Gefährliche Konsensverschiebungen

Echolot – Oder: Etwas läuft falsch in unserer Republik

Andreas Mertin

Die Echo-Preisverleihung 2018 ist ein Lehrstück über den Zustand der Bundesrepublik Deutschland. Aber kein beruhigendes, sondern ein äußerst verstörendes. Der Pianist Igor Levit hat nicht zu Unrecht von einer sich abzeichnenden „Konsensverschiebung“ gesprochen und in der Echo-Auszeichnung an zwei rüpelhafte Rapper ein Symptom gesehen.[1]

Zunächst einmal ist die Echo-Preisverleihung ein an sich ein völlig sinnfreies Ereignis. Mit dem Echo feiert man keine Qualität, keine besondere künstlerische Begabung, sondern dokumentiert nur die Nachfrage bzw. die Auflage der verkauften Tonträger. Hier klopfen sich die Erfolgreichen des Business auf die Schulter. In dieser Logik bekäme nicht die Süddeutsche Zeitung, die F.A.Z. oder die Welt den Preis für Journalismus, sondern die BILD-Zeitung samt BZ. Man sollte, das ist die erste Lehre, den Echo schlicht nicht zu ernst nehmen, besser: ihn gar nicht erst zur Kenntnis nehmen – ihn aber auch nicht öffentlich übertragen. Er ist ein Un-Ereignis, darin aber typisch für eine Mediengesellschaft. In einem gewissen Sinne ähnelt er den Betriebsfeiern von Versicherungsvertretern, auf denen der ausgezeichnet wird, der die meisten Abschlüsse erzielt hat, also die meisten Kunden über den Tisch gezogen hat. Das interessiert auch keinen oder doch nur dann, wenn eine Versicherung daraus eine „ausschweifende Sex-Party in Budapest“[2] macht. Aber auch die werden nicht öffentlich übertragen.

Andererseits kann man aber auch nicht so tun, als ob es die Hinwendung zum menschenverachtenden Denken bei bestimmten Teilen unserer Bevölkerung nicht gäbe. Wenn der Echo-Preis 2018 etwas dokumentiert, dann ist es der Umstand, dass es einem Teil der jüngeren Bevölkerung, der Rap-Szene, sch...egal ist, wenn Auschwitzopfer verhöhnt werden. Dies ist eine Realität, die man zur Kenntnis nehmen muss. Und dabei ist es nicht die Aufgabe von Campino und seinen Kollegen, stellvertretend für uns Kollegah und Farid Bang zu kritisieren, es ist nicht die Aufgabe der BILD-Zeitung, das ganze überhaupt erst aufzudecken (wofür man ihr aber nur dankbar sein kann), sondern zunächst und vor allem ist die Kritik die Aufgabe der jugendlichen Fans: Sapere aude! Die Übertretung von Grenzen ist kein Wert an sich. Die jugendlichen Konsumenten von Kollegah haben auf der ganzen Linie versagt – moralisch und ethisch. Was ist das für eine Generation, die Zeilen, wie Kollegah und Farid Bang sie von sich geben, für ein ästhetisch generiertes Produkt halten. Die also meinen: Man wird doch noch sagen dürfen ....

Nein, das sollte man nicht und es ist auch keine Kunst, die unter bedingungslosem Schutz steht, sonst müsste man auch den Stürmer unter Kunstschutz stellen. Nur weil jemand Kunst schreit, ist es noch nicht Kunst. Und selbst wenn es Kunst wäre, dann legitimiert es nicht die Verletzung der Menschenwürde anderer. Das, da hat Igor Levit ganz sicher recht, ist die zentrale und offensiv zu diskutierende Konsensverschiebung in der Bundesrepublik Deutschland.

Dass man in den Medien ernsthaft zu hören bekommt, die Meinungs- und die Kunstfreiheit seien wichtiger als die Menschenwürde, ist ein Fanal. Wer ernsthaft meint, die „Kunst- und Meinungsfreiheit ist das höchste Gut einer Demokratie“[3] hat unsere Verfassung schlicht nicht verstanden. In einer die Kunst- und Meinungsfreiheit über die Menschenwürde setzenden Republik will man nicht wirklich leben. Unsere Verfassung sagt in Artikel 1 klipp und klar:

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Die Würde des Menschen stellt den obersten Verfassungsgrundsatz dar, an dem sich alle staatliche Gewalt auszurichten hat. Und erst in Artikel 5 kommt dann die Kunstfreiheit zur Sprache, die durchaus durch kollidierendes Verfassungsrecht – wie etwa den Persönlichkeitsschutz – eingeschränkt werden kann. Dass in der aktuellen Diskussion Kollegen ernsthaft vertreten, hier sei zwar die Menschenwürde der Auschwitz-Opfer verletzt, die Kunst- und Meinungsfreiheit sei aber wichtiger, ist schier unerträglich. Wo die Menschenwürde nicht geachtet wird, da ist die Kunst- und Meinungsfreiheit schon lange unterminiert. Das ist die Lehre der Weimarer Republik, lange vor dem Nationalsozialismus, aber nicht unabhängig davon. Die Kunst- und Meinungsfreiheit dient der Menschenwürde, sie ist kein Mittel, diese zu verletzen und Menschen willkürlich herabzusetzen. Wer das nicht versteht, hat nicht begriffen, warum die Väter und Mütter unserer Verfassung die Kunstfreiheit so hoch bewertet haben. Sie wollten nicht, dass unter Berufung auf die Kunstfreiheit Auschwitzopfer verhöhnt werden, sie wollten, dass sich nie wieder Konstellationen ergeben, in denen das möglich ist. Aber wir müssen nun damit leben, dass Menschen unserer Gesellschaft eher damit leben können, wenn Opfer verhöhnt werden, als dass man den Hetzern ins Wort fällt. Meine Ethik ist eine andere. Weder die Kunst- noch die Meinungsfreiheit sind bedingungslose Freiheiten, zumal diese im konkreten Fall nicht mal eingeschränkt wurden. Niemand hat die Battle-Rapper an ihren Äußerungen gehindert. Gerade ihr Erfolg zeigt ja, dass sie nahezu ungestört, um nicht zu sagen, unerhört sich artikulieren können. Nur folgt daraus nicht, dass sie immer und überall ihre beleidigenden Gedankenlosigkeiten vortragen können und dafür auch noch gefeiert werden sollten.

Fokussiert trägt Dennis Sand in der WELT alle apologetischen Argumente zusammen.[4] Und kaum eines vermag mich zu überzeugen. Grundlegend für sein Plädoyer ist das Argument, dass man zwischen dem inszenierten Geschehen des Rap (der Bühnenaufführung) und der Lebenswelt (der Sänger) unterscheiden müsse. Auch einem Schauspieler werfe man schließlich nicht die Ansichten der Rolle vor, die er darstellt. Das ist eine wichtige und elementare Unterscheidung. Wir müssen zwischen dem künstlerischen Produkt und dem Künstler unterscheiden. Nur trifft dieses Beispiel im konkreten Fall nicht zu. Schauspieler sind Darsteller, für sie ist die Trennung von Person und Rolle zentral. Für andere Kunstformen gilt das nicht in jedem Fall, oft hängt die Überzeugungskraft eines Kunstwerks zentral an der Authentizität des Künstlers. Die Frage ist also, „performed“ der Künstler Farid Bang sein Lied nur (und ist damit weitgehend unabhängig vom Inhalt des Stückes – so argumentiert Dennis Sand) oder besteht eine die Kunst konstituierende Beziehung zwischen der Lebenswelt des Künstlers und seinen Artefakten. Das muss im Einzelfall geprüft werden. Und meines Erachtens – das lässt sich anhand der Äußerungen von Dennis Sand wie auch denen des Künstler-Duos selbst gut belegen – ist im vorliegenden Fall die Trennung von Künstler und Werk aufgehoben.

Farid Bang aber auch Kollegah legen in ihren Äußerungen und im Liedtext selbst sehr deutlich Wert darauf, dass es diese Differenz zwischen Werk und aufführender Person nicht gibt. Farid Bang bezieht seinen Körper als außerästhetisches Substrat in die Werkkonstitution ein. Wenn das aber so ist, macht es wenig Sinn, hier künstlich eine Differenz zu konstruieren. Dann ist das Beharren auf dieser Unterscheidung eben wirklich nur verzweifelte Apologie. Das muss Sand selbst eingestehen, wenn er zur Verteidigung von Farid schreibt:

Auf diesem Song rappt Farid Bang: „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen / Ich tick' Rauschgift in Massen, ficke Bauchtaschenrapper.“ Ein Wie-Vergleich, mit dem er aussagen will, dass Bang, erklärter Fitnessfanatiker, einen sehr geringen Fettanteil, also einen definierten Körper hat.[5]

Wessen Körper ist hier gemeint? Es könnte – wie in einem Film oder einem Theaterstück – der Körper einer dargestellten Person X sein. Dann wäre das unabhängig vom Sänger. Dem widerspricht nun Dennis Sand, indem er hervorhebt, es sei der „Fitnessfanatiker Farid Bang“, dem diese Zeile zugerechnet werden müsse. Wie nun? Das scheint mir ein extremer Unterschied zu sein im Vergleich zu einem Schauspieler wie Charlie Chaplin, der Hitler nur darstellt.[6] Vielmehr behauptet Sand mit Farid Bang hier den Zusammenhang von Liedtext und Lebenswirklichkeit. Der „erklärte Fitnessfanatiker“ vergleicht seinen eigenen athletischen Körperbau mit den ausgemergelten Gestalten von Auschwitz und er stellt nicht irgendjemanden dar, der seinen Körperbau mit dem der Insassen von Auschwitz vergleicht. Wenn das zutrifft, kann man Farid Bang durchaus persönlich mit dem behaften, was er singt. Die Bezugsebene, die Dennis Sand einführt, ist der konkrete Körper von Farid Bang, der in eine Relation zu den Insassen von Auschwitz gestellt wird. Und weil das auf der Ebene der Sprache so unverantwortlich leicht auszuführen ist, weil ganz offenkundig bei vielen schlicht die Imaginationskräfte fehlen, um sich vorzustellen, was Farid Bang da singt, muss man den Liedtext auf die Ebene der Sprach-Bilder überführen. Das rappt Farid Bang wenn man es von der Sprache ins Bild übersetzt:

