Verdammte Erinnerung I

Über das Abhängen von Kunst in Zeiten verquerer Moral

Andreas Mertin

Als die Nationalsozialisten die angeblich „Entartete Kunst“ aus den Museen entfernten, hätten sie das auch als avancierte Kunstaktion zur Schaffung von Freiraum in den attackierten Museen etikettieren können. Denn so wurde Platz geschaffen, für all die andere, dem Geist der Zeiten angemessenere Kunst. Und es waren ja nicht wenige sich selbst als Künstler Bezeichnende an der Säuberung der Kunsttempel beteiligt.[1] Und natürlich ging es ihnen darum, das Publikum („das deutsche Volk“) vor dem Anblick einer „undeutschen“ Kunst zu bewahren, welche alle Kriterien menschenwürdiger Kunst mit Füßen trat. So jedenfalls argumentierten die Handlanger des Systems in ihren kunsttheoretischen Schriften.[2] Sie definierten, was für die Besucher zur Betrachtung geeignet war und was für die Deutschen schädlich war, und sorgten für klare Sichtweisen. Und es ist schon interessant, was sie dann dem Publikum als verdammenswerte Bilder vor Augen führten. Wolfgang Willrich montiert 1937 Ausschnitte von Werken von neun Künstlern auf einem Bild zusammen, um dem Publikum die Verderbtheit dieser zu demonstrieren. Und siehe: es sind sehr viele Nackte, die er präsentiert. Davor muss man das Publikum bewahren.

Ähnliche Gedanken hatte wohl auch eine Kuratorin der Manchester Art Gallery, als sie das folgende Kunstwerk entfernte:

"Dieses Museum präsentiert den weiblichen Körper als entweder 'passiv-dekorativ' oder 'femme fatale'. Lasst uns diese viktorianische Fantasie herausfordern!" schrieb die Kuratorin Clare Gannaway von der Manchester Art Gallery und sah die Aktion als produktiven Beitrag zur #MeToo-Debatte. Das ist interessant. Zum einen wäre dann eigentlich weniger das konkrete Bild, als vielmehr das eigene Museum Gegenstand der Kritik gewesen. Dann hätte man das Bild aber hängen lassen und bloß kritisch kommentieren können und sich stattessen mit der Sammlungspolitik der Manchester Art Gallery auseinander setzen  müssen. So aber wendet sich der ikonoklastische Akt wortwörtlich exklusiv gegen das Bild selbst, welches (zumindest temporär) der Wahrnehmung des Publikums entzogen wird.

Der Maler des Bildes ist John William Waterhouse (1849-1917), der dem Realismus wie auch den Praeraffaeliten zugerechnet wird. Julia Voss hat in der FAZ vor einigen Jahren auf die ambivalente Reaktion des Publikums auf die Bilder von Waterhouse verwiesen und dann bilanziert: „Der 1847 in Rom geborene Maler hatte eine Welt geschaffen, die sich weder dem Phantastischen noch der Wirklichkeit zuordnen ließ. In seiner Malerei erhielten Hexen, Mischwesen und Märchenfiguren ein neues Zuhause. Er war ein Meister darin, dem Außerordentlichen eine beiläufige, selbstverständliche Gestalt zu geben.“[3]

Nun geht es der britischen Kuratorin weniger um die praeraffaelitische Kunst als vielmehr grundsätzlich um die Darstellung des nackten weiblichen Körpers. Dafür scheint mir die Wahl von Waterhouse außerordentlich fraglich zu sein. Einmal angenommen, man wollte mit dem Publikum tatsächlich über die Darstellung des nackten weiblichen Körpers in der Kunst reden, so wie dies John Berger in seinem Buch „Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt“[4] zur BBC-Serie „Ways of Seeing“ schon vor 46 Jahren getan hat, dann hätten sich in der Manchester Art Gallery doch ganz andere Werke angeboten. Dort hängen Werke des romantischen Malers William Etty (1787-1849), der insbesondere für seine Akt-Darstellungen bekannt ist. Warum also nicht ein Hauptwerk des Museums verhängen, Ettys „Odysseus und die Sirenen“ von 1837, ein Öl-Schinken mit den veritablen Maßen von 442x297 cm?[5]

Das wäre ein veritabler ikonoklastischer Akt gewesen, ein Bild, das gerade aufwendig restauriert worden war, nachdem es lange nicht gezeigt werden konnte, nun dem Blick des Publikums zu entziehen, weil Etty statt der seit der Antike üblichen Vogelgestalten für die Sirenen ein Akt-Model verwendet hat. Aber dann hätte man konsequent an derselben Museumswand gleich alle Bilder verhängen müssen.[6]

Warum also ausgerechnet Waterhouse? Weil man sein Bild verschmerzen konnte? Das mag sein. Es geschah jedenfalls nicht, weil bei ihm die Frauen passiver oder aktiver dargestellt werden als bei anderen Künstlern des Museums. Und er ist schon gar nicht ein Zeuge für die viktorianischen Ausschweifungen.[7] Was traf den Nerv der Kuratorin, dass sie dieses Bild auswählte?

Kritisch sehen kann man die Nacktheit der Quellnymphen doch allenfalls, wenn man von der dargestellten Geschichte absieht und visuell an den nackten Frauenoberkörpern hängenbleibt. Zwar passt #MeToo ganz entfernt zu diesem Bild, aber nicht in dem Sinne, der der Kuratorin vorschwebt. Der Betrachter soll nach Aussage der Kuratorin bewahrt werden vor der Darstellung „passiv-dekorativer“ Frauen oder von „femme fatales“. Das ‚anstößige‘ Bild trägt den Titel „Hylas und die Nymphen“. Bevor ich der dargestellten Geschichte/Mythologie nachgehe, noch ein Blick auf die Kunst, die bei gleichen Kriterien auch entfernt werden müsste:

Das wird die Kuratorin doch nicht wollen? Vielleicht wollte sie nur ein keckes ästhetisches Experiment durchführen – wahrnehmbar machen, was der Entzug mancher erotischer Bilder für den Museumsbesucher bedeutet. Solche Experimente machen durchaus Sinn. Manchmal ist uns etwas so vertraut, dass wir den Entzug brauchen, um uns die Bedeutung wieder ins Bewusstsein zu holen. Die traditionelle katholische Verhängung von Bildern in der Passionszeit wirkt in diese Richtung. Die Verhängung der Bilder mit Vorhängen war ja auch in den Niederlanden des Goldenen Zeitalters nicht unüblich und mancher Bildbesitzer hatte seine Freude daran, den überraschten Gästen sein neuestes Bild hinter dem Vorhang zu präsentieren.

Manchmal werden Bilder auch kunstvoll verborgen, damit man etwa einen Akt umso effektvoller präsentieren kann. Im Film „Goya in Bordeaux“ von Carlos Saura gibt es eine kurze Szene mit der bekleideten und der nackten Maya, die nach diesem Schema aufgebaut ist.

Es kann aber sein – und das ist leider wahrscheinlicher -, dass die Kuratorin gar nicht ästhetisch, kunstwissenschaftlich oder künstlerisch argumentieren wollte, sondern simpel moralisch, um nicht zu sagen: moralin. Sie entzieht als Aufklärerin den Besuchern als Aufzuklärenden den Gegenstand der Beanstandung. Der Besucher soll keine eigenen Erfahrungen mit dem Bild machen, diese sollen ihm erspart bleiben. Ein bisschen erinnert das an Odysseus, der seiner Mannschaft die Ohren mit Wachs verstopfen lässt, selbst aber dem Gesang der Sirenen lauscht. De facto ist es eine Form von Erziehungsdiktatur. Aber hier geht es nicht um schulische Kontexte, sondern um ein Kunstmuseum, in dem die Bürger sich Werke aus der Geschichte der Kunst anschauen und in dem nun Museumsvertreter den Zugang reglementieren, nicht, weil die Werke künstlerisch schlecht sind, sondern weil sie ihnen moralisch anstößig erscheinen. Das ist schon fragwürdig.

