption hat es vorher wohl nur einmal gegeben: in Giovanni Domenico Tiepolos „Mondo novo“, wo die Menge der Aufführung einer Laterna magica oder der Ausstellung von Panoramen beiwohnt. (Abb. 9)

Der Chor hat sich nun umgedreht und steht nicht mehr auf den Betrachter zu, sondern bildet eine Mauer aus Rückenfiguren, die ins Bildinnere schauen. Dieses Kollektiv von Rückenfiguren müssen wir uns nicht wie zum Beispiel bei Caspar David Friedrich introvertiert vorstellen, es nimmt an einer Sensation teil – an etwas extrem Sinnlichen, das nur wir nicht sehen können. Bei Oelze wird das zeitliche Vor wie in Vorzeichen, Vorhersage, Vorbote zum ersten Mal räumlich wahrgenommen. Was wir sehen, ist ein extrem profanisierter Modus einer „Vorsehung“.  Die repräsentative Vielfalt der Zeugen, wie sie in Oberwesel und bei Tiepolo angestrebt wurde, wird bei Oelze zum konformen Pulk. „Die Erwartung“, die wir dem Kollektiv zuschreiben, wird nicht erfüllt, denn es bleibt bei Kafkas Klage „Nichts als ein Erwarten“. Man würdige das „ein“ in „ein Erwarten“, die für Kafkas typische Generalisierung durch Neutralisierung. Mein Erwarten ist eine Caspar David Friedrichsche Rückenfigur, ein Erwarten ist Kafka und Oelze. „ein Erwarten“, so lautet zwar nicht der korrekte Titel von Oelzes Bild, aber hier liegt sein Gehalt, wenn wir das nun zum Hauptgegenstand aufgerückte Kollektiv betrachten. Wir sind längst in der Zeit der Massengesellschaft, ohne deren reale oder latente Präsenz nichts geht. Bei Heidegger heißt diese Formation „das Man“, gleichbedeutend mit „Mitsein“, „Miteinandersein“ im Maßstab der „Durchschnittlichkeit“; bei Nietzsche sind das die „letzten Menschen“, die Geschöpfe der modernen Zivilisation, die „christlich-demokratisch-sozialistischen“ Menschen, also alle Zeitgenossen. The Apocalypse is now. Oelze wollte dem Bild zuerst den Titel „Die Journalisten“ geben. Der wartende Pulk der Presseberichterstatter, das bezieht sich auf eine soziale Figur, die schon in der Zwischenkriegszeit auftrat, sich aber danach zu einem Leitbild von medialer Öffentlichkeit im ewigen Erwartungsstand gesteigert, verzerrt hat.  Ist da eine Schere aufgegangen? Je größer die Zahl der Zeugen, desto leerer das Zeugnis? 

Am Schluss stehe eine Fotografie, die am 11. September 1909 bei einer Flugschau im italienischen Brescia aufgenommen wurde. (Abb. 10)

Die Zeit hat fast gelöscht, was die Schaulustigen angezogen hatte, die Flieger. Wie bei Oelze ist (fast) nur noch die Menge der Zeugen abgebildet. Der Mann im hellen Anzug und Strohhut, der nicht nach innen und vorne, sondern zur Seite schaut, soll Kafka sein. So wollen es einige Forscher.[6] Kafka schrieb für eine Prager Zeitung eine Reportage mit dem Titel „Die Aeroplane von Brescia“, und Kafka, der Angestellte der Prager Unfallversicherung kann die neue Technik und das Fliegen vor Publikum nicht ohne Risiko denken, wozu ihm viele Flugschauen der Zukunft gute Gründe geliefert hätten, die in Brescia aber zum Glück nicht. Beim Risiko ist das Ende unbekannt, die Gefahr nach Kafka „unsichtbar“, das Register der Vorzeichen entleert – dort müsste eine Wahrscheinlichkeitsrechnung stehen. Wie in allen hier behandelten Bildern vergisst auch Kafka die Instanz der Zeugen, des „Wir“ nicht: „Und alles sieht mit gerecktem Hals, wie der Monoplan schwankt, von Blériot gepackt wird und sogar steigt. Was geschieht denn? Hier oben ist 20 Meter über der Erde ein Mensch in einem Holzgestell verfangen und wehrt sich gegen eine freiwillig übernommene unsichtbare Gefahr. Wir aber stehen unten ganz zurückgedrängt und wesenlos und sehen diesem Menschen zu.“[7] Ein Ort, ein Ereignis, ein Flugzeug (Monoplan), ein Flieger, ein Risiko, ein Zuschauerkollektiv - und noch 60 bis 70 Jahre entfernt von dem, was Ulrich Beck die Weltrisikogesellschaft genannt hat.

