„Das ist eine Art, zu Gott zurückzufinden ...“

Gerhard Richters Projekt in Münster führt zu merkwürdigen Irritationen
im Dreieck von (katholischer) Kirche, Museum und Kunst

Andreas Mertin

»Das wird nicht genügen«, sagte Belbo. »Sie werden sich auch woanders umsehen müssen. Zum Beispiel in München, da gibt es im Deutschen Museum ein phantastisches Bildarchiv. Dann in Paris im Conservatoire des Arts et Métiers. Da würde ich gerne mal wieder hin, wenn ich Zeit hätte.« »Ist es schön?« »Beunruhigend. Der Triumph der Maschine in einer gotischen Kirche ...« Er zögerte, ordnete einige Papiere auf seinem Schreibtisch und sagte dann wie nebenbei, als fürchtete er, seiner Enthüllung zuviel Nachdruck zu geben: »Da ist das Pendel.« »Welches Pendel«? »Das Pendel. Es nennt sich Foucaultsches Pendel.« Er schilderte mir das Pendel, so wie ich es am Samstag gesehen hatte und vielleicht hatte ich es am Samstag so gesehen, weil Belbo mich auf den Anblick vorbereitet hatte. Aber damals zeigte ich wohl nicht allzuviel Enthusiasmus, denn Belbo sah mich an wie einen, der angesichts der Sixtinischen Kapelle fragt, ob das alles sei. »Es ist vielleicht die Atmosphäre der Kirche, aber ich versichere Ihnen, man hat dort ein sehr starkes Gefühl. Der Gedanke, daß alles fließt und nur dort oben der einzige feste Punkt des Universums existiert ... Für einen, der keinen Glauben hat, ist das eine Art, zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit in Frage zu stellen, denn es handelt sich um einen Nullpol.“[1]

An diesen Text aus dem Roman von Umberto Eco wurde ich schmerzlich erinnert, als ich die erregten katholischen Kritiken zu der für 2018 geplanten Kunst-Installation eines Foucaultschen Pendels durch Gerhard Richter in der Dominikanerkirche in Münster verfolgte. Ein sicher überaus spektakuläres Kunstprojekt, das nicht zuletzt viele historische Querverweise hat.

Das Foucaultsche Pendel

Das Foucaultsche Pendel bildet den vorläufigen Endpunkt einer Debatte zwischen Naturwissenschaftlern und Vertretern der Kirche, die um das geozentrische und das heliozentrische Weltbild kreiste. Mit dem Pendel gelang der endgültige Nachweis der Erdrotation, die vorher schon bekannt, aber noch nicht augenfällig nachgewiesen war. Anfang 1851 führte der Physiker Léon Foucault im Keller seines Hauses einen Versuch durch, bei dem er ein zwei Meter langes Pendel dicht über dem Boden schwingen ließ und seine Bahn genau markierte. Er fand heraus, dass die Schwingungsebene des Pendels sich langsam drehte. Die Schwerkraft wirkt nur senkrecht und kann diese Drehung nicht verursachen. Da keine weitere äußere Kraft auf das Pendel einwirkte, war es nicht das Pendel, sondern der Boden (also die Erde), der seine Richtung änderte.

Am 3. Februar 1851 führte Foucault den Versuch in der Pariser Sternwarte mit einem 12 Meter langen Pendel und am 26. März 1851 im Panthéon mit einem 67 Meter langen Pendel mit einem 28 Kilogramm schweren und 60 Zentimeter Durchmesser umfassenden Pendelkörper der Öffentlichkeit vor. Am unteren Ende des Pendelkörpers befand sich eine Spitze, die mit jeder Schwingung eine Spur in einem Sandbett auf dem Fußboden markierte. Dies war ein laientauglicher und daher aufsehenerregender Nachweis der Erdrotation. Seither wird dieser Versuch foucaultscher Pendelversuch genannt.[2]

Nachdem Foucault seinen Versuch öffentlich im Pantheon durchgeführt hatte, wurde dieser in der Folge an vielen Orten (und auch in vielen Kirchen) der Welt nachgestellt.

Allein für Deutschland verzeichnet die aktuelle Liste der Versuche 19 Orte.[3] Und vermutlich ist diese Liste nicht einmal komplett. Wahrscheinlich ist der Versuch so faszinierend, dass er immer wieder zur Wiederholung herausfordert.

Das Foucaultsche Pendel und die Kirche(n)

Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man die Haltung der Kirche(n) zum Foucaultschen Pendel auf die Zeit um 1851 fokussieren würde. 1851 war, wie oben bereits angedeutet, der Streit in der Sache längst entschieden, es ging ‚nur‘ noch um den Augenschein. Die Sache selbst aber war der Streit um das heliozentrische Weltbild, namentlich um die Überlegungen von Kopernikus, datiert also in das 16. Jahrhundert. Und damals gab es tatsächlich Konflikte mit der Vorstellung, nicht das vertraute geozentrische Weltbild sei zutreffend, sondern das heliozentrische. Zu sehr schienen einfache Überlegungen wie auch religiöse Überzeugungen dagegen zu sprechen. Das führte zu einigen Auseinandersetzungen. Aber man muss eben auch sagen, dass das Verhältnis der Kirchen bzw. der Theologen zu den Naturwissenschaften bis in die Gegenwart von allerlei Mythen überlagert ist. So einfach, wie manche meinen, waren die Fronten nicht verteilt.

