Verdammte Erinnerung II

Was ist Sexismus in der Kunst?

Andreas Mertin

Die Diskussion über die Abhängung des Waterhouse-Gemäldes in der Manchester Art Gallery nimmt kein Ende – auch wenn das Bild inzwischen längst wieder hängt. Auf bento.de, der SPIEGEL-Spielwiese für junge Autorinnen und Autoren, gibt es einen Beitrag, der in einer geradezu naiven Offenheit erhellend für die Debatte ist: Dort schreibt Leonie Hallet unter dem schönen Titel „Im Museum hängen überall nackte Frauen – und das soll kein Sexismus sein?“ Schon die Frage offenbart einen eklatanten Rückschritt gegenüber den Diskussionen der letzten 70 Jahre. Zum einen die fehlende Differenzierung von ‚Akt‘ und ‚Nackt‘, über die man streiten kann, die aber kunstgeschichtlich wichtig ist. Zum zweiten grundsätzlich die mangelnde Berücksichtigung der kunstgeschichtlichen Debatten der letzten Jahre. Als ob wir gerade erst #2018 anfingen, über die Aktdarstellung in der Kunst unter emanzipatorischen Gesichtspunkten zu diskutieren. In Ways of Seeing von John Berger aus dem Jahr 1973 ist ein ganzes Kapitel dieser Frage gewidmet, in Frauen Kunst Geschichte von Cordula Bischoff aus dem Jahr 1984 ein ganzes Buch. Ich finde schon die Frage, ob Nacktheit nicht sexistisch sei, absurd. Die vielleicht am häufigsten betrachtete Statue der Welt ist der vollständig nackte David von Michelangelo auf dem zentralen Platz von Florenz. Ist das auch Sexismus? Oder nicht, weil es nur ein Mann ist? Deshalb im Folgenden eine kurze Erinnerung und eine Recherche.


Ways of Seeing – Eine Erinnerung

1972 arbeitet der Schriftsteller und Maler John Berger an der BBC-Fernseh-Serie „Ways of Seing“ mit. Daraus entsteht später das Buch „Ways of Seeing“, das unter dem Titel „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“ auf Deutsch erschien.

Dieses Buch ist eine Pflichtlektüre für jeden, der sich mit Kunst, Wahrnehmung und Gesellschaft auseinandersetzt. Wie John Berger selbst schreibt, ist es stark von Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ beeinflusst.

Das kleine Buch besteht aus sieben Kapiteln: „Vier Kapitel bestehen aus Text und Bildern, drei nur aus Bildern. Diese reinen Bildkapitel (über die Art, Frauen zu sehen und über verschiedene, sich widersprechende Aspekte der Tradition der Ölmalerei) sollen ebenso viele Fragen auslösen wie die geschriebenen.“

Kapitel 2 (ein Bildkapitel) und Kapitel 3 beschäftigen sich mit der Darstellung von Frauen in der Kunst. Das 3. Kapitel beginnt mit folgenden Worten, die heute noch so aktuell sind wie vor 45 Jahren:

Nach Bräuchen und Konventionen, die zwar heute kritisch befragt werden, aber noch keineswegs überwunden sind, unterscheidet sich die gesellschaftliche Erscheinung einer Frau – ihr Auftreten – von der eines Mannes. Das wirksame Auftreten des Mannes ist abhängig von der Verheißung der Kraft und der Macht, die er verkörpert. Je mehr und je glaubwürdiger er etwas verheißt, desto eindrucksvoller ist sein Auftreten. Der Mann kann moralische, physische, betont persönliche, gesellschaftliche oder sexuelle Macht und Kraft verheißen, auf jeden Fall aber liegt das Ziel, auf das sie sich richtet, außerhalb des Mannes. Sein Auftreten lässt darauf schließen, was er für dich oder dir zu tun imstande ist. Wohl könnte sein Auftreten in dem Sinne gefälscht sein, dass er Fähigkeiten vorspiegelt, die er nicht hat. Aber die Täuschung richtet sich immer auf eine Macht, die er auf andere ausübt.