Um diese Imagination geht es, wenn wir unsere Sprache ernst nehmen. Und es geht darum, ob wir überhaupt unsere Sprache ernst nehmen wollen. Und: Ob wir verstehen, was wir sagen. Oder ob wir verstehen, was wir sagen, aber um des schnöden Mammons willen die Sprache prostituieren, indem wir Unschuldige verhöhnen. Unser Sprechen funktioniert so, dass wir aus einer Vielzahl von Möglichkeiten, einen Sachverhalt darzustellen, eine bestimmte Variante konkretisieren und damit Gestalt werden lassen. Jeder bewusste Moment unserer Existenz ist davon bestimmt. Platon erörtert das im Theaitetos u.a. mit dem Gleichnis vom Taubenschlag. Zum Taubenschlag des Farid Bang gehört erkennbar das Wissen um die ausgemergelten Körper der Auschwitz-Insassen. Er hat es vielleicht in der Schule gelernt oder er hat seine Bildung aus dem Fernsehen – wie Lucilectric schon 1996 trällerte. Aus dem Rap hat er es nicht. Er war auf der Suche nach einem – ich vermute einmal: krassen – Vergleich zur Ästhetik des eigenen Körpers, der ihm sehr ‚definiert‘ erscheint. Und da greift er in den Taubenschlag seines Wissens und zieht das Wissenselement „Auschwitz-Insassen“ heraus. Farid Bang hätte auch rappen können „Mein Körper ist definierter als der von Bushido“, „als der von Twiggy“, „als der von Dirk Bach“ oder „als der von Arnold Schwarzenegger“. Aber nein, er wählt ausgerechnet „Auschwitz“ als Vergleichsebene. Das ist vielleicht ein denkbares Stilmittel im Rap, aber es ist nicht rechtfertigungsunbedürftig. Ganz und gar nicht. Und es ist nicht einfach ein Betriebsunfall (er weiß, was er sagt), es ist ganz sicher kein Zufall (der Auschwitz-Vergleich liegt für einen Rapper nicht ganz so nahe wie für Kardinal Meisner im Blick auf die Abtreibung). Und schließlich ist es auch keine bloße Tabuverletzung, denn das Tabu ist ja nun keines seiner jugendlichen Fans oder der Battle-Gegner, sondern eines der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Es ist, man muss es so sagen, schlichtweg bösartig. Es ist mir zu billig und ich glaube es auch nicht, wenn man so etwas auf mangelnde Intelligenz oder fehlende Bildung schiebt. Es ist bewusst kalkuliert. Wenn man – wie Kollegah es in einem Video tut - Sprache auch als Waffe und als Gewalt begreift, dann ist dies auf gewalttätiger Angriff auf die Opfer des NS-Regimes. Und als solchen müssen wir es im öffentlichen Diskurs auch begreifen und erörtern.

Nicht zuletzt verletzt diese Sprache jenen Konsens, auf dem die bundesrepublikanische Gesellschaft seit 1945 basiert, nämlich alles zu tun, dass Auschwitz sich nicht wiederholt.

Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.[7]

Wir sind für unsere Sprache verantwortlich, auch dort, wo wir Grenzen überschreiten um damit den Horizont zu erweitern. Das ist das Mindeste, was ich von Rap-Künstlern erwarten kann, bei denen es doch laut Selbstbekundung um Sprache geht. Und die sich doch selbst, wenn ich ihren Ausführungen folge, einem Ethos unterwerfen. So

gibt es auch im Battle-Rap Regeln: So sind rassistische Äußerungen gegenüber dem Gegner oder Schmähungen seiner nahen Verwandten meist nicht zulässig. Dabei ist „Spiel über die Bande“, um genannte Einschränkungen zu umgehen, ebenfalls nicht gern gesehen.[8]

Muss ich das so verstehen, dass man sich zwar nicht rassistisch äußern darf und auch nicht Verwandte schmähen, aber dass man dennoch Auschwitz-Insassen verhöhnen darf? Soll ich das ernsthaft glauben? Gelten die Regeln nicht im Blick auf die Auschwitz-Opfer? Und wenn sie gelten, warum haben sie dann nicht gegriffen? Kann es sein, wie in dem Antwort-Video des Künstler-Duos auf die Vorhaltungen der BILD kurz zu sehen war (bevor es dann überblendet wurde), dass man eben doch schlimmste antisemitische Hetze teilt? Und anders als Kollegah meint, ist diese Karikatur nicht missverständlich, sondern unmissverständlich.[9] Sie ist unmittelbar der Bilderwelt des Stürmers entnommen.

Wenn man das Video verfolgt, dann konstruiert Kollegah dort einen Zusammenhang zwischen der Medienkritik an ihm und seinem Besuch in Palästina. Der neuerdings erhobene Antisemitismusvorwurf sei eine Waffe meint er – und dann wird die Karikatur eingeblendet (aktuell ist sie nur überblendet zu sehen). Das ist nicht nur verschwörungstheoretisch interessant, sondern bestätigt die Kritiker unmittelbar in ihrem Vorwurf. Wenn einem gegenüber dem Vorwurf, man sei antisemitisch eingestellt, nichts anderes einfällt, als eine antisemitische Karikatur von der jüdischen Weltverschwörung zu verbreiten, dann ist man: ein Antisemit.

Und was soll man zu solchen Zeilen sagen: „Wir führen auch diesen Kampf – bis zum Ende. Niemand kriegt uns klein“. Will er den totalen Krieg? Und dann werden Karikaturen über die westlichen Mainstream-Medien eingeblendet, die angeblich die Wahrheit verzerren. Das ist AfD-Stil. Die BILD-Zeitung, so sagt Kollegah, übe Zensur aus, weil sie die Justiz auffordere, sich mit der CD von Kollegah zu beschäftigen. Nun offenbart das ein merkwürdiges Rechtsverständnis. Die juristische Überprüfung der Zulässigkeit einer Handlung ist keinesfalls Zensur. Sonst wäre auch die Bestrafung einer Beleidigung Zensur. Das alles ist Unsinn.

