Schatten der wahren Vergangenheit

Installationen und fragmentarische Nachzeichnungen

Andreas Mertin

Ja, frage doch nach den Erfahrungen der früheren Generation
und merke auf das, was deren Vorfahren erforschten,
sind wir doch von gestern und wissen nichts,
sind doch unsere Tage auf Erden ein Schatten!
Hiob 8, 8-9

Die neuen malerischen Arbeiten der Künstlerin Madeleine Dietz tragen Titel wie Meggido, Hazor, Herat oder Kunar und lösen damit zunächst einmal eine Fülle an Erinnerungen, Assoziationen und Konnotationen aus. Wir denken an die Frühgeschichte des Vorderen Orients, an Israel und Afghanistan, vielleicht sogar an Baktrien und wir werden erinnert an die menschliche Zivilisationsgeschichte vor 6000 Jahren, der Zeit der Sesshaftwerdung, aber auch an das apokalyptische Geschehen, das manche Traditionen unter dem Stichwort „Armageddon“ mit der Ebene von Meggido verbinden, dort wo die letzte Schlacht der Menschheit stattfinden soll. Diese Erinnerungen und Assoziationen sind nicht zufällig, sondern wurden von der Künstlerin bewusst hervorgerufen, denn sie verbindet mit ihren Arbeiten die so beschworenen „Schatten der wahren Vergangenheit“ mit dem Hier und Jetzt einer Zeit, in der diese Erinnerungen zum Streitpunkt zwischen den Kulturen werden und symbolischen Zerstörungen und nicht mehr nur natürlichen Witterungsprozessen ausgesetzt sind. In einem fast wörtlichen Sinn geht es daher um Nachzeichnungen unserer Kulturgeschichte, um ein Memento (Erinnere Dich!) und um Zeichensetzung.

Die Bilder sind im materialen Sinne Schichten in der Zeit, sie sind eine Archäologie menschlicher Erfahrungen und Beheimatungen. Es geht um die Wohn-Stätten und die Städte der Menschen vor Tausenden von Jahren, die längst untergegangen sind und seit einigen Jahrzehnten mühsam Stein für Stein, Schicht für Schicht ausgegraben werden. Diesen Prozess vergegenwärtigt Madeleine Dietz in einem neuen künstlerischen Akt, der unsere Wahrnehmung für die Geschichte unter unseren Füssen (und vor unseren Augen) sensibilisiert. Dazu grundiert sie die Leinwände mit Erde und zeichnet in diese dann sorgfältig Grundrisse von Häusern, Wohnbezirken oder Tempelanlagen ein, also den Heimstätten unserer Vorfahren, die ihnen Schutz und Sicherheit boten. Diese Erinnerungen an untergegangene menschliche Zivilisationen – Schatten der wahren Vergangenheit – werden dann überarbeitet, verfremdet, zerstört, mit neuen Schichten überlagert und übermalt bis sich schließlich jenes Bild ergibt, das jetzt den Betrachtern vor Augen steht. Und damit werden wir in der Betrachtung der Bilder zu dem, was der griechische Literatur-Nobelpreisträger Giorgos Seferis in seinem Gedichtband „Mythischer Lebensbericht“ (mythistorema) so beschreibt: Wir sind „Irrende zwischen zerbrochenen Steinen seit drei- oder sechstausend Jahren, Stocherer in geborstenem Bauwerk das leicht unser eigenes Haus wär“.  Das so von der Künstlerin in Gang gesetzte Eingedenken ergibt ein eigenständiges Bild, fast im Sinne informeller Kunst, die ja auch – denken wir nur an Antoni Tàpies – von Erdungen und Zeichensetzungen getragen war. Die Kunstwerke von Madeleine Dietz sind einerseits von einer „Ästhetik des Zerfalls“ bestimmt und andererseits konkrete Interventionen in die politischen Prozesse der Gegenwart. Denn Meggido, Hazor, Herat oder Kunar sind nicht nur Stätten der Erinnerung, sondern Schauplätze heutiger Auseinandersetzungen. Die Schatten der wahren Vergangenheit fordern immer noch heraus.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/am634.htm
© Andreas Mertin, 2018