Man könnte das unmittelbar auf Donald Trump anwenden, aber es zeigt schlicht, wie männlicher Machtanspruch durch Jahrhunderte funktionierte. John Berger fährt dann fort:

Im Gegensatz dazu drückt das Auftreten und damit die Erscheinung einer Frau ihre Einstellung zu sich selbst aus und macht darüber hinaus klar, was man mit ihr tun kann und was nicht. Ihr Auftreten (ihre Erscheinung) manifestiert sich in ihren Gesten, ihrer Stimme, ihren Meinungen, Äußerungen, Kleidern, in ihrem Geschmack und der von ihr gewählten Umgebung – tatsächlich kann sie nichts tun, was nicht zu ihrer Erscheinung beiträgt. Die Erscheinung einer Frau ist so wesentlich für ihre Persönlichkeit, dass Männer dazu neigen, sie für eine fast physische Ausstrahlung zu halten ...

Keinesfalls rechtfertigt Berger das, vielmehr beschreibt er Konventionen einer in Geschlechterfragen repressiven Gesellschaft. Und er fügt dem eine interessante These hinzu:

Wir könnten vereinfachend sagen: Männer handeln und Frauen treten auf. Männer sehen Frauen an. Frauen beobachten sich selbst als diejenigen, die angesehen werden. Dieser Mechanismus bestimmt nicht nur die meisten Beziehungen zwischen Männern und Frauen, sondern auch die Beziehung von Frauen zu sich selbst. Der Prüfer der Frau in ihr selbst ist männlich – das Geprüfte weiblich. Somit verwandelt sie sich selbst in ein Objekt, ganz besonders in ein Objekt zum Anschauen – in einen ›Anblick‹. ...        
    Man malte eine nackte Frau, weil man es genoss, sie anzuschauen; man gab ihr einen Spiegel in die Hand und nannte das Bild Eitelkeit. So verdammte man moralisch die Frau, deren Nacktheit man zum eigenen Vergnügen dargestellt hatte. Die wirkliche Funktion des Spiegels war eine andere; er sollte der Frau dabei Vorschub leisten, dass sie sich selbst – vor allem anderen – als Anblick behandelte.

Das erklärt u.a. warum manche der inkriminierten Bilder solche von Künstlerinnen sind. Ich zitiere das so ausführlich, um darauf hinzuweisen, wie differenziert dieser Diskurs bereits vor 46 Jahren war. Und ich wünschte mir, er würde auch heute auf diesem Niveau geführt. Und nicht mit Plattitüden wie: weil Männer die Bilder gemalt haben, bekommen wir in den Museen einen männlichen Blick vorgesetzt. Und wenn wir die Zahl der Frauen erhöhen, dann kommt der weibliche Blick zur Geltung. Das ist die Logik, mit der amerikanische Fernsehserien mit Schauspielern verschiedener Ethnien und Rassen besetzt werden. Je größer der Mix, desto gerechter.

[Ironie: Nach der gleichen Logik könnten konservative Katholiken und Evangelikale argumentieren, weil vor allem Schwule die großen Werke der Kunst geschaffen haben, sähen wir in den Museen nur den schwulen Blick. Und als Reformierter finde ich, es gibt zu viele von Katholiken geschaffene Kunstwerke in den Museen. Und als Westfale, dass es zu viele von Rheinländern geschaffene Werke in den Museen gibt. Und als Deutscher, dass es zu viele welsche Kunst ... Ach nein, das hatten wir schon mal. /Ironie]


Manchester Art Gallery: Eine Recherche

Nun aber zurück zum Artikel auf bento.de. Er beginnt mit folgender Feststellung:

Unzählige nackte Frauen, die sich auf Betten, zwischen Bäumen oder im Wasser rekeln. Die Brüste mal mit ihren langen Haaren bedeckt, oder völlig entblößt. Was klingt wie der Hintergrund für beliebige erotische Wald- und Wiesen-Filmchen, hängt in vielen Museen und Galerien weltweit an der Wand. Und niemand regt sich auf, denn das ist schließlich Kunst.