Anmerkungen

[1]    Daniela Wagner, Die Fünfzehn Zeichen vor dem Jüngsten Gericht. Spätmittelalterliche Bildkonzepte für das Seelenheil, Berlin 2016.

[2]    Das gesamte Bild- und Textmaterial zu Oberwesel: Deutsche Inschriften Online: Rheinland Pfalz/Rhein-Hunsrück-Kreis Nr. 157 (Thomas G. Tempel): http://www.inschriften.net/rhein-hunsrueck-kreis/inschrift/nr/di060-0157.html

[3]    Siehe zuletzt Justus Lange, Mene mene tekel: Das Gastmahl des Belsazar in der niederländischen Kunst, Fulda 2014 mit der älteren Literatur.

[4]    Charles Sanders Peirce, Peirce on Signs: Writings on Semiotics, hrsg. von James Hoopes, Chapel Hill 1991, S. 254f.

[5]    Renate Damsch-Wiehager, Richard Oelze, Die Erwartung, Frankfurt am Main 1993.

[6]    Peter Demetz, Die Flugschau von Brescia. Kafka, d'Annunzio und die Männer, die vom Himmel fielen, Wien 2002. Dazu ein vorzüglicher, weiterführender Artikel von Friedhelm Röttger, Was kommt da? Kommt da was? Bilder der Erwartung oder: Von der Magie der Rückenfiguren - Franz Kafka, Richard Oelze und die Reportagefotografie, in: Esslinger Zeitung 21. 7. 2012.

[7]    Franz Kafka, Die Aeroplane in Brescia, in: Bohemia 29. September 1909. Wiederabgedruckt in: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten, hrsg. von Wolf Kittle u.a., Frankfurt/Main, 1996, S. 401–412.

Abbildungsnachweis
  1. Oberwesel, Die 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, vor 1515: die ganze Tafel (Quelle: wie Anm. 2)
  2. Speculum Humanae Salvationis, Westfalen oder Köln, um 1360. ULB Darmstadt, Hs 2505, fol. 69r (Quelle: Wikipedia gemeinfrei)
  3. Oberwesel, Die 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, vor 1515: Tafel 1 (Quelle: wie Anm. 2)
  4. Oberwesel, Die 15 Zeichen vor dem Jüngsten Gericht, vor 1515: Tafel 5 (Quelle: wie Anm. 2)
  5. Vilsbiburg Spitalkirche, Die 15 Zeichen vor dem Jüngsten
    Gericht, Gesamtansicht (Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Heimatmuseum_Vilsbiburg)
  6. Vilsbiburg Spitalkirche, Das erste Zeichen (Quelle: wie Abb. 5)
  7. Rembrandt, Das Gastmahl des Belsazar, ca. 1630, National Gallery, London (Wikipedia, gemeinfrei)
  8. Richard Oelze, Die Erwartung, 1935/36, MoMA, New York (Quelle: wie Anm. 5)
  9. Giovanni Domenico Tiepolo, Il Mondo Novo, ca. 1791, ehem. Villa Zianigo, heute Venedig Cà Rezzonico (Quelle: Steffi Roettgen, Wandmalerei in Italien: Barock und Aufklärung 1600-1800, München 2007)
  10. Flugschau Brescia 1909 (Quelle: wie Anm. 6)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/wk01.htm
© Wolfgang Kemp, 2018