Kommen wir zurück auf den Text von Dennis Sand. Er schreibt: „Farid Bang entschuldigte sich zudem für die Zeile.“ Was heißt das: „zudem“? Dieses Argument ist inzwischen so beliebig geworden. Man beleidigt jemand, entschuldigt sich selbst und meint, das wäre es dann gewesen. Ich habe mich doch entschuldigt. Keinesfalls hat er die CD eingestampft und den Stream unterbunden. Nein, er verbreitet es weiter und meint, er dürfe das, weil er sich doch entschuldigt habe. Auch die Meinung, man könne sich für dumpfen Schwachsinn einfach selbst entschuldigen, statt um Entschuldigung zu bitten, finde ich unerträglich. Nein, gut ist das erst, wenn der Verhöhnte der Bitte um Entschuldigung gefolgt ist – oder es eine juristische Befriedung gegeben hat. Davon kann aber keine Rede sein. Die Opfer haben noch am Tag der Preisverleihung laut protestiert und tun es weiterhin. Und auch dieses „daran habe ich nicht gedacht“ kann ich wirklich nicht mehr hören. In der Musikbranche ist alles bis aufs letzte kalkuliert. Auch hier gilt ...

It is cheaply marketed in order to provide one more so-called irrational stimulus among many others by which the members of a calculating society are calculatingly made to forget the calculation under which they suffer. [Theodor. W. Adorno]

Natürlich hat man vorher gewusst, was man da rappt. Das war kalkuliert. Man hat nur nicht damit gerechnet, dass außer den Hundertausenden jugendlicher Fans, denen Antisemitismus herzlich egal ist, auch noch andere die Zeilen zur Kenntnis nehmen. Dem Vernehmen nach war das Album von Farid Bang und Kollegah nur deshalb nicht auf dem Index, weil niemand den Antrag dazu gestellt hat.

Dennis Sand wendet nun ein, die Debatte wäre unehrlich, weil die Debattierenden keine Ahnung von den Regeln und Eigenarten des Rap hätten. Dieses Argument taucht häufiger auf, aber es überzeugt mich nicht. Es entspricht dem alten Argument, Sänger könne nur kritisieren, wer selbst Sänger sei. Das ist Quatsch. Auch Dennis Sand hat keine Ahnung vom deutschen Rechtssystem und meines Erachtens auch nicht von dem, wie heute Kunst bestimmt wird, redet aber trotzdem mit. Das ist legitim. In der öffentlichen Debatte zählt nur das Argument. Wenn es eine Kunstform gäbe, in der man höchst kunstvoll Juden (oder Christen oder Muslime) beleidigt, wäre das aber keinesfalls durch die Kunstfreiheit gedeckt, egal wie genretypisch es wäre. So billig kommt man mit der Berufung auf „genretypische“ Gepflogenheiten nicht weg. Wie schon gesagt: sonst fiele auch der Stürmer unter die Kunstfreiheit.

Dennis Sand meint nun ...

Im Battlerap gibt es keine moralischen Grenzen. Im Battlerap hat jede Minderheit das gleiche Recht auf die respektloseste nur vorstellbare Beleidigung. Aber am Ende geben sich die Kontrahenten die Hand, denn sie wissen, dass die Beleidigung in einem abgesteckten Rahmen, in einem für beide Parteien verständlichen Kontext gefallen sind.

Nur dass die Opfer von Auschwitz gar nicht an der Battle beteiligt waren, sondern von einem Wohlstandsfuzzi verhöhnt wurden. Das ist der ethische Konflikt. Was die Rapper sich gegenseitig an den Kopf werfen, ist mir zunächst einmal völlig egal. Nicht aber, wie mit nicht beteiligten Minderheiten und Opfergruppen in dieser Gesellschaft umgegangen wird. Das ist doch zum Charakteristikum mancher Raps geworden, dass hier Homosexuelle, Frauen oder Juden herabgesetzt werden, dass mit Homophobie, Misogynie und Antisemitismus „gespielt“ wird.

Unterschwellig schwingt bei all dem der Gedanke mit, dass der Kunst alles erlaubt sei und wenn etwas Kunst sei, dann dürfe es nicht bestraft bzw. sanktioniert werden. Da kann man mit dem früheren Bundesrichter Thomas Fischer nur sagen:

Kunst und Strafbarkeit, Satire und Strafbarkeit schließen einander nicht aus. Vielmehr sind sie Begriffe auf unterschiedlichen Bedeutungs- und Wertungsebenen. Auch strafbare Pornografie kann Kunst sein. Und Kunst kann strafbar sein.[10]

Wenn man konzediert, dass Kollegah und Farid Bang Kunst produzieren, müssen sie sich im Blick auf diese vor den genretypischen Kriterien ausweisen. Das können sie offenkundig in den Augen und Ohren ihrer Konsumenten. Damit ist aber die Frage der Verantwortlichkeit für die behandelten und dargestellten Inhalte noch nicht abschließend beantwortet. Das hätten manche gerne, dass es reicht, dass man sagt Ist Kunst! und alle Nachfragen hätten sich erledigt. Nein, das ist nicht so. Was aber in der Kritik nicht geht, ist der Hinweis auf schlechte Kunst, niedrige Kunst usw. Der alte bildungsbürgerliche Ansatz, störende Kunst durch den Verweis auf ihre mangelnde Qualität aus dem Weg zu räumen, diesen ansatz hat die Kunst des 20. Jahrhunderts zerstört.

Dennis Sand versucht nun, eine Differenz zwischen der Kunstfigur „Kollegah“ und dem Menschen „Felix Blume“ aufzubauen, denn ...

Battlerap ist nicht die Realität und erhebt auch nicht den Anspruch Realität zu sein.

Das scheint mir ein verzweifeltes apologetisches Argument zu sein. Denn de facto sieht der Battlerap und sehen das die jugendlichen Fans des Battlerap ganz anders. Sie halten sich nicht an Katharsistheorien, die schon lange niemand mehr glaubt, sondern verwechseln munter die Ebenen. Was dazu führt, dass sie Kritiker der beiden Rapper auch schon mal handfest bedrohen.