Unbestritten gab und gibt es religiöse, in der Regel biblizistische Einwände gegen die Naturwissenschaften, die aber oft schlicht auf den Satz hinauslaufen, die Naturwissenschaften könnten nicht als Fakt darlegen, was den biblischen Lehren widerspricht. Wenn man also aus Josua 10, 12-13 ableitet, die Sonne müsse(!) sich um die Erde drehen, dann konnten Naturwissenschaftler nicht das Gegenteil behaupten. Nur hat es diese Eindeutigkeit einer kirchlichen Haltung nie gegeben. Nicht nur, weil die Kirche selbst oft Motor wissenschaftlicher Erkenntnis war, sondern auch, weil das zugrundeliegende, sozusagen monolithische Modell von Kirche zu simpel ist. Die Kirche ist immer ein Komplex mit widerstreitenden Perspektiven gewesen, auch in dieser Frage. Es gab verschiedene Fraktionen, die sich in solchen Fragen artikulierten. Gegen das heliozentrische Weltbild forderte der Orden der Dominikaner ein Lehrverbot, das sie aber zunächst nicht durchsetzen konnten. Der Konflikt spitzte sich erst in der Auseinandersetzung um die Lehre Galileos zu. Und hier zeigte sich die Kirche zunächst ziemlich unaufgeklärt. Jenseits einiger im Gefolge von Paul Feyerabend vorgetragenen[4] und von konservativen Katholiken begeistert aufgenommenen Spitzfindigkeiten[5] (als wenn die Kurie Einsteins Relativitätstheorie vorweggeahnt hätte), muss mit Johannes Paul II. festgehalten werden:

"Galilei, der praktisch die experimentelle Methode erfunden hat, hat dank seiner genialen Vorstellungskraft als Physiker und auf verschiedene Gründe gestützt verstanden, dass nur die Sonne als Zentrum der Welt, wie sie damals bekannt war, ... infrage kam. Der Irrtum der Theologen von damals bestand dagegen am Festhalten an der Zentralstellung der Erde in der Vorstellung, unsere Kenntnis der Strukturen der physischen Welt wäre irgendwie vom Wortsinn der Heiligen Schrift gefordert. ... Tatsächlich beschäftigt sich die Bibel nicht mit den Einzelheiten der physischen Welt, deren Kenntnis der Erfahrung und dem Nachdenken des Menschen anvertraut wird."[6]

Die Verurteilung von Galilei ist kein Ruhmesblatt der Kirche. Seine Rehabilitation kam eindeutig zu spät, sie wäre bereits im 19. Jahrhundert fällig gewesen.


Exkurs: Luther und das heliozentrische Weltbild

Nicht nur bei reaktionären Publizisten wie Paul Badde[7] findet man das Argument, auch die Reformatoren hätten das heliozentrische Weltbild nicht nur abgelehnt, sondern auch dessen Verbreitung konsequent unterbunden. Nun hat man schon das Problem, erklären zu müssen, warum die entscheidende Schrift von Kopernikus ausgerechnet von Lutheranern gedruckt wurde. Tatsächlich handelt es sich aber bei dieser Darstellung des reformatorischen Widerstands gegen das heliozentrische Weltbild um eine „handgreifliche Geschichtslüge“ wie der Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert unter Bezug auf Werner Elert schreibt.[8] Kopernikus kommt in Luthers Schriften nicht vor, das Einzige, was es gibt, ist ein Kommentar während eines Mittagsessens, als jemand auf die neue Lehre zu sprechen kommt, und Luther darauf reagiert. Sein Kommentar ist zudem auch noch falsch überliefert worden, als Narren hat er Kopernikus nie bezeichnet. Man wird die Haltung Luthers eher als desinteressiert beschreiben können.


Mit dem Foucaultschen Pendel aber waren all diese Fragen obsolet geworden. Mit der öffentlichen Vorführung im Pariser Pantheon mussten sich die (kirchlichen) Kritiker geschlagen geben.

Die Dominikanerkirche in Münster

Die Kirche wurde in den Jahren 1708 bis 1725 nach Entwürfen des Architekten Lambert Friedrich Corfey erbaut. Nach der Ausstattung wurde sie 1728 konsekriert und dem Patrozinium des hl. Josef unterstellt. Sie diente bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Konventskirche der Dominikaner in Münster. Im Zuge der Säkularisation wurde das Dominikanerkloster 1811 aufgehoben. Die Klosteranlage ging in staatlichen / städtischen Besitz über, die Kirche wurde ab 1826 für militärische Zwecke genutzt. 1880 erwarb die Stadt Münster die Kirche und nutzte sie ab 1889 als Schulkirche für das städtische Realgymnasium. Nach weitgehender Zerstörung während des Zweiten Weltkrieges zog sich der Wiederaufbau der Kirche bis zum Jahr 1974 hin. Auf dem ehemaligen Klostergelände errichtete das Land Nordrhein-Westfalen ... 1959 das Behördenhaus am Alten Steinweg, das ursprünglich an den Sandsteingiebel des Klosters anschließen sollte. Da dort ein Straßendurchbruch vorgesehen war, der nicht durchgeführt wurde, blieb der Klostergiebel nur als Ruine erhalten. Mit der Wiedererrichtung der Kuppel konnte erst 1961 begonnen werden. Später wurde die Kirche von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität verwaltet und maßgeblich von der katholischen Universitätsgemeinde genutzt, die dort ihre sonntäglichen Gottesdienste feierte. Am 12. November 2017 wurde die Kirche durch Weihbischof Stefan Zekorn profaniert.[9]

Das Foucaultsche Pendel in Kirchen

Die bereits erwähnte Liste in der englischsprachigen Wikipedia verzeichnet nun einige Kirchengebäude und Tempel, in denen das Foucaultsche Pendel platziert wurde. Auch mir persönlich ist das Foucaultsche Pendel zuerst in einer Kirche begegnet – in San Petronio in Bologna. Man kann über die Gründe nachdenken. Einer ist sicher, dass vor allem Kirchengebäude die erforderliche Raumhöhe auf­weisen, mit der sich das Pendel effektvoll inszenieren lässt.

Zum anderen, auch das scheint evident, gilt das, was Umberto Eco so beschreibt:

„Es ist vielleicht die Atmosphäre der Kirche, aber ich versichere Ihnen, man hat dort ein sehr starkes Gefühl. Der Gedanke, dass alles fließt und nur dort oben der einzige feste Punkt des Universums existiert“[10]

M.a.W. es ist das Zusammentreffen von Kirchengebäude, seiner spezifischen Atmosphäre und dem Schwingen des Pendels und seiner vergegenwärtigten Bedeutung, welche zusammen die Faszination ausmachen.

Dieses Gefühl könnte sich auch in einem alten Rathaus einstellen, in einem ehrwürdigen Universitätsgebäude, einer Sternwarte oder einem sonst irgendwie mit Bedeutung aufgeladenen Bauwerk.

Aber vermutlich nur in einer Kirche kann jener überraschende Effekt entstehen, den Umberto Eco in seinem Roman so skizziert hat:

„Für einen, der keinen Glauben hat, ist das eine Art, zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit in Frage zu stellen, denn es handelt sich um einen Nullpol.“[11]

Das sollte man immer im Hinterkopf haben, wenn man über Kunstprojekte oder auch Installationen des Foucaultschen Pendels in Kirchen nachdenkt. Sie beinhalten immer die Möglichkeit „zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit in Frage zu stellen.“ Es geht, so könnte man es auch deuten, um die „Verwandlung der Welt in Seele und Geist durch die von Sehnsucht nach dem Unendlichen bewegte Phantasie“ von der Friedrich Schlegel nach Manfred Frank spricht.[12] Selbst wenn man ein Atheist wäre und bliebe, so wäre die Erfahrung des Pendels in einem ursprünglich religiösen Kontext immer auch eine intellektuelle In-Frage-Stellung für den Betrachter.

Gerhard Richter und das Foucaultsche Pendel

Dies alles muss man voraussetzen, um nun auf das konkrete Projekt von Gerhard Richter in Münster zu sprechen zu kommen. Dem Vernehmen nach war Gerhard Richter nach dem Besuch des Deutschen Museums in München und des Pantheon in Paris so fasziniert von diesem Experiment, dass er sich seit zehn Jahren mit dem Gedanken trug, selbst etwas Ähnliches und nun in einer Gerhard-Richter-Installation zu realisieren. Beim Besuch der Skulptur Münster sprach ihn Kaspar König, der davon wusste, konkret darauf an und bot ihm an, diesen Traum in Münster zu realisieren. Er bot ihm zunächst den alten Gasometer[13] an, der aber zahlreiche Nachteile hat. Und dann kam das Gespräch auf die städtische Dominikanerkirche. Und das ist nun tatsächlich eine reizvolle Idee und das nicht nur, weil der Orden der Dominikaner einmal versucht hat, die Lehre vom heliozentrischen Weltbild verbieten zu lassen. Sie ist auch deshalb reizvoll, weil das Musée des Arts et Métiers ja ebenfalls eine frühere Kirche in nun staatlicher Verwaltung ist. Da ergeben sich interessante Bezüge.

Blickt man nun auf den Grundriss der Dominikanerkirche, er­gibt sich eine fast schon zwingende Logik für die Platzierung des Pendels. Man kann sagen: Es gibt eigentlich keine Alternative. Richter beabsichtigt nun, das Pendel in einen Kontext verschiedener großformatiger Arbeiten von ihm einzubetten, die so angebracht sind, dass sich Pendel und Besucher in ihnen spiegeln. Da der Wahrnehmungsprozess des Pendels ein langsamer sei, gehe es nach Richter nicht um einen schnellen beiläufigen Kunstgenuss oder gar nur um Unterhaltung, sondern eher um einen meditativen Vorgang. Man wird quasi eingeladen, über das Große und Ganze, über die Zusammenhänge der Welt nachzudenken. Und das geschieht nicht belehrend, nicht dozierend, sondern evidenz-, sinnen- und erfahrungsorientiert. Man kann fragen, ob es Richter gelingen wird, aus der bloßen Präsentation des Foucaultschen Pendels ein richtiges Gerhard-Richter-Kunstwerk zu machen, dessen Erfahrung nicht von der Erfahrung des Pendelexperiments an den Rand gedrängt, um nicht zu sagen erschlagen wird. Aber das muss man abwarten und konkret experimentell erkunden. Hier darf man Gerhard Richter so viel künstlerische Erfahrung zutrauen, dass er diese Herausforderung bewältigt. Und es wird ein theo-ästhetisches Experiment sein, wenn man Umberto Eco glauben darf: „Für einen, der keinen Glauben hat, ist das eine Art, zu Gott zurückzufinden, ohne dabei die eigene Ungläubigkeit in Frage zu stellen ....“

Die (katholische) Kritik am Vorhaben in Münster

Nun könnte man ganz unbefangen zunächst davon ausgehen, dass alle ganz glücklich darüber sind, dass den Kuratoren ein derartig spektakulärer Coup in und für Münster gelungen ist. Suchet der Stadt Bestes ermahnt Jeremia die Gläubigen und man wird nicht fehlgehen, dass das Foucaultsche Pendel von Gerhard Richter der Dominikanerkirche eine Aufmerksamkeit wird zukommen lassen, die ihr im Verlaufe der Geschichte bisher nicht vergönnt war. Ich bin ein regelmäßiger Besucher der Domstadt, weil ich in der Nähe wohne und ein Teil meiner Vorfahren aus dem Münsterland kommt, aber zugegebenermaßen war ich in den letzten 50 Jahren in allen Innenstadtkirchen, aber in der Dominikanerkirche noch nie. Das muss Gründe haben, die jenseits des Zufalls liegen. Ich weiß genau wo die Kirche liegt, gehe auf dem Weg vom Bahnhof in der Regel dort auch vorbei, aber betreten habe ich sie meiner Erinnerung nach nicht. Das wird sich mit Gerhard Richters Kunstwerk ganz sicher ändern. Aber ich muss zugeben, bisher hatte ich keine persönliche Bindung an dieses Gebäude und diesen Raum. Das ist bei einigen Münsteranern, insbesondere bei der katholischen Fakultät natürlich anders. Für sie war die Dominikanerkirche ihre Universitätskirche, die man ihnen nun „weggenommen“ hat. Ich kann ihren Schmerz verstehen. Zum einen sind sie keine Reformierte, sie haben vielmehr eine besondere Bindung an den Raum. Zum anderen leben sie seit der Säkularisierung und vor allem seitdem die Stadt Münster die Dominikanerkirche erworben hat, in einem Status der Vorläufigkeit, sind nur Gast im Gebäude, und dieser Status (dieses Asyl) ist nun letztlich Knall auf Fall beendet worden.[14] Das tut weh. Aber ist es zu viel verlangt, dass man trotz dieses Verlustschmerzes mit Argumenten seine Anliegen vertritt? Dass man nun nicht rhetorisch wild um sich schlägt und irgendwelche Sätze des Künstlers aufgreift, nur weil sie scheinbar zu den eigenen Interessen passen. Wäre die Sache denn besser, wenn Richter die Sätze nicht gesagt hätte und das Kunstwerk dennoch platziert worden wäre? Nein, das wäre es nicht.