Ja, das schreibt sich so leicht und ist ebenso leicht zu widerlegen. Tatsächlich regen sich die Kleinbürger seit Jahrhunderten über Nacktes in der Kunst auf, es ist sozusagen ein Charakteristikum dieses Milieus. Zuletzt, darauf habe ich im ersten Teil dieses Artikels (Verdammte Erinnerung I) hingewiesen, waren es die Nazis, die sich über das Nackte in der Kunst aufregten, nicht ohne dann selbst ihre Schamhaarmaler an die Museumswand zu kleben. Also, dass sich niemand über Nacktheit in der Kunst aufregt, kann nur vertreten, wer die Geschichte der Kunstskandale nicht kennt. War da nicht mal der Hosenmaler Daniele da Volterra, der nach dem Konzil von Trient die Nackten Michelangelos übermalte? Warum wohl?

Ich wundere mich aber auch, dass sich jemand traut, so klare empirische Behauptungen wie „überall an Museumswänden hängen nackte Frauen“ aufzustellen, weil man so etwas doch leicht überprüfen kann. Stimmt das überhaupt? Sicher, weltweit gibt es sehr viele Aktdarstellungen in der Kunst, weil die Künstler seit der späten Renaissance am nackten Körper malen lernten. Trotzdem dürfte die Zahl der Akte im konkreten Ausstellungsprogramm eher begrenzt sein. Nehmen wir konkret den Sammlungsbestand der beschuldigten Manchester Art Gallery. Großbritannien ist ein Land, das seine Museumsverzeichnisse online zugänglich macht. Es ist also kein Geheimwissen, wie viele Nackte – Männer wie Frauen wie Kinder – vom Museum in Manchester gesammelt wurden. Jeder/jede, der/die über einen Computer mit Internetzugang verfügt – also auch eine Autorin von bento.de – kann schlicht online gehen und sich durch die Bilder klicken. Artuk.org heißt die Seite und hier bekommt man Zugriff auf 2.138 Kunstwerke aus dem Bestand des Museums. Und jetzt bitte ich die Leserinnen und Leser kurz innezuhalten und zu überlegen, wie viele der 2.138 Kunstwerke wohl die angeblich ‚unzähligen‘ nackten Frauen zeigen? Was vermuten Sie? 10%, also 214 Kunstwerke? Oder 20%, also 428 Kunstwerke? Oder doch nur 5%, also 107 Artefakte? Notieren Sie bitte diese Zahl.