Medienpädagogik

Und nun folgt der merkwürdigste Abschnitt aus dem Text von Dennis Sand, denn nun wendet er sich der Medienpädagogik zu. Er fragt:

Wie geht man mit einem Kollegah um? Einem Rapper, der über eine Million Follower jeweils auf Instagram und Facebook hat. Einem Mann, dem viele Jugendliche mehr glauben, als der gesamten deutschen Presselandschaft zusammen.

Nun, dass sie der gesamten deutschen Presselandschaft nicht glauben, das gilt auch für AfD-Anhänger und Pegida-Demonstranten. Und was schließen wir daraus? Und dann der unsägliche Blick auf die Followerzahlen. Ich bin schwer beeindruckt. Über 1,4 Millionen Follower auf Instagram und über 1,8 Millionen Follower auf Facebook. Wow! Wer kann das toppen? Der gute alte Campino natürlich nicht. Ach ja, Bibi H. mit ihrem Beautypalace. Die hat 5 Millionen Follower auf Youtube, 5,5 Millionen auf Instagram und 1,3 Millionen auf Facebook. Und was sagt uns das jetzt? Dass wir uns mehr um Bibi H. kümmern müssen als um Kollegah? Oder nicht vielleicht doch, dass Kollegah nur halb so viele Follower hat wie die CSU Wähler bei der letzten Bundestagswahl? Oder dass Schwachsinn epidemisch ist? Dass man auf Adolf Hitler hätte hören müssen, weil er so viele Follower hatte? Dass man die gesellschaftliche Meinungsbildung künftig nach den Follower-Zahlen auf Facebook ausrichten sollte? Wer wären dann die Top-Influencer? Zunächst Mesut Özil, dann Bayern München, dann Borussia Dortmund, dann Marcus Reus, dann Hashem Al-Ghali, dann Toni Kroos, dann Mario Götze, dann Bastian Schweinsteiger, dann Thomas Müller, dann Manuel Neuer. Oh, da fällt mir auf, die kommen ja alle aus dem Fußball. Müsste man dann nicht vor allem mit Fußballern sprechen? Aber das geschieht ja bereits. Wie wir alle wissen, setzen sich Fußballer konsequent und wiederholt gegen Rassismus, Antisemitismus und Gewalt ein. Sie sind das Social-Media-Gegenstück zu Kollegah und dem Gangster-Rap.

Dennis Sand aber meint:

Antisemitismus ist auch ein Problem auf deutschen Schulhöfen. Aber um ihn wirklich zu bekämpfen, wäre es viel klüger, eine Debatte mit sogenannten „Influencern“ wie Kollegah und Farid Bang zu führen, statt von oben herab mit erhobenem Zeigefinger auf sie einzuprügeln. Auch wenn das vielen nicht passen mag, aber eine (noch so dumme und falsche) Aussage von Kollegah hat für eine junge Zielgruppe eben einen höheren Stellenwert als jedes Schulbuch aus dem Geschichtsunterricht es jemals haben wird.[11]

Schon wieder diese Inkonsistenz im Denken. Wenn ich den vorherigen Aussagen von Sand folge, gibt es eine strukturelle Differenz von Rap und Realität? Dann würde es doch nichts helfen, wenn Kollegah sich engagiert. „Influencer“ machen doch nur Sinn, wenn sie etwas beeinflussen, wenn die strukturelle Differenz aufgehoben wird, also die Verhöhnung von Auschwitz-Insassen Folgen in der Lebenswirklichkeit hat und nicht nur Kunstwerk-immanent Wirkung zeitigt. Influencer, das ist unbestritten, beeinflussen tatsächlich die Wirklichkeit und deshalb müssen wir schauen, welchen Einfluss sie ausüben. So wie wir auch schauen müssen, welchen Einfluss russische Trolle auf unsere Lebenswirklichkeit haben. Und deshalb ist es so gefährlich, wenn sie Dinge verbreiten, die den ethischen Konsens der bundesrepublikanischen Gesellschaft unterminieren.

Übrigens: Man sollte doch froh sein, dass die Kritiker nur mit dem „erhobenen Zeigefinger“ auf Kollegah einprügeln(sic!), er macht es anders herum ja ganz anders. Wenn die Kritiker nur mit dem Zeigefinger agieren, hat Kollegah wohl Glück gehabt. Dennis Sand meint nun:

Ein Kollegah hat mehr Einfluss auf Schulhöfen, als es Lehrer und Leitartikler jemals haben werden. Das ist die Realität.

Kommt drauf an, in welcher virtuellen Realität man lebt. Ich halte die Behauptung schlicht für unbelegbar, eigentlich aber für Quatsch. Wenn Kollegah schon in der Musikszene selbst so unbekannt ist, dass Musiker sich fragen, was er denn eigentlich so von sich gibt (so Wolfgang Niedecken auf seinem Facebook-Account), dann ist auch sein Einfluss bei den Jugendlichen begrenzt. Es mag ein Milieu geben, in dem Kollegah sehr wichtig ist (immerhin 0,25% der bundesdeutschen Bevölkerung kauften seine CDs), aber das ist nicht notwendig repräsentativ für die bundesrepublikanische Jugend. Und schließlich zum angegebenen Geltungsort des Arguments: Zum einen wird hier das Argument der Straße („auf den Schulhöfen“) zum Entscheidungskriterium gemacht. Warum schreibt Sand nicht: „in den Schulen“? Weil es nicht stimmen würde. So blöd sind unsere Schülerinnen und Schüler nicht. Mag sein, dass man auf dem Schulhof punkten kann, wenn man sich wie Kollegah benimmt und mit den Muskeln spielt, aber was sagt das schon? Zum zweiten: Leitartikler hatten noch nie Einfluss auf Schulhöfe. Selbst in den besten Tagen der BILD-Zeitung waren es nicht die Leitartikel (hatte die BILD überhaupt welche?), die Einfluss auf die Massen hatten. Es waren die Schlagzeilen. Und über den Einfluss der Lehrer auf den Schulhöfen müsste man lange streiten. Es ist ein Thema des Boulevards und der Populisten, wer aktuell die Hoheit über den Schulhof hat. Ein Argument ist es nicht. Glaubt man manchen Boulevard-Medien haben die Drogendealer die Hoheit über den Schulhof. Aber auch das ist vermutlich Blödsinn.