Und ist es unangemessen, von Universitätsprofessoren einer geisteswissenschaftlichen Fakultät zu verlangen, dass sie zwischen einem Kunstwerk und den eher beiläufigen Äußerungen des Künstlers unterscheiden? Wenn man zum Beispiel Wassily Kandinskys spekulativen Äußerungen zu seiner Kunst nicht folgen will, entwertet das doch seine Kunst nicht! Auch einem Professor einer katholischen Fakultät sollte doch klar sein, dass, auch wenn wir Benvenuto Cellini moralisch aufs Schärfste verurteilen für das was er gesagt und vor allem getan hat, seine Kunst dennoch ohne Zweifel einzigartig ist. Und was für Cellini recht ist, sollte für Richter billig sein.

Mit anderen Worten, wenn einen das Verhalten der Stadt Münster stört, sollte man nicht über den Künstler schimpfen. Und wenn einen der Künstler stört, sollte man über seine Kunst reden. Nur in einer völlig verqueren Mediengesellschaft verzichten wir auf die Sachauseinandersetzung und klauben uns lieber beiläufige (und ja auch notwendig zusammengeschnittene) Äußerungen aus einem Fernsehinterview heraus, um den Künstler für sein Projekt anzugehen. Nein, das sollten wir den katholischen Kollegen nicht durchgehen lassen. Die beiden Äußerungen, die Richter in dem kurzen Fernsehstatement äußert, und die die Kollegen nun so aufregen, sind nicht nur harmlos und aus der Sache heraus gut zu erklären, sie sind zudem im Blick auf sein Kunstwerk absolute Nebenschauplätze, sie gehören erkennbar nicht zur Konzeption des Werkes. Wie überliefert wird, wurden nachdem Richter sein Interesse bekundet hatte, sein Foucaultsches Pendel in Münster zur realisieren, ihm verschiedene Gebäude in Münster angeboten und erst dabei entschied er sich für die städtische Dominikanerkirche. Das schließt aber aus, dass die Kirche sozusagen werkkonstitutiv ist.

Richters Bemerkung, hier zeige sich der Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche, ist ja nicht irgendeine persönliche Skurrilität, sondern Ergebnis des europäischen Erkenntnisprozesses. Erkennbar bezieht sich Richters Bemerkung auf den komplexen Prozess seit Kopernikus – und nicht nur auf Foucault und sein Pendel. In diesem Sinne lässt Umberto Eco in der einleitend zitierten Sequenz Belbo sagen: „Der Triumph der Maschine in einer gotischen Kirche ...“. Zugegeben – bei Eco ist es etwas ambivalenter formuliert als es bei Richter zum Ausdruck kommt, aber in der Sache sagen beide dasselbe (nur dass die Dominikanerkirche keine gotische Kirche ist). Es gab einen Konflikt zwischen den Protagonisten des heliozentrischen Weltbildes und Funktionären der katholischen Kirche. Und dieser Konflikt wurde langfristig zugunsten des heliozentrischen Weltbildes entschieden. Die Worte von Johannes Paul II. zeigen das deutlich.

Und die Bemerkung mit dem Altar ist natürlich ironisch pointiert, weil sie den wahren Grund [die notwendige Raumhöhe, die an dieser Stelle erreicht wird] verschweigt. Hier löckt Richter etwas gegen den in der Fragestellung des Reporters erkennbaren Stachel, der ja explizit am Verletzungspotential interessiert war. Es ist dabei ganz interessant, dass dem Interviewer die elementare Veränderung des Altars in Folge des II. Vatikanums gar nicht bewusst scheint, dabei lässt sie sich leicht aus dem Grundriss der Kirche herauslesen.[15] Aber selbst wenn man sich nun auf den Volksaltar beziehen würde, sind die Ansichten darüber durchaus verschieden. Denn keinesfalls ist für „Christen“ der Altar das Zentrum der Kirche – das ist und bleibt für alle Christen Jesus Christus. Das wissen auch die Kollegen der katholischen Fakultät – aber sie wollen sich ja erregen. Und man kann ihnen nur sagen: nicht für alle Christen ist der Altar unverzichtbar. In meiner Tradition ist er nur: ein Tisch, der bei Gelegenheit beiseite gestellt werden kann. Und es gibt Millionen Christen auf der Welt, die diese Perspektive teilen.

Also: wenn man sich über Richter erregen will, dann sollte man es über seine Kunst tun. Aber schauen wir uns die Argumente der Kritiker an.

Klaus Müller

Den Anfang macht der Philosoph Klaus Müller, der früher Rector ecclesiae der Dominikaner-Kirche war.[16] Müllers „Erklärung zur Pressekonferenz anlässlich der Umgestaltung der profanierten Dominikaner-Kirche am 30. November 2017“ ist so voller Ressentiment, dass ich beim ersten Lesen wirklich erschrocken war. Wie gesagt, ich kann den Schmerz des Verlustes nachvollziehen. Aber auch dann sollte man doch keine kleinbürgerlichen Klischees bedienen. Bei Müller heißt es:

Zuletzt konnte es den zuständigen Abteilungen der Stadt Münster – entgegen weniger Monate alter anderer Zusagen – mit der Profanierung gar nicht schnell genug gehen. Nach einer Jahre dauernden Planlosigkeit vermochten sie jetzt eine Sensation zu präsentieren: Der weltweit geschätzte – für unbezahlbare Werke bekannte – Künstler Gerhard Richter schenkt der Stadt Münster ein spektakuläres Kunst-Ensemble: eine Reproduktion des weltberühmten Foucaultschen Pendels aus Paris. Und das soll in der Dominikaner-Kirche realisiert werden.