Ich rufe das Verzeichnis auf, sortiere chronologisch von alt nach neu und stoße nach 56 betrachteten Bildern auf ein Bild der Tugenden, das drei nackte Frauen zeigt und von 1645 ist. 60 Bilder weiter die allegorische Darstellung von Zeit, Wahrheit und Gerechtigkeit, die sowohl nackte Frauen wie nackte Männer zeigt. Dazwischen waren einige sexistische Bilder, die aber nichts mit Nacktheit zu tun hatten und auch nichts mit Akt-Darstellungen. Aber die holländischen Genre-Szenen von alten Männern mit jungen Mädchen sind natürlich durchaus sexistisch – ohne dabei nackte Haut zu zeigen. Ich scrolle weiter durch die Bilder und bin doch entsetzt, wie selten das Thema „Akt“ vorkommt – angesichts dessen, wie wichtig es für die Menschen in ihrer Geschichte und für die Kunstgeschichte war. Ich muss schon bis zu William Etty, also bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts scrollen, um vermehrt auf Akte zu stoßen. Nun ist Etty in der Kunstgeschichte für seine Nackt-Darstellungen bekannt und berüchtigt. Man könnte dem noch einige Werke von Frederick Pickersgill hinzufügen. Jetzt bin ich schon hunderte Bilder weiter in die Zeit um 1870 vorgestoßen, und fand nur eine Sündenfall-Geschichte, bei der Eva nackt dargestellt ist. Ist das Sexismus? Dazwischen schrecklich viele See-Landschaften, Porträts und Genre-Szenen, aber wenig Boudoir. Dann 1890 wieder zwei Nackte, ein Mann, eine Frau, passt nicht wirklich ins Raster. 1901 wieder eine Nackte, aber auch die neben einem nacktem Mann. Wir sind allmählich bis zum Spätimpressionismus vorgedrungen, die Darstellungen werden verschwommener, aber Nackte? Eher Fehlanzeige. 1924 dann ein halbnacktes Mädchen, das aber eher wegen der Nacktdarstellung von Kindern, als wegen des Sexismus gegenüber Frauen problematisch ist. Dazwischen sehr viele Rollenklischees, über die man diskutieren müsste. Ich scrolle weiter, keine Akte, keine Nackten. Inzwischen bin ich bei Graham Sutherland in den 50ern des 20. Jahrhunderts. Endlich wieder einmal Nackte, aber: vier nackte Männer. Jetzt komme ich zur Moderne, ein Aktbild einer Frau – aber ein Selbstporträt: Me in Sea von Gwen Hardie. Dann das letzte Bild von 2008: ein Fußballstadion.

Ich fühle mich verarscht. Wo waren all die nackten Frauen, die sich auf Betten, zwischen Bäumen oder im Wasser räkeln? Maximal jedes vierzigste Bild zeigte nackte Figuren (aber nicht nur nackte Frauen), das wären etwa 50 von 2.139 (also 2,4%), als sexistisch kann man vielleicht zehn dieser Nackten benennen, das wäre ein halbes Prozent des Museumsbestandes. Welche Zahl haben Sie sich notiert? Vor diesen verbliebenen zehn Bildern kann man tatsächlich diskutieren, aber das muss man dann eben auch vor den Bildern tun. Dafür sind Museen da.

[Man kann das Recherche-Verfahren übrigens auch abkürzen, wenn man einfach zur Verfeinerung in die Suche "nude" eingibt, aber das erfasst nicht alle Werke. 31 Exponate werden so angegeben, darunter keines der Kinderbilder und kaum mythologische Darstellungen.]

Mich überrascht, welche Bilder auf diese Weise nicht in den Fokus der Sittenwächter geraten sind. Man läuft durchs Museum, um Anstößiges zu finden – moralisch Anstößiges, nicht künstlerisch Anstößiges – und sieht gar nicht wirklich hin.

Wäre es nicht sinnvoller, über Bilder wie das nebenstehende zu diskutieren? Gleiches Museum, gleiches Thema: der Akt in der Kunst. Damit mich niemand missversteht: ich finde das Bild als historisches unproblematisch, meine aber, wenn man die gleichen moralinsauren Kriterien anlegt wie beim Bild von Waterhouse, dann sollte man eher über dieses Bild von William Stott diskutieren als über jenes von Waterhouse. Dieses ist grenzwertiger als das andere, denn hier scheint mir die Kunst ein Mittel zum Zweck. Wenn das, was John Berger in Ways of seeing über die Funktion der Spiegelung des nackten Körpers in der Kunst geschrieben hat, diskutabel ist, dann sollte man es konkret an diesem Bild durchbuchstabieren – ohne auch nur auf die Idee zu kommen, dieses Bild nicht zu zeigen.


No and never!

Die Aktion war ein Erfolg: Das Bild hängt mittlerweile wieder, auf der Seite des Museums kommentierten zahlreiche Besucher, und Medien aus der ganzen Welt berichteten – und auch in deren Kommentarspalten wurde wild diskutiert.        
     Die nackten Frauen an dieser Wand blieben also nicht unhinterfragt. Es wurde eine Debatte angestoßen. Viele verschiedene Menschen haben sich Gedanken darüber gemacht, ob und wie mit diesen Bildern umgegangen werden soll.  
     Das ist keine Gefahr für die Freiheit der Kunst. Das ist eine gute Nachricht für die Freiheit der Frau.