Lassen wir das leidige Nackt/Akt-Thema einmal beiseite, wie ist es dann mit der Darstellung von Gewalt? Können wir es den Besuchern unserer Museen noch zumuten, sich das Leiden der Opfer anzuschauen? In Guernica, um ein extremes Beispiel zu nehmen, werden die Verbrecher ja nur in den Opfern kenntlich. Ist es legitim, den Opferstatus der in Guernica Vernichteten auf Dauer zu stellen, indem man sie bloß als passive Opfer darstellt? Was ist mit Judith und Holofernes? Zählt das zur Kategorie der Femmes Fatales? Bleiben so nicht am Ende nur die harmlosen, sozusagen züchtigen Darstellungen der christlichen Kunstgeschichte übrig, während die Werke des Humanismus, der ja nicht zuletzt den Akt entdeckt, dem neuen Rigorismus zum Opfer fallen dürften?

Hylas – Der Mythos

Apropos Opfer. Es lohnt sich, einen Blick auf den Kontext der dargestellten Geschichte zu werfen. Folgen wir dem von Philostrat skizzierten griechischen Mythos, dann ist – zumindest nach modernem Verständnis - Hylas zunächst einmal ein Opfer von (päderastischer) Gewalt. Er ist der Lustknabe des Herakles, dem es nun auch noch widerfährt, von einer Quellnymphe aus erotischem Interesse entführt zu werden. Die Geschichte geht so: Herakles war einst auf den Vater des Hylas gestoßen, es hatte eine Auseinandersetzung gegeben, weil Herakles Hunger hatte und Hylas Vater ihm keinen Stier zur Nahrung überlassen wollte. Der Vater wird getötet und bevor es zu weiteren Schlachten kommt, führt man den Knaben Hylas dem Herakles zu. Der behält den Jungen und macht ihn zu seinem „Liebling“. So etwas gehört zur Geschichte des #MeToo!

Ein kurzer Blick in die Visualisierungen der Herakles und Hyla-Geschichte zeigt, dass dieses Motiv ein bevorzugtes der Gay-Community ist. Es gibt zahlreiche Fotoinszenierungen, die die beiden nachstellen, ohne über das Alter des Hylas und die konkreten Machtverhältnisse nachzudenken. Das aber ist nicht der Kritikpunkt der Kuratorin. Sie zielt auf einen anderen Moment der Geschichte.

Während der Argonautenepisode geht Herakles kurz auf die Suche nach Holz für ein Ruder, während Hylas Wasser schöpfen will. Was er nicht weiß, ist, dass die Göttin Hera, die Herakles nicht wohlgesonnen ist, beschlossen hat, diesem seinen Knaben wegzunehmen und ihn einer Nymphe versprochen hat. Und so geschieht es: Die Nymphe des Quells, an den Hylas kommt, entbrennt in Liebe zu dem Knaben, will ihn küssen und zieht ihn zu ihrer Grotte hinab. Angeblich, so verkündet es später Glaukos, sei Hylas danach der Gemahl der Nymphe geworden.

Auf einem anderen Bild von Waterhouse wird die Szene etwas textgetreuer dargestellt. Klar ist aber nun auch, nicht die Quellnymphe ist die Femme Fatale, sondern eigentlich Hera, die aber auf den Bildern nicht dargestellt wird. Der Begriff des „passiv-dekorativen“ trifft zwar etwas, insofern Waterhouse die Frauen mit ihren Blicken klischeehaft immer wie unsichere Backfische darstellt, aber das dürfte kaum einen ikonoklastischen Akt begründen. So wird man davon ausgehen müssen, dass nicht die Darstellung der Frauen in ihrem Habitus, sondern schlicht als Akt im Fokus der Kritik liegt. Das ordnet sich ein in eine seit längerem erhobene Forderung, alles Anstößige aus der Kultur zu entfernen. Diese Forderung ist aber eine durch und durch reaktionäre. Sie ist ein abschreckendes Beispiel für eine in ihr Gegenteil umschlagende Political Correctnes. Korrekt ist es ganz und gar nicht, Dokumente einer Epoche aus dem Museum(!) zu entfernen, denn das ist genau der Ort, an dem über Kunstformen und Bildinhalte nachgedacht wird. Und selbst wenn die unterstellte Misogynie zutreffen würde, wäre das Museum der Ort, es zu zeigen und zu erörtern. Nur dass dies gerade am konkreten Objekt schwerfallen dürfte.