Der „für unbezahlbare Werke bekannte Künstler Gerhard Richter“. Das ist Stammtisch, wie es primitiver nicht geht. Muss man das einem Philosophen wirklich erklären: „solange Kunst überhaupt nach Brot geht, bedarf sie derjenigen ökonomischen Formen, die den Produktionsverhältnissen einer Epoche angemessen sind“.[17] Als ob Albrecht Dürer, Albrecht Altdorfer, Lukas Cranach, Michelangelo, Raffael oder Leonardo nach anderen Regeln gearbeitet hätten. Sie alle haben Werke produziert, die für den Durchschnittsbürger schlicht unbezahlbar waren.[18] Aber wir schreiben niemals über den „für unbezahlbare Werke bekannten Raffael“. Wir schreiben über seine Kunst.

Und auch dies sei notiert: Gerhard Richters Werke sind überhaupt nicht unbezahlbar, Kunst ist heutzutage überaus preiswert, es gibt eben nur einige Werke von Gerhard Richter, die für einen Normalverdiener nicht bezahlbar sind. Ich könnte böse und etwas übertrieben sagen: manche Multiples von Gerhard Richter sind preiswerter zu bekommen als Bücher von Klaus Müller.[19] Aber, auch das sollte man sagen, Gerhard Richter gehört zu jenen, die konsequent die Markthysterien kritisieren, weshalb er sich nicht zuletzt öffentlich engagiert, um ein Zeichen gegen den Markt zu setzen – ansonsten käme Münster ganz sicher nicht in den Genuss eines derartigen Werkes. Und nein, das Kunstwerk von Richter ist keine Reproduktion des Foucaultschen Pendels, vielmehr ist das Pendel Gegenstand bzw. Teil des Kunstwerks von Richter. Wie kann man das verwechseln, wenn man auf der Pressekonferenz war? Ich war nicht dort, aber das war mir sofort klar, dass das Pendel nur das außerästhetische Substrat war, mit dem Richter künstlerisch arbeitet. Alles andere macht gar keinen Sinn – es sei denn, man verwechselt Gerhard Richter mit Marcel Duchamp oder einem Iterativisten. So arbeitet Gerhard Richter aber nicht, was jeder weiß, der sich einmal mit seinem Werk beschäftigt hat.

Klaus Müller fährt nun in seiner Stellungnahme fort:

Und wenn ihm gefällt, dass sein Pendel jetzt dort über den Boden kratzt, wo bis vor wenigen Wochen Christinnen und Christen am Altar das Geheimnis ihres Glaubens gefeiert haben – dann kann ich nur sagen: Von einem Künstler seines Formats hätte ich mir mehr erwartet (aber Richter ist ja auch überzeugt, dass es keine Priester und Philosophen mehr gibt, so dass nun die Künstler – also so auch er – die wichtigsten Leute auf der Welt sind (vgl. http://www.art-magazin.de/kunst/10105-bstr-zitate-von-gerhard-richter/73395-img).

Gut gegoogelt, Kollege, kann man da nur sagen. Für mich ist das ein Beleg für Oberflächenkultur schlechthin. Da ärgert einen ein Künstler und das Erste was man macht, ist ein wenig zu googlen. Man könnte natürlich auch in einem Fachlexikon nachschlagen, die Kollegen der Kunst-Fakultät oder der kunstgeschichtlichen Fakultät fragen, aber nein: man googelt. Und dann stößt man auf ein Zitat, das einem irgendwie in die Laune passt, kümmert sich nicht um den Kontext und nutzt es zur Polemik. Man hätte, nachdem man auf das Zitat gestoßen ist, sich natürlich auch sachkundig machen können. Das erwähnte Zitat von Richter stammt aus seinen Notizen des Jahres 1966(!), als Gerhard Richter 34 Jahre alt war, gerade sein Studium beendet hatte und deshalb intensiv über den Sinn von Kunst nachdenkt. Und es lautet so:

Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Leute auf der Welt. Das ist das Einzige, was mich interessiert.[20]

Bei Müller liest sich das Zitat nun so, als ob der weltberühmte Künstler Gerhard Richter die Künstler zu den wichtigsten Leuten der Welt erklärt und dabei die Philosophen und die Priester abwertet. Aber so ist es nicht und Müller könnte das wissen. Richter ist Mitte der 60er-Jahre gerade der DDR entkommen und sucht seinen Weg in der Kunstwelt. Es ist die große Zeit von gesellschaftlich geächteten Philosophen wie Herbert Marcuse oder Theodor W. Adorno, und im Katholizismus wird gerade vehement über den notwendigen Untergang des Sakralen debattiert.[21] In dieser Situation sieht Richter in der Kunst eine Perspektive, eine Haltung, die ihn mit Adornos kurze Zeit später erschienener Ästhetischer Theorie, aber auch mit vielen konservativen Philosophen verbindet. Es gibt überhaupt keinen Grund, dieses Zitat 50 Jahre später(!) kritisch gegen Gerhard Richter zu wenden. Nun hätte Klaus Müller auch ein wenig weiter surfen können, etwa auf Gerhard Richters eigenen Seiten[22] und wäre dort auf ein weiteres Zitat gestoßen, eine Notiz des 32-Jährigen aus dem Jahr 1964/65:

Die Kunst ist nicht Religionsersatz, sondern Religion (im Sinne des Wortes, ,Rück­bin­dung', ,Bindung' an das nicht Erkennbare, Übervernünftige, Über-Seiende). Das heißt nicht, dass die Kunst der Kirche ähnlich wurde und ihre Funktion übernahm (die Erziehung, Bildung, Deutung und Sinngebung). Sondern weil die Kirche als Mittel, Transzendenz erfahrbar zu machen und Religion zu verwirklichen, nicht mehr ausreicht, ist die Kunst, als verändertes Mittel, einzige Vollzieherin der Religion, das heißt Religion selbst.