Ganz ähnlich haben Nationalsozialisten ihre Säuberung der Kunsttempel auch gefeiert: Denkt nur: Weltweit wurde über unsere Aktion „Entartete Kunst“ diskutiert. War doch keine Gefahr für die Kunst, hat ihr doch eher genutzt. Und es war eine gute Nachricht für das teutsche Volk. Mich kotzt das an. Wenn es nur um die Debatte gegangen wäre, dann hätte man vor Gemälden über Gemälde diskutieren können. Es ging aber gar nicht um ein Gespräch (so kommt man auch nicht in die Medien), sondern um einen symbolischen Akt der Empörung, darum, die Entfernung von Kunstwerken aus den Museen nach außerkünstlerischen Kriterien salonfähig zu machen. Das ist der Kuratorin tatsächlich gelungen. Man gewöhnt sich an den Gedanken, dass künftig aus dem einen oder anderen Grund, sei er moralisch, feministisch, chauvinistisch, religiös oder politisch, Kunstwerke aus Museen entfernt werden – so wie heute schon in russischen Museen. Zunächst zeitweise, dann ins Depot und irgendwann auf den Müll. Ist es nicht das, was wir insgeheim wollen? Eine nicht sexistische, aseptische, korrekte Kunst des common sense, die wir nach zwei Minuten vergessen können, weil sie so langweilig ist, die sich aber gut über dem Sofa macht? Entfernen wir doch alles Anstößige, von Baudelaire über de Sade bis Helmut Newton, von 1001 Nacht über die Viktorianischen Ausschweifungen bis zu den Satanischen Versen, denn wir wissen: Das ist keine Gefahr für die Freiheit der Kunst. Das ist eine gute Nachricht für die Freiheit der Menschen. Wie gesagt: Man kann sich an alles gewöhnen.


Evaluation

Wenn wir heutzutage ein Museum betreten, dann ist es im Moment sehr wahrscheinlich, dass wir uns eine männliche Interpretation der Welt anschauen – ganz egal, ob aus dem 18. Jahrhundert oder aus der Neuzeit.

Ja, da hat die Autorin vermutlich Recht. Aber würden wir es auch erkennen und aus dem konkreten Werk ablesen können? Ich bin dieser Frage zum ersten Mal vor 33 Jahren begegnet, als ich Mitarbeiter am Marburger Institut für Kirchenbau war. Das Institut hatte eine Ausstellung mit dem Titel „Die andere Eva. Wandlungen eines biblischen Frauenbildes“ zusammengestellt, die u.a. in der Kunsthalle Darmstadt, dem Gerhard Marcks Haus Bremen, dem Frauenmuseum Bonn, dem Diakonieverein Wehr-Öflingen und dem Kulturzentrum der Minoriten Graz gezeigt wurde. Und immer wieder traf ich auf Ausstellungsbesuchende, die sagten, man würde bei den Exponaten den männlichen vom weiblichen Blick unterscheiden können. Das ist natürlich einfach, wenn man vorher auf das Schildchen neben dem Bild geschaut hat oder die Künstlerin und ihre Handschrift vorab schon kennt (etwa bei Elvira Bach). Schwieriger ist es, wenn man – wie ich es dann in einigen Fällen bei meinen Ausstellungsbegehungen getan habe – die Schilder an den Artefakten vorher einfach mit einem weißen Blatt verdeckt. Dann muss man seinen Blick bewähren. Natürlich wird man bei Kunstwerken von Annegret Soltau einen spezifischen Blick notieren, bei Arbeiten von Valie Export ebenfalls. Und auf der anderen Seite scheint auch bei Kunstwerken von Johannes Grützke der Blick eindeutig männlich geprägt zu sein. Dann wird es aber auch schon schwieriger. Bei der Mehrzahl der Künstlerinnen und Künstler konnten die Besucherinnen und Besucher aus den Werken selbst das Geschlecht bzw. den Blick nicht erschließen. Das überrascht nicht. Und auch historisch ist es natürlich einfach, in Kenntnis des Geschlechts Urteile zu fällen.