Ich vermute aber, sobald Kollegah in dem von Dennis Sand beschriebenen und als erwünscht bezeichneten Sinne aufklärerisch tätig würde, wäre er auf dem Schulhof sofort als Weichei verschrien und hätte keine Bedeutung mehr. Sein Einfluss generiert sich gerade dadurch, dass er als Bad Boy erscheint und nicht, weil er wie die Lehrer daran arbeitet, die Welt zu einer besseren zu machen. Nur wenn Kollegah eben nicht Kollegah wäre ...

dann wäre ein Kollegah für die Jugend ein besseres Sprachrohr für Toleranz und Nächstenliebe, als jeder Historiker es je seien könnte.    

Aber daran glaubt Dennis Sand wohl selbst nicht.


P.S. I: Der Kapitalismus relativiert

Die Plattenfirma BMG, die das Album produzierte, unterstützt Kollegah und Farid Bang:

"Wir nehmen Künstler und künstlerische Freiheit ernst, und wir sagen unseren Künstlern nicht, was ihre Texte enthalten sollten und was nicht", teilte das Tochterunternehmen von Bertelsmann mit. Ohne Zweifel hätten manche Zeilen des Rap-Albums viele Menschen tief verletzt. Auf der anderen Seite seien viele Menschen nicht so sehr verletzt worden, so dass das Album vergangenes Jahr eines der meistverkauften in Deutschland gewesen sei, hieß es weiter. Zudem hätten die Rapper ihr Bedauern über verletzte Gefühle ausgedrückt. 

Dass Plattenfirmen ihren Künstlern nicht sagen, was sie machen sollen, ist ein schlechter Witz. Jede Künstlerbiographie erzählt etwas anderes. Der Rest des Statements ist nur noch widerwärtig. Es dokumentiert, dass die Plattenfirma jede Form von Moral, von Ethik und Anstand verloren hat. Wo ist der Unterschied zu den Argumenten der Waffenlobby in den USA, wonach natürlich durch Waffen viele Menschen verletzt und getötet werden, auf der anderen Seite aber viele Menschen eben gerne schießen und man deshalb viele Waffen verkauft habe? Das ist die hässliche Fratze des Kapitalismus, der nur dann moralisch wird, wenn die Umsätze einbrechen oder wenn man mit Moral Geld verdienen kann. In der Regel ist es aber umgekehrt. [Inzwischen – 5 Stunden später – hat die Plattenfirma die Zusammenarbeit mit den beiden Rappern eingestellt. Die Halbwertzeit von Solidarität im Kapitalismus ist kurz.]


P.S. II: Der Kulturbeauftragte urteilt

Natürlich muss auch der Kulturbeauftragte der Evangelischen Kirche in Deutschland etwas zum Thema sagen, wenn auch nur auf seinem Blog.[12] Zumindest passt der Echo zu seinem Kulturbeutel. Er meint, beim Echo ginge es um schlechte Musik:

Bei der ‚Echo‘-Verleihung zeigen also die dicksten Bauern ihre dümmsten Kartoffeln (oder umgekehrt). Es kommt folgerichtig nur Schlagermusik zur Aufführung: Schlager-Schlager (H. Fischer), Sparten-Schlager (S. Antiano), Gröl-Schlager (T. Hosen). Eine Ausnahme bildete in diesem Jahr jedoch eine Hervorbringung aus dem Genre ‚Musikalischer Rülpswettbewerb‘ (Battle-Rap).

Ganz interessant, was der Kulturbeauftragte von der populären Kultur so wahrnimmt. Mich würde ja mal interessieren, was die Kollegen vom alten AK Pop dazu sagen – aber die sind in solchen Fragen eher sprachlos.[13] Da ist die Erkenntnislage inzwischen doch um Jahrzehnte weiter. „Kunst“ wird nicht von Bildungsbürgern nach dem Aschenputtel-Prinzip bestimmt, sondern durch die Kunst selbst, wie Bundesrichter Fischer festhält:

Die "Freiheit" der Kunst besteht nicht in ihrer inhaltlichen Unbeschränktheit, sondern im immanenten Begriff ihrer selbst. Was Kunst ist, bestimmt nicht das Strafrecht, sondern allein die Kunst. Wenn das (Straf-) Recht etwas als "verboten" ansehen möchte, muss es die Verantwortung dafür schon selbst übernehmen und nicht der "schlechten" Kunst in die Schuhe schieben.[14]

Der Echo, auch das sollte ein Kulturbeauftragter wissen, wird in 22 (!) Kategorien verliehen. Zu den schlagersingenden dicken Bauern mit den dümmsten Kartoffeln gehören also auch der eritreische Soulsänger Fetsum mit seinem Echo für Soziales Engagement, den er für seinen Einsatz für Flüchtlingskinder bekommen hat.[15] Oder Klaus Voormann[16] mit dem Echo für sein Lebenswerk. Oder P!nk mit dem Echo beste Künstlerin international.[17] Das wird die betreffenden Künstlerinnen und Künstler aber freuen, dass die EKD eine so dezidierte Meinung zu ihnen hat. Der Kulturbeauftragte fährt fort:

Doch wie fast alles Schlechte gelegentlich auch zu etwas Guten führen kann, soll es nun besser werden: ... In Zukunft, so wird überlegt, soll es auch um Qualität gehen. Dafür bräuchte es allerdings eine Jury, die etwas von Pop-Kunst versteht, nach ästhetischen Kriterien urteilt und auch um die Verantwortung von Unterhaltungshelden weiß.