Als Gerhard Richter dies notierte war das II. Vatikanische Konzil (11. Oktober 1962 bis 8. Dezember 1965) noch nicht beendet, es wurde noch erregt über die Zukunft der Kirche und die Rolle der Künste debattiert. Was Gerhard Richter in dieser Zeit äußert ist nicht nur gut Friedrich Daniel Schleiermacher (Kunst als Sprache der Religion), sondern dürfte auch einem guten Teil katholischer Lehre nach dem II. Vatikanum entsprechen. Jedenfalls deute ich die Rede an die Künstler von Johannes Paul II. in München 1980 so.[23] Man sollte also Gerhard Richter mit(!) der und nicht gegen die Kirche lesen. Vielleicht sollte man sich in diesem Kontext auch an den später katholisch gewordenen Philosophen und Schriftsteller Friedrich Schlegel erinnern, der in seinen Ideen schreibt:

Nur derjenige kann ein Künstler sein, welcher eine eigne Religion, eine originelle Ansicht des Unendlichen hat. ... Künstler ist ein jeder, dem es Ziel und Mitte des Daseins ist, seinen Sinn zu bilden.[24]

Nur so geht es. Und es ist verdammt nahe an dem, was Gerhard Richter in den 60er-Jahren notierte, so nahe, dass man meinen könnte, Richter habe hier Schlegel zitiert.

Den folgenden Satz von Klaus Müller nehme ich als reformierter westfälischer Protestant mit absolutem Erschrecken zur Kenntnis, weil er von einem konfessionellen Besitzstandsdenken zeugt, von dem ich hoffte, dass es lange überholt wäre:

Und in der angeblich katholischen Stadt Münster stellt man zu gleicher Zeit der Gemeinde der weltweit größten Katholisch-Theologischen Fakultät an einer öffentlichen Hochschule an historischem Ort den Stuhl vor die Tür. Dafür gibt es nur einen Namen: Verkehrte Welt.

Verkehrte Welt? Ist das ernst gemeint? Münster ist eine Stadt, in der es so viele katholische Kirchen gibt, wie in nur wenigen anderen westfälischen Städten. Ich weiß nicht, wer die Bauunterhaltung und die Betriebskosten dieser Kirche, die den Katholiken so unentbehrlich ist, übernommen hat. Nach den Pressemeldungen der Stadt Münster scheint es so zu sein, dass sowohl die katholische Kirche wie die Universität sich seit 2007 dieser Verantwortung entzogen haben.[25] Dann kann man natürlich schlecht jammern, wenn die Stadt das Gebäude irgendwann einer besseren Verwendung zuführt (und das heißt für die gesamte und nicht nur die katholische Öffentlichkeit).

Es sollte heute keinen Platz mehr geben für Privilegien für Religionen und Konfessionen in einer säkularen Gesellschaft. Und man sollte sich verbitten, dass Konfessionsvertreter, die sich in einer katholischen Stadt wähnen, für sich eine Vorzugsbehandlung erwarten. Und das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Protestanten, die in Münster die Observantenkirche, die im Besitz des Landes Nordrhein-Westfalen ist, als evangelische Universitätskirche nutzen. Ich fände es selbstverständlich, wenn alle Religionen jene Räume, die sie als Kult-Räume nutzen, selbst finanzieren und unterhalten. Gerade an Universitäten ist das ein sensibles Thema. Hier bin ich für strikte Neutralität.

Jan-Heiner Tück

Kommen wir zur zweiten Intervention aus katholischer Feder, die sich direkt auf die erste bezieht. Jan-Heiner Tück schreibt zu Silvester 2017 in der NZZ unter der Überschrift „Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren“ einen ebenfalls von Ressentiments und wenig Sachauseinandersetzung geprägten Text.[26] Auch Tück unterschlägt in seiner Darstellung, dass Universität und katholische Kirche die Bauunterhaltung der Dominikanerkirche eingestellt haben und damit deutliche Signale einer mangelnden Wertschätzung des Gebäudes gegeben haben. Dann verweist Tück auf die längst konkret gewordene Idee, in Münster einen Campus der Religionen einzurichten. Und dann schreibt er:

In diesem Zusammenhang hätte man auch über eine Umwidmung der Dominikanerkirche nachdenken können, ohne dadurch bereits synkretistischen Vorstellungen Vorschub zu leisten.

Hätte, hätte, Fahrradkette – sagt man im Neudeutsch. Allerdings stellt Tück hier einen Zusammenhang her, der nie bestanden hat und auch unsinnig gewesen wäre. Das Areal des Campus der Religionen steht seit Mitte 2016(!) fest[27], entlang der Robert-Koch-Straße wird er in einem neu zu errichtenden Gebäudekomplex untergebracht werden. Die Dominikanerkirche liegt davon 2 Kilometer entfernt. Das macht es wenig sinnvoll, sie in den Campus der Religionen einzubeziehen. Da wäre selbst die Evangelische Universitätskirche näher. Aber auch das wäre unsinnig. Tatsächlich denkt die Universität über einen „Ort der religiösen Begegnung“ nach. Der dürfte bei der Programmatik des Projekts aber wohl kaum in einem früheren Kirchengebäude liegen.

„Diese Ideen sind nun allerdings Makulatur“ fährt Tück fort, obwohl die Planungen zum Campus nun schon über viele Jahre laufen. Mir scheint der vorgeschlagene Einbezug der Dominikanerkirche eher eine nachträglich vorgelegte Überlegung zu sein. Wenn die Dominikanerkirche seit Jahren schon im Zentrum der Überlegungen für einen Campus der Religionen gestanden hätte, hätte die Stadt sicher anders reagiert. Hätte, hätte, Fahrradkette ...

Richter, 1932 in Dresden geboren, ist bis jetzt als eher nachdenklicher Agnostiker mit Sympathien für die katholische Kirche bekannt.

Ich weiß nicht, woher Tück seine Kenntnisse bezieht.[28] Wenn man Richters frühe Notizen studiert (und nicht nur die angeblichen Substitutionsthesen), dann scheint er doch sehr offen zu sein. Die Sympathie für den Katholizismus – die man etwa Richters Kollegen Markus Lüpertz nicht absprechen kann – kann man sicher nicht aus der Realisierung eines Kunstauftrages für den Kölner Dom ableiten – sonst hätte wohl Sigmar Polke Sympathien für den reformierten Glauben (Großmünster Zürich) und Mark Chagall für den katholischen (St. Stephan Mainz). So funktioniert das nicht. Was machen wir dann mit Johannes Schreiter, der sicher schon für jede Konfession gearbeitet hat?