Aber ist die Differenz der Darstellungen von „Judith und Holofernes“ durch Caravaggio und Artemisia Gentileschi wirklich konkret dem Geschlecht zuzuordnen? Oder interpretieren wir diese Differenz nur in die Bilder hinein? Und wie würde man das wissenschaftlich valide überprüfen? Zunächst einmal ist es nur eine These, die das aus dem Bild herausholt, was es bereits vorab in es hinein investiert hat. Das aber erklärt rein gar nichts. Man muss schon versuchen, aus dem Zirkelschluss herauszukommen. Im vorliegenden Fall wurde darauf zugunsten steiler Thesen verzichtet.


Verdammte Erinnerung III

Die Debatte über den Verdammungsakt in der Manchester Art Gallery geht immer weiter. Ich war mir erst unsicher, ob ich nun noch einen weiteren Artikel dazu schreibe, habe mich aber dazu entschieden, ihn einfach an den zweiten Artikel zum Thema anzuhängen.

Am 9. März 2018 erscheint bei ZEIT ONLINE ein Beitrag von Tomasz Kurianowicz, der unter dem Titel „Nicht Zensur, sondern Kritik“ die temporäre Abhängung des Kunstwerks verteidigt. Das ist sein gutes Recht und angesichts dessen, dass täglich tausendfach Kunstwerke in Museen aus für das Publikum undurchschaubaren Gründen abgehangen werden, ist es natürlich gut, wenn einmal Gründe genannt werden und man darüber diskutieren kann. Was mich an dem Artikel von Kurianowicz interessiert, ist aber ein Randaspekt, eine Art Freudscher Verschreiber, den ich aber für sehr aussagekräftig halte. Gleich am Anfang seines Artikels stellt Kurianowicz den Vorgang vor, deutet ihn als Angst vor dem Feminismus und schreibt dann:

Die Kuratorin Clare Gannaway begründete den Schritt mit einem ungewöhnlichen Argument: ‚Das Gemälde stellt den weiblichen Körper als passive, dekorative Form dar. Wir wollen diese viktorianische Fantasie anfechten.‘ Das Werk zeigt einen jungen Mann, nach dem eine junge, halbnackte Nymphe greift, die in einem Teich mit sechs weiteren Frauen badet.

Schon an dieser Stelle kann man sich fragen, ob der Autor und auch die von ihm zitierte Kuratorin die vom Künstler dargestellte Beziehungsdramatik auf dem Gemälde richtig erfassen. Der Künstler erfindet ja kein Geschehen, sondern setzt ein mythologisches Geschehen aus der Literaturgeschichte ins Bild um. Wer nur etwas von der Geschichte des Blicks in der abendländischen Kunst versteht, könnte und müsste zu ganz anderen Beschreibungen kommen. Die Kuratorin kann nur so urteilen, weil sie die dargestellten Frauen ihres Blicks beraubt und sich ganz auf den dargestellten Körper fokussiert. Damit eignet sie sich sozusagen den männlichen Blick an. Der Autor dagegen fokussiert sich scheinbar auf den Zugriff der jungen Frau. In Wirklichkeit, und wir werden gleich noch erfahren warum, wiederholt er sprachlich eine patriarchalische Geste, er stellt den Mann in den Vordergrund: „Das Werk zeigt einen jungen Mann ...“ Ist das so? Widerspricht das nicht dem Argument, der Mann sei nur Staffage, um nackte junge Frauen zu zeigen? Ich bezweifle, dass in der Bild-Blickkonstruktion der Fokus tatsächlich auf dem jungen Hylas liegt. Warum aber dann diese merkwürdige Beschreibung? Das wird deutlich, wenn man an das Ende des Artikels scrollt. Dort steht:

Anm. d. Verfassers: In einer vorherigen Version des Textes hieß es, dass der Jüngling auf dem Gemälde "Hylas und die Nymphen" nach einer Frau greift. Das ist nicht korrekt. Die dargestellte Nymphe greift nach dem Jüngling. Wir bitten den Fehler zu entschuldigen.