Dann weiß man ja, wer nicht in der Jury sitzen wird.


P.S. III: Die dunkle Seite der EKD

In der ethischen Kommission des Echo, die über die Zulassung von Kollegah und Farid Bang entschieden hat, saß, das wird nun am 19. April 2018 deutlich, auch ein Vertreter aus dem Büro des Kulturbeauftragten der EKD. Das heißt, die EKD ist nicht nur Kommentator des Geschehens, sondern unmittelbar beteiligter Handlungsträger. Während wir alle nur vor dem Fernseher sitzen und die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, weil Menschen, die offenkundig mit verbalisiertem Antisemitismus im Fernsehen ein großer Auftritt eingeräumt wird, hätte die EKD durch eine nüchtern Haltung zur Frage des Antisemitismus in der gegenwärtigen Gesellschaft Stellungbeziehen können. Hätte … Aber, wie nun durch Idea bekannt wird, hat der Vertreter der Evangelischen Kirche in der ethischen Kommission der Echo-Verleiher für(!) die Auszeichnung von Kollegah und Farid Bang gestimmt:

Mittlerweile wurde bekannt, dass der Echo-Ethikbeirat, in dem die beiden großen Kirchen mit jeweils einem Vertreter sitzen, mit 6:1 Stimmen für die Preisverleihung an das Duo gestimmt hatte. Der evangelische Vertreter, der Kunsthistoriker Klaus-Martin Bresgott vom Kulturbüro des Rates der EKD (Berlin), war dafür, die katholische Vertreterin, Uta Losem (Berlin), als Einzige dagegen.[18]

Das geschah in der gleichen Woche, in der die EKD treuherzig verkündete „Antisemitismus ist Gotteslästerung“:

Als Christinnen und Christen stehen wir uneingeschränkt an der Seite unserer jüdischen Geschwister. … Der Rat ruft dazu auf, besonders sensibel gegenüber jeder Form der Judenfeindschaft zu sein und versteckten Antisemitismus zu thematisieren und aufzudecken und Begegnungen mit Jüdinnen und Juden zu fördern. [19]

Da hat die EKD jetzt ein Glaubwürdigkeitsproblem. Soll man ihr wirklich ihr Engagement gegen Antisemitismus glauben, wenn zur gleichen Zeit ein Vertreter der EKD in einem anderen Gremium für die öffentliche Präsentation von Künstlern stimmt, die die Opfer in Auschwitz verhöhnen? Das sind wohlfeile Worte, die der Rat da von sich gibt, aber man muss die Menschen an ihren Taten messen. Der Ethikbeirat des Echo hatte sich so gewunden:

In seiner Stellungnahme hatte der Beirat die antisemitischen Aussagen der Rapper kritisiert. Ihre Texte hätten die künstlerische Freiheit aber „nicht so wesentlich übertreten“, dass ein Ausschluss gerechtfertigt wäre.

Die antisemitischen Aussagen hätten die künstlerische Freiheit „nicht so wesentlich übertreten“ – man fasst es nicht. Und da hat der Mann aus dem Büro des Kulturbeauftragten zugestimmt? Claussen nennt das im Nachgang eine „scharfe inhaltliche Auseinandersetzung“. Ich nenne es Verharmlosung von Antisemitismus und Judenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Und die EKD hilft dabei mit. Sie sollten zurücktreten.


P.S. IV: Die dunkle Seite des deutschen Rap

Karin Wendt machte mich freundlicherweise nach der Lektüre des Artikelentwurfs auf den Beitrag des WDR zum Thema „Die dunkle Seite des deutschen Rap“ aufmerksam. Und dieser Beitrag zeigt, dass die Konsensverschiebung schon längst stattgefunden hat. Ich will nicht sagen, dass es schon zu spät ist, um zu intervenieren, aber in einem gewissen Sinne stehen wir vor vollendeten Tatsachen. Das Einzige, was einen noch beruhigen kann, ist das derartiges katastrophales Denken eben nicht Mainstream ist, sondern randständig, und auf absehbare Zeit keinen politischen Einfluss bekommen wird.

Erkennbar wird in dem in der Mediathek der ARD abrufbaren Beitrag[20], dass für einen gewissen repräsentativen Teil der deutschen Rap-Szene die Definition von Antisemitismus sich darauf beschränkt, ob man persönlich was gegen Juden hat. Und man hat ja persönlich nichts gegen Juden. Punktum. Und dann kommen all die Klischees von den Juden, mit denen man bekannt, befreundet und was weiß ich ist. Antisemitismus wird daran festgemacht, ob Juden Rapper sein dürfen. Klar dürfen sie. Also gibt es keinen Antisemitismus. Dass dann Israel von der Landkarte verschwindet (wie bei Bushido) oder in einer vom Satan befreiten Gesellschaft auch keine Juden mehr vorhanden sind (wie bei Kollegah), ist dagegen kein Problem.