Tück referiert nun noch einmal wie Müller den Satz mit dem Sieg der Naturwissenschaft über die Kirche. Da Richter aber gar kein Naturwissenschaftler ist, sondern Künstler, kann das ja nicht triumphalistisch missverstanden werden, sondern eher als beobachtende Notiz eines Zeitgenossen. Mit dem Pendel geht ein Konflikt zu Ende. Punktum. Tück geht dann auf das angebliche Altarzitat ein:

Aber Gerhard Richter setzte noch nach, als er bemerkte, er freue sich, dass das Pendel genau an der Stelle schwinge, wo bisher der Altar gestanden habe. Der Altar ist bekanntlich der Ort, an dem Christen das Leidensgedächtnis Jesu begehen und das Geheimnis ihres Glaubens feiern. Richters Äusserung wurde denn auch in dem Sinne aufgefasst, als könne die Kunst die Religion ersetzen, ja als sei die Rolle des Priesters auf den Künstler übergegangen. Diesen Beerbungsanspruch bestätigt ganz unverblümt eine Notiz Richters aus dem Jahr 1963: «Nachdem es keine Priester und Philosophen mehr gibt, sind die Künstler die wichtigsten Philosophen auf der Welt.»

Aus dem Interview geht zunächst einmal hervor, dass Richter sich darüber freut, in der Dominikanerkirche sein Projekt zu realisieren, weil das ein so schöner Ort ist. Und dann ergänzt er, dass es ihn reizt das Pendel in einer Kirche zu platzieren, weil es ein Schlussstein („ein Beweis“) in der Diskussion um den Heliozentrismus geworden sei. Das muss man nicht als unangemessene Polemik deuten. Dass Richter mit der angeblichen Bemerkung (ich konnte sie nicht verifizieren, es scheint, als ob sich Tück hier auf die Stellungnahme von Müller bezieht), er „freue sich“, dass das Pendel genau über dem Ort des alten Volksaltars schwinge, sich gegen die Eucharistie wende, ist – ich möchte es deutlich sagen - eine bösartige Deutung. Man könnte ihn ganz im Gegenteil so verstehen, dass nicht ein beliebiger, sondern ein bedeutungsvoller Ort in der Kirche gewählt worden sei, also eine Betonung des ursprünglichen Ortes intendiert sei. Das würde auch viel besser zum Künstler Gerhard Richter und seinem Denken passen.

Ich habe weiter oben schon auf die ursprüngliche Notiz von Gerhard Richter verwiesen. Tück zitiert und datiert sie falsch. Gerade dann, wenn man anderen ihre Wortwahl vorhält, sollte man sorgfältiger in der Wiedergabe ihrer Worte sein.

Nicht zufällig ist aber die Wahl des Wortes „unverblümt“ durch Tück. Nur dass es nicht zutrifft. Es gibt hier keinen unverblümten (= offenkundigen) Beerbungsanspruch. Folgen wir einmal Hegel, für den Religion, Kunst und Philosophie für die Wahrheit standen. Wenn dann Religion und Philosophie wegfallen (worüber man sicher streiten kann, ob das eine zutreffende Diagnose ist), dann beerbt die Kunst die Religion und die Philosophie nicht, sondern bleibt als einzige übrig. Das ist etwas ganz anderes. Das macht Richter mit seinem Zitat von 1964/65 ja direkt deutlich, wenn er schreibt: „Die Kunst ist nicht Religionsersatz“! Nicht die Kunst ersetzt Religion, die Kunst ist Religion. Wer das nicht versteht, muss noch einmal die deutsche Romantik aufarbeiten. Denn hier kann Richter sich in Übereinstimmung mit den Philosophen, Schriftstellern und Theologen des Deutschen Idealismus fühlen. Oder mit den Philosophen des 20. Jahrhunderts, denn man könnte auch sagen:

„Das ästhetische Prinzip der Form ist an sich, durch Synthesis des Geformten, Setzung von Sinn, noch wo Sinn inhaltlich verworfen wird. Insofern bleibt Kunst, gleichgültig was sie will und sagt, Theologie“.[29]

Und das ist so zu lesen, dass Theologie der Kunst inhärent ist. Das sieht Tück aber offenkundig anders:

Das Zitat zeigt neben einem Quentchen Selbstüberschätzung wohl auch, dass große Künstler nicht schon grosse Philosophen sind. Dabei trifft gewiss zu, dass Kunst eine Ahnung des Unendlichen vermitteln und Transzendenzerfahrungen hervorrufen kann, die gerade auch Menschen anspricht, die religiös obdachlos sind und von den Kirchen nicht mehr erreicht werden. Aber ob Kunst Religion beerben und den menschlichen Durst nach Ganzheit des Lebens, Heil und Vergebung stillen kann, ist doch wohl fraglich.

Noch einmal zur Erinnerung: das Zitat, auf das Tück sich bezieht, stammt vom 34-Jährigen Gerhard Richter, der sich gerade anschickt, die Kunstwelt zu erobern. Tück insinuiert aber nun, dass der ‚große Künstler‘ Richter – der er 1966 noch nicht war – kein ‚großer Philosoph‘ sei, weil er vor 50 Jahren die Religion und die Philosophie am Ende sah und in der Kunst eine verbliebene Möglichkeit der Weltgestaltung erkannte. Wie bereits mehrfach erwähnt, viele der großen Philosophen der damaligen Zeit waren der gleichen Meinung wie Richter und sahen vor allem „Die Wahrheit in der Kunst“. Man muss nur einmal die philosophischen Debatten der damaligen Zeit verfolgen.