Das wirkt harmlos, ist es aber nicht. Deutlich wird, dass der Autor das Bild unter dem Vorurteil des #MeToo wahrgenommen hat. Er meinte wirklich, was er zunächst geschrieben hat.

Das Werk zeigt einen jungen Mann, der nach einer jungen, halbnackten Nymphe greift, die in einem Teich mit sechs weiteren Frauen badet.

So hat er das Bild wahrgenommen und seinen Artikel geschrieben. Seine sich auf das Bild beziehenden Auslegungen beruhen also auf einer Fehlwahrnehmung. Trotzdem meint der Verfasser, nach Aufdeckung des Tatbestandes brauche nichts am Text geändert werden als nur der beschreibende Satz. Das glaube ich nun nicht. Das ist das Problem der ganzen Debatte: Dass wir Darstellungen und Ereignisse nicht aus sich heraus, sondern unter Aspekten wahrnehmen, die aus ganz anderen Kontexten stammen. Im Verlauf seines Artikels zieht der Autor nämlich Texte von Literaturwissenschaftlerinnen und Philosophen zur Deutung und Auslegung heran, die auf seiner ursprünglichen Wahrnehmung basieren. Ihn interessiert, „in welcher Form die dort verborgenen Rollenmuster unser heutiges Geschlechterbild immer noch prägen“ und das heißt: „Der erobernde Mann, die sich unterwerfende Frau.“

Als dann plötzlich klar wird, dass dieses Rollengefüge im Bild gar nicht vorkommt, ja dass ein minderjähriger Junge von der in ihn verliebten Frau ergriffen und unterworfen wird, hat diese Erkenntnis für den Autoren keine wahrnehmbaren Folgen. Er setzt seine Argumentation völlig unbeirrt fort. Er meint:

Die Aktion war keine feministische Zensur, sondern ein performativer Akt: Das Bild sollte nur zeitweise verschwinden, damit ... eine Diskussion entsteht, ob Kunst, die klassische Rollenmuster zwischen Mann und Frau darstellt, wirklich in Museen gehört.

Er hätte seinen Artikel zurückziehen und überarbeiten müssen, weil er auf völlig falschen Grundannahmen beruhte. Aber wen kümmern schon die realen Kunstwerke und ihre Bildkonstruktionen? Wäre einem das aus der medienpädagogischen Arbeit nicht so vertraut, dass Menschen lieber an ihren Ideologien festhalten anstatt sie aufgrund ihrer Wahrnehmungen zu korrigieren, dann könnte man empört sein. So aber ist es die Bestätigung einer Regel, von der die korrekte Wahrnehmung eher die Ausnahme ist.

Dem Autor Kurianowicz geht es nun darum, eine Debatte anzustoßen und zwar

über die Frage, ob in den kanonischen Werken der westlichen Kultur, die uns unsere Ahnen hinterlassen haben, Elemente zu finden sind, die man aus heutiger Sicht als problematisch oder sogar als reaktionär bezeichnen dürfte.

Kennt er die kunstwissenschaftliche und kunstphilosophische Literatur der letzten 200 Jahre nicht? Noch niemals in der Geschichte der modernen Kunstkritik seit romantischen Zeiten war es ein Problem, darüber zu debattieren, ob in kanonischen Werken Elemente zu finden seien, die man als problematisch oder sogar als reaktionär bezeichnen müsste.

Ich erinnere nur an die Debatte um Overbecks „Triumph der Religion in den Künsten“, das damals zu  erheblichen Verwerfungen der Intellektuellenszene in Deutschland geführt hat und dennoch bis heute im Frankfurter Städel hängt. Was war denn Goethes Polemik über die „Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst“ anderes, als genau das: kanonische bzw. kanonisch werdende Kunst als reaktionär zu bezeichnen? Das Überdenken der bisher gültigen Paradigmen ist in die Geschichte der Kunstkritik tief eingeschrieben. Nur dass bisher – bis auf die Zeit des Nationalsozialismus – verlangt wurde, dass die Kritik auch einen Anhalt an der konkreten und sorgfältigen Werkbeobachtung hat. Der folgenlose Freud‘sche Verschreiber von Kurianowicz scheint mir aber anzudeuten, dass im Augenblick die Ideologie über die Wahrnehmung triumphiert. Und das ist nun wirklich besorgniserregend. Kurianowicz rubriziert den temporären Ikonoklasmus in Manchester unter

kritische Stimmen, die in den Artefakten unserer Geschichte Spuren erkennen, in denen sich das patriarchale Wertesystem ablesen lässt, an dem unsere Gesellschaft bis heute noch krankt.

Aber es ging in Manchester nicht um Stimmen – sondern um einen temporären Bildersturm. Es ging darum, dass die Kuratorin dem Publikum nun gerade nicht(!) zugebilligt hat, was Kurianowicz fordert:

Einem intelligenten Betrachter ... zuzutrauen, den Wert eines Kunstwerks von seinen diskursiv inhärenten, historisch gewachsenen Zeichen- und Wertesystemen zu trennen ...

Vielmehr hat die Kuratorin in einem päpstlichen Akt sondergleichen sich als Stellvertreter der Kunstgeschichte und des Kunstpublikums aufgeführt und sich angemaßt, dem Publikum/den Gläubigen den Blick auf das Werk und damit auf die wahrnehmungsorientierte Auseinandersetzung zu verwehren. Nur wenn man die privilegierte Kuratorin als Stellvertreterin des feministischen Publikums akzeptiert, ist das plausibel. Es würde aber bedeuten, dass sich im Feminismus die gleichen Herrschaftsmechanismen reproduzieren wie im Patriarchat, dass einige wenige über die Wahrnehmungen der anderen entscheiden. Ist es wirklich das, was gewollt ist?

Ich schlage also vor, dieselbe Diskussion an einem anderen Bild mit gleichem Sujet noch einmal durchzubuchstabieren. Das Bild stammt von 1909, es ist erkennbar dem viktorianischen Zeitalter zugeordnet. Nur: es stammt von einer Frau, einer, die viele weibliche Aktbilder geschaffen hat und die zugleich eine bekannte Feministin und Frauenrechtlerin war. Es handelt sich um Henrietta Rae und das Werk hängt in der Londoner Royal Academy:

Da bin ich gespannt auf die konkrete an der Wahrnehmung (und an der vergleichenden Wahrnehmung!) orientierte Diskussion dieses Werkes. Handelt es sich bei dem Werk dieser Künstlerin auch um eine Darstellung des weiblichen Körpers als passive, dekorative Form, oder nicht? Und woran macht man das in der Differenz zu dem Gemälde von Waterhouse fest? Oder geht es nur darum, dass das eine Bild von einem Mann und das andere von einer Frau gemacht wurde? Es ist klar, dass die Arbeit von Rae nicht ohne Kenntnis der 13 Jahr zuvor entstandenen Arbeit von Waterhouse entstanden ist. Aber was sehen wir in Anknüpfung und Widerspruch? Oder muss auch die Feministin Rae gewärtig sein, demnächst einem temporären Ikonoklasmus zum Opfer zu fallen? Das ist eine Debatte, die mich wirklich interessieren würde.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/112/am625.htm
© Andreas Mertin, 2018