Die Reaktionen des Publikums auf Twitter

Überaus beeindruckend klar sind die Stellungnahmen der Menschen auf Twitter. Sie sehen sofort die Parallele zum Handeln der Nationalsozialisten: „This is so close to censorship, and so close to fascism and the ‚degenerate art‘“ schreibt einer. Und mehrere verweisen darauf, dass etwas zu einer Kunstaktion zu machen, noch nicht vor der inhaltlichen Auseinandersetzung schützt. Es sei ein puritanischer Feminismus, der sich hier zeige. Und so betonen sie, dass derartige Vorgänge mehr mit dem Viktorianismus verwandt sind, als denen, die ihn angeblich bekämpfen wollen, bewusst ist. Die Proteste werden vielleicht nicht viel helfen, aber es beruhigt einen doch in Zeiten, in denen sonst auf Twitter und Co. die Unvernunft sich frei austobt. Das Museum aber wird sich die erregte Debatte nicht als Erfolg anschreiben lassen können (und dürfen). Ganz im Gegenteil. Es hat ein Tabu­bruch mitten in einer demokratischen Kultur vollzogen, denn es ist ohne Not in die Fußstapfen jener Museums­säu­berer getreten, die schon einmal eine ganze Kultur in den Abgrund gerissen haben.


Reaktionäre

Aber auch die Reaktionäre unserer Gesellschaft haben keinen Grund zu triumphieren und große Empörung zu zeigen, weil eine Verfechterin einer vorgeblichen Political Correctnes leicht erkennbar etwas Falsches getan hat.

Die Reaktionäre, die selbst bei jeder Gelegenheit gegen moderne Kunstwerke hetzen (wir erinnern uns alle an den Protest gegen die aufgestellten Busse von Manaf Halbounivor der Dresdner Frauenkirche[8] oder gegen das Flüchtlingsdenkmal von Olu Oguibe auf dem Kasseler Königsplatz[9]), haben den geringsten Grund, nun scheinbar für die Kunst einzutreten.

Noch kürzlich konnte ein AfD-Bundestags-Abgeordneter das Wort Kunst nicht einmal ohne Anführungsstriche schreiben und drohte dem Zentrum für politische Schönheit[10] mit einer Machete.

Das sind die ungeeignetsten und schlechtesten Verteidiger der abendländischen Kunst und Kultur.

Mit Waterhouse haben sie so viel gemein wie mit der freiheitlichen Demokratie.



Anmerkungen

[1]    Willrich, Wolfgang (1937): Säuberung des Kunsttempels. Eine kunstpolitische Kampfschrift zur Gesundung deutscher Kunst im Geiste nordischer Art. München: J.F. Lehmann.

[2]    Eberlein, Kurt Karl (1933): Was ist Deutsch in der deutschen Kunst? Leipzig: E. A. Seemann. Wendland, Winfried (1930): Nationalsozialismus und Kunst. Berlin: Kampf-Verlag (Die grünen Hefte der "NS-Briefe", 4). Wendland, Winfried (1934): Kunst und Nation. Ziel und Wege der Kunst im neuen Deutschland. Berlin: Hobbing. Willrich, Wolfgang (1934): Kunst und Volksgesundheit. [S.l.: s.n.] (Schriftenreihe des Reichsausschusses für Volksgesundheitsdienst, 7).

[4]    Berger, John (2005): Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt. Unter Mitarbeit von Sven Blomberg, Chris Fox, Michael Dibb und Richard Hollis. 16. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl (16868).

[7]    Walter (1997): Viktorianische Ausschweifungen: Eichborn (Die Andere Bibliothek, 24).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/112/am622.htm
© Andreas Mertin, 2018