Die Herablassung, mit der Tück dann über die Kunst spricht (ob Kunst Religion beerben und den menschlichen Durst nach Ganzheit des Lebens, Heil und Vergebung stillen kann, ist doch wohl fraglich), sollte ihm spätestens dann fraglich werden, wenn er erkennt, dass die Kunst 20.000 Jahre älter ist als die Religion und er hier schlicht die Erbschaftsverhältnisse auf den Kopf gestellt hat. Nicht die Kunst beerbt die Religion, sondern die Religion die Kunst. Religion ist eine der spätesten Errungenschaften der Menschheit.

Und deshalb kann man nur mit Goethe schließen:

Ihr Gläubigen! rühmt nur nicht euren Glauben
Als einzigen! Wir glauben auch wie ihr.
Der Forscher läßt sich keineswegs berauben
Des Erbteils, aller Welt gegönnt – und mir. ...

Wer Wissenschaft und Kunst besitzt,
hat auch Religion;
wer jene beiden nicht besitzt,
der habe Religion.
[30]

Amen.

Anmerkungen

[1]    Eco, Umberto (1992): Das Foucaultsche Pendel. Roman. München: Deutscher Taschenbuch, S. 281f.

[4]    Feyerabend, Paul; Vetter, Hermann (1997): Wider den Methodenzwang. 6. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 597).

[5]    Man lese nur einmal den mit Sentiments überladenen, von Unsäglichkeiten und historischen Fehlurteilen strotzenden Text „Galileo Galilei – übereifrig, skrupellos, verwildert“ des konservativen Katholiken Paul Badde in der Welt, https://www.welt.de/kultur/history/article110550586/Galileo-Galilei-uebereifrig-skrupellos-verwildert.html Man würde sich freuen, wenn Badde mit der gleichen Emphase auch für das „Anything goes“ von Feyerabend in naturrechtlichen und gendertheoretischen Fragen eintreten würde. Da geht aber plötzlich gar nichts mehr. Da gelten keine Hypothesen, sondern nur angebliche Fakten.

[6]    Johannes Paul II., Rede vor der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften 1992.

[7]    S. Anmerkung 5.

[8]    Kleinert, Andreas (2003): "Eine handgreifliche Geschichtslüge.". Wie Martin Luther zum Gegner des copernicanischen Weltsystems gemacht wurde. In: Berichte zur Wissenschafts-Geschichte 26 (2), S. 101–111. DOI: 10.1002/bewi.200390032.

[10]   Umberto Eco, Das Foucaultsche Pendel, a.a.O., S. 281

[11]   Ebd.

[12]   Vgl. Frank, Manfred (2011): "Unendliche Annäherung". Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft).

[14]   Freilich ergibt sich aus den Ratsunterlagen, dass die Stadt bereits Jahre vorher über die Profanierung der Dominikanerkirche im Jahr 2014 debattiert hat. Vgl. die Pressemeldung der Stadt im September 2013: https://www.muenster.de/stadt/presseservice/pressemeldungen/web/frontend/show/860857

[15]   Vgl. zum Ganzen Lorenzer, Alfred (1984): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Ungekürzte Ausg. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch (Fischer-Taschenbücher Wissenschaft, 7340).

[17]   Adorno, Vorschlag zur Ungüte, Gesammelte Schriften, Bd. 10.1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1997 (S. 330-336)

[18]   Das ist u.a. ein Grund für die reformatorischen Bilderstreitigkeiten, denn Reiche konnten sich mit Kunst ihr Seelgerät und damit die Verkürzung der Zeit im Fegefeuer erkaufen. Vgl. Göttler, Christine; Jezler, Peter (1987): Das Erlöschen des Fegefeuers und der Zusammenbruch der Auftraggeberschaft für sakrale Kunst. In: Thomas Sternberg und Christoph Dohmen (Hg.): … kein Bildnis machen. Kunst und Theologie im Gespräch. Würzburg: Echter, S. 119–148.

[19]   Und bevor es einer nicht glaubt: Man bekommt das handschriftlich signierte Multiple „Wiesenthal“ von Gerhard Richter an dem Tag an dem ich dies schreibe, für 88 Euro. Das nur noch antiquarisch erhältliche Buch von Klaus Müller „Streit um Gott: Politik, Poetik und Philosophie im Streit um das wahre Gottesbild“ kostet zurzeit 95,80 Euro. Antiquariate sind die Kunsthändler der Autoren.

[20]   Richter, Gerhard (2008): Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe. Hg. v. Dietmar Elger. Köln: König. S. 46.

[21]   Korvin-Krasinski, P. von (1967): Untergang des Sakralen? Zum Problem der humanen und religiösen Qualitäten des sakralen Ausdrucks. In: Theodor Bogler (Hg.): Das Sakrale im Widerspruch. Gesammelte Aufsätze. Maria Laach: Ars Liturgica, S. 11–32.

[23]   Vgl. Horst Schwebel, Eine Erinnerung an Johannes Paul II., https://www.theomag.de/34/hs2.htm

[24]   Friedrich Schlegel, Ideen

[25]   „Viele Jahre diente der Sakralbau der Universität als katholisches Gotteshaus. Aus diesem Vertrag zog sie sich 2007 zurück, die Kosten für den Betrieb und die Bauunterhaltung trägt seit sechs Jahren die Stadt.“ (S. Anm. 10)

[26]   Tück, Jan-Heiner (2017): Die Wissenschaft will über die Kirche triumphieren. In: Neue Zürcher Zeitung, 28.12.2017. Online verfügbar unter https://www.nzz.ch/feuilleton/die-wissenschaft-will-ueber-die-kirche-triumphieren-ld.1338560, zuletzt geprüft am 12.01.2018.

[28]   Es scheint ein binnenkatholischer Mythos zu sein. Als „Atheist mit Hang zum Katholizismus“ bezeichnet ihn Bischof Mussinghoff 2007. Ich würde das als Heimholung bezeichnen. Auf Gerhard Richters eigener Seite lässt sich derartiges nicht verifizieren.

[29]   Ästhetische Theorie: Paralipomena. Gesammelte Schriften, 7, S. 403.

[30]   Johann Wolfgang Goethe, Zahme Xenien IX.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/111/am618.htm
© Andreas Mertin, 2018