Der Beitrag macht deutlich, dass wir kein latentes, sondern überaus manifestes Problem gelebten Antisemitismus in der deutschen Jugendszene haben. Es ist vielleicht über weite Strecken kein bewusster Antisemitismus wie er im 19. Jahrhundert entstand und dann im Dritten Reich zu seinem Höhepunkt kam. Aber er kalkuliert die Beseitigung des „jüdischen/israelischen/zionistischen Problems“ eiskalt mit ein. Der WDR-Beitrag dokumentiert, dass ein Teil der Erziehung nach Auschwitz gescheitert ist. Ich will gar nicht von Absurditäten reden wie denen, dass da ein Pubertierender meint, wenn man zu jemandem sage, Du Jude, dann lobe man ihn doch, weil Juden ja reich seien und Reichtum heute in den Augen von Jugendlichen etwas Gutes darstelle. Oder dass „Du Jude“ so etwas wie „Denglisch“ sei. Da ist in der Schule schlicht etwas schiefgelaufen. Problematischer finde ich es schon, wenn Produzenten und Manager meinen, es sei doch besser, seinen Hass in die Welt zu schreien statt dem anderen die Fresse einzuschlagen. Als ob das die Alternativen in unserer Kultur wären. Beleidigen oder verprügeln – die Rap-Kultur scheint nichts anderes zu kennen.

Den Beitrag des WDR, den ich jedem zur Kenntnisnahme ans Herz lege, finde ich übrigens in sich überhaupt nicht aufklärerisch, sondern in seiner Schein-Neutralität fast schon vernebelnd und dem klaren Kampf gegen Antisemitismus abträglich. In Sachen Antisemitismus gibt es keine Neutralität. Da wo von den befragten Rappern Dinge einfach in den Raum gestellt werden, wird nicht nachgefragt und recherchiert, sondern es wird einfach stehen gelassen oder im besten Fall mit einer konträren Meinung konfrontiert. Ganz im Sinne von: man müsse beide Seiten zu Wort kommen lassen (die Mörder und die Opfer, die Verleumder und die Verleumdeten). Da hätte ich mir schon ein wenig mehr Journalismus gewünscht.

Ob z.B. in dem unerträglich Video „Apokalypse“ von Kollegah der dargestellte Böse am Ringfinger nur ein Pentagramm, ein Hexagramm oder einen Davidstern trägt, lässt sich durchaus sehr schnell auf der Sachebene entscheiden – da kann Kollegah so lange drum herum reden wie er will.[21] Und ob die alte verschwörungstheoretische Leier, es gäbe eine Gruppe einflussreicher Männer, die die Kontrolle und Dezimierung der Weltbevölkerung wollten, ein Mythos, der immer mit Namen wie George Soros verbunden wird, nicht auch durch und durch antisemitisch ist – die Beantwortung dieser Frage hätte man nicht nur den Wissenschaftlern und Vertretern des Judentums überlassen dürfen, sondern hätte selbst auch als Journalistin Stellung beziehen müssen.

Und trotzdem, die drei im Beitrag des WDR auftretenden Kritiker – sehr überzeugend analytisch der Politikwissenschaftler Jakob Baier, sehr differenzierend die Linguistin Monika Schwarz-Friesel und sehr engagiert Daniel Neumann vom Landesverband der jüdischen Gemeinde in Hessen –, sind ein intellektueller Gewinn für die Debatte und sie zeigen alle drei, dass es nicht reicht, sich auf der Ebene von „ich wollte aber doch“ und „ich wollte aber doch nicht“ zu bewegen. Sondern, dass es darauf ankommt, sich in der Sache mit dem Phänomen auseinanderzusetzen, also Videos zu analysieren, Sprache zu untersuchen und auf die lebensweltlichen Konsequenzen aufmerksam zu machen. So wie es Daniel Neumann von seinem Telefonat mit Kollegah berichtet:

Kollegah hat in dem Telefonat versucht darzustellen, dass die Vorwürfe nicht stichhaltig seien, die wir da erhoben hätten – speziell, dass er kein Antisemit sei. Das war ihm das Allerwichtigste. ... Den Antisemitismusvorwurf wollte er loswerden. Während ich ihm damals versucht habe klarzumachen, dass es völlig irrelevant ist, ob er Antisemit ist oder nicht, dass es mir auch völlig egal ist, was er denkt, weil es darauf ankommt, was er tut. Und darauf ankommt, was er singt und welche Textzeilen er verbreitet. Und wenn die antisemitische Stereotype verbreiten, wenn die antisemitische Inhalte haben, und judenfeindliche Inhalte, dann ist es mir völlig egal, was Kollegah als Person in seinem Kopf mit sich herumträgt.

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Anmerkungen

[3]    So etwa Dennis Sand: „Die Kollegah-Debatte muss endlich fair geführt werden!“ in: WELT 15.4.2018. https://www.welt.de/kultur/article175451904/Die-Debatte-um-Kollegah-und-Farid-Bang-muss-endlich-fair-gefuehrt-werden.html

[4]    Ebd.

[5]    Ebd.

[7]    Th. W. Adorno, Meditationen zur Metaphysik, GS 6, S. 358

[8]    Wikipedia, Art. Battle-Rap, https://de.wikipedia.org/wiki/Battle-Rap

[11]   Dennis Sand, a.a.O.

[21]   Ist eigentlich niemand die fatale Ähnlichkeit der videoästhetischen Konstruktion von „Apokalypse“ mit „Dunya“ von Ex Deso Dogg aufgefallen? Die apokalyptische Konstruktion scheint mir doch sehr verwandt zu sein. Nur dass sich Deso Dogg mehr Sing Sang leistet.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/am630.htm
© Andreas Mertin, 2018