Zur Kritik der Kritik am Reformationsjubiläum II

Ein Nachtrag zur Provinzialität des Internationalen

Andreas Mertin

Auch wenn das Reformationsjubiläum nun schon etwas zurückliegt, fühlen sich immer noch einige berufen, lautstark Kritik an den Veranstaltern und vor allem der EKD zu üben. Aber es wäre doch schön, wenn sie wenigstens bei der Wahrheit blieben. Der Vorsitzende einer so genannten Internationalen Martin Luther Stiftung fühlte sich bemüßigt, im Gespräch mit der Presse Kritik zu üben. Ich weiß nicht, was so eine „Internationale Martin Luther Stiftung“ macht, der erste Blick auf ihre Selbstdarstellung erweist sie als eine unternehmensorientierte konservative Stiftung, bei der man wenig über Martin Luther und seine Theologie und viel über freies Unternehmertum lernen kann. Ehrlich gesagt, fremdle ich bei diesen Kurzschlüssen immer, in meiner Bibel steht nichts von Unternehmensphilosophien, aber viel von Sozialkritik. Aber ich gehöre sicher auch zu denen, die die Stiftung verschwörungstheoretisch als politische Usurpatoren der EKD denunziert.  Der Vorsitzende besagter Stiftung kritisiert, die EKD habe

eine große Chance vertan. Da wurde viel Geld investiert in Kirchentage und Ausstellungen. Doch was ist die Wirkung? Nur wenige Hunderttausende haben die zusätzlichen Angebote genutzt. Da kommen bei jedem Bundesligaspieltag mehr Menschen in die Stadien als in einem ganzen Jahr zu schlecht gemachten Sonderveranstaltungen.

Das zumindest ist eine Behauptung, die man nachprüfen kann. Und natürlich ist sie falsch. Ich vermute einmal, zu einem Bundesligaspieltag kommen etwa 350.000 Besucher. Viel mehr Besucher können es aufgrund der Größe der Stadien nicht sein. Zur Weltausstellung in Wittenberg wurden 300.000 Tickets verkauft, wie der Veranstalter mitteilte. Wittenberg konnte man aber auch besuchen, ohne in die Weltausstellung zu gehen. Man musste kein Ticket lösen, um die Wittenberger Stadtkirche zu besuchen (wie ich es zum Beispiel zweimal getan habe). Also dürften vielleicht 100.000 Menschen jenseits der Weltausstellung hinzukommen. Der Kirchentag in Berlin dürfte mit Eröffnungsabend auf 300.000 Menschen kommen. Die unzähligen Veranstaltungen in der EKD im Rahmen des Lutherjahres dürften – wenn wir die Reformationsgottesdienste mitzählen – auch noch einmal eine Million ergeben. Da ist die Behauptung, in einem ganzen Jahr des Reformationsjubiläums kämen weniger Menschen als zu einem Bundesligaspieltag doch schon sehr gewagt, um nicht zu sagen: falsch. Aber man kann es ja mal versuchen. Und natürlich weiß der Stiftungsvorsitzende, was man hätte besser machen können:

[Die EKD] hat versäumt, in die wachsende Zahl von Nichtchristen hineinzuwirken und einen missionarischen Punkt zu setzen. Luther würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen.

Gut, das ist erkennbar aus dem Bauch heraus geredet, aber Sinn macht es auch bei bestem Willen nicht. Luther würde sich wahrlich im Grabe umdrehen, wenn jemand so die deutsche Sprache verhunzdeutscht. Wie setzt man denn einen missionarischen Punkt? Mit dem Tintenfass? Und wie wirkt man in eine Zahl? Ich habe zunächst versucht, bei Luther den „missionarischen Punkt“ zu finden, denn ich vermute, es ist so etwas wie der G-Punkt für fromme Lutheraner. Aber man muss in dieser Sache bei Luther doch wohl von einem „missionarischen Vakuum“ ausgehen, das unter Missionswissenschaftlern schon sprichwörtlich ist. Bleibt der Wunsch, in die wachsende Zahl der Nichtchristen hineinzuwirken, was man wohl so übersetzen muss, die EKD solle der Tendenz zur Entchristlichung entgegenwirken.

In den Führungsgremien, den Synoden, hat ein rot-grünes Milieu die Macht an sich gerissen. Dass für die Gremien ein Wahlprozess stattfindet, ist eine Illusion. Bestimmte, unkritische Leute, werden in die Gremien kooptiert. Kirchenparlamente suchen sich die Mitglieder selber aus.

Das ist, mit Verlaub gesagt, AfD-Rhetorik, es fehlt nur noch das Wort „rot-grünes versifftes Milieu“. Aber der Sache nach ist es da. Die Synode unterwandert von Sozialdemokraten und Grünen, die so Politik machen wollen – wie abgedreht kann man denn nur sein? Es würde nicht helfen, wenn man auf die Synodenmitglieder hinwiese, die aus den bürgerlichen Parteien stammen, denn die gehören ja auch dem linken Milieu an. In Zeiten, in denen selbst die CDU als linksradikal gilt oder IDEA als „links-evangelikal“ ist natürlich alles möglich. 

Wahrscheinlich würde Luther seine 95 Thesen heute nicht mehr in Wittenberg an die Tür schlagen, sondern nach Hannover vor das EKD-Kirchenamt fahren und sich dort mit einem großen Plakat hinstellen: „Unter den Talaren der Muff von 500 Jahren. Zeit für eine Wende in meiner evangelischen Kirche.“ Dort wäre es auch angemessen, damit die Damen und Herren in den Leitungsgremien endlich wach werden.

Nun das würde Martin Luther nicht machen, denn er hätte gewusst, dass das mit dem Muff unter den Talaren etwas mit nationalsozialistischen Professoren zu tun hat, aber nicht mit Verschlafenheit der EKD. Unter den Talaren, Muff von 1000 Jahren bezieht sich auf das Nachleben des Nationalsozialismus an bundesdeutschen Universitäten in Gestalt von vorbelasteten Professoren. Wenn jemand das auf die aktuelle EKD bezieht (Unter den Talaren der Muff von 500 Jahren), vergreift er sich im Ton. Das muss man sich verbitten – auch als einfacher Protestant. Dass der Vorsitzende der Lutherstiftung sich im konservativen Milieu verortet, rechtfertigt es nicht, die EKD-Theologen mit Nationalsozialisten zu vergleichen. Allein für diesen Vergleich sollte er seinen Hut nehmen (müssen). Die Internationale Lutherstiftung wird das aber nicht machen – weil sie keinen Charakter hat.

Den Gipfelpunkt erreicht der Vorsitzende der Internationalen Martin Luther Stiftung aber, wenn er auf die Heilige Schrift zurückgreift. Dann zeigt sich nämlich, er kennt sie überhaupt nicht und er versteht sie nicht. Das freilich sollte seiner Stiftung dann doch unendlich peinlich sein.

Die EKD agiert wie ein schlechter Noah. Sie holt nur Menschen an Bord der Arche, die ins Konzept passen. Wer einen anderen Glauben lebt, den lässt die EKD zurück.

Wie würde denn ein guter Noach nach Meinung des Vorsitzenden der Internationalen Luther-Stiftung agieren? Gegen Gottes Gebot handeln – weil das gut ist? Das ist doch Witz der ganzen Noach-Geschichte, dass dieser alle anderen Menschen zurücklässt, weil sie nicht seinem Glauben folgen, sondern schlechthin böse sind. Und der entsprechende Vers endet: „Dann schloss Adonaj (!) hinter ihm zu.“ Und Noach tat alles, wie Adonaj es ihm befohlen hatte. Deshalb ist Noach in der Bibel kein schlechter Noach, sondern ein guter Noach. Kennt der Vorsitzende der Internationalen Martin-Luther-Stiftung die Bibel nicht? Ein anderer Mann in der Bibel wollte dagegen kein schlechter Mensch sein und wollte Menschen gegen Gottes Willen am Leben lassen (sie sozusagen mitnehmen). Deshalb wurde er von Gott verworfen. Sein Name ist Saul. Vielleicht sollte der Martin-Luther-Vorsitzende einmal bei 1. Samuel 15 nachschlagen. Die Bibel ist wesentlich komplexer als es sich der konservative Vorsitzende der Internationalen Martin Luther Stiftung träumen lässt. Ich würde ihm raten, zurückzutreten und in eine Klausur zu gehen und noch einmal biblische Theologie zu studieren. Die Bibel ist nicht etwas, was dazu dient, unsere eigene Ideologie zu stützen, sondern unser Umgang mit der Welt sollte sich an der Bibel bewähren. Und da kann man fragen, wo der konziliare Prozess, der gemeinsame Lernweg christlicher Kirchen zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung politisch am besten zur Geltung kommt. Ich fürchte, das Farbenspiel der Antwort wird unserem Vorsitzenden nicht gefallen.

Zum Abschluss stürzt sich der Reformationskritiker noch einmal voll in die AfD-Rhetorik:

Die Stärke des Islams ist die Schwäche des Christentums. Vor zwei Jahren wurden die Sternsinger aus dem brandenburgischen Innenministerium geworfen, weil man religionsneutral sein wollte. Und in Lüneburg wurde die Weihnachtsfeier einer Schule verlegt, weil es muslimischen Protest gab. Oder auf Packungen für griechischen Joghurt von Lidl mit einem Foto der Insel Santorin wurden die Kreuze wegretuschiert.

Ja, das alles liest man auf Facebook bei der AfD oder auf umstrittenen katholischen Portalen. Aber dadurch wird es nicht wahr. Nein, die Sternsinger wurden nicht aus dem brandenburgischen Innenministerium geworfen, sie wurden natürlich von Bildungsminister Günter Baaske (SPD) empfangen. Nein, in Lüneburg wurde die Weihnachtsfeier nicht wegen eines muslimischen Protests verlegt, das hat die Schule längst klargestellt. Und die Retusche der orthodoxen Kreuze hatte mehr mit eingebildeter Angst und der Geldgier der Lidl-Betreiber zu tun, die sich so einen besseren Absatz bei Nicht-Christen erhofften, als mit der Schwäche des Christentums. Wer ernsthaft meint, die Stärke des Christentums erweise sich an Kreuzen auf Joghurt-Ver­packungen, der sollte seinen Geisteszustand untersuchen lassen.

Vielleicht hat all das nur damit zu tun, dass die Internationale Martin Luther Stiftung im Rahmen des Reformationsjubiläums keine Rolle gespielt hat, weil sie schlicht bedeutungslos ist. Wie man an der beabsichtigten Stresemann-Stiftung der AfD sehen kann, kann jeder versuchen, sich Bedeutung zu verschaffen, in dem er sich einen bedeutenden Namen aus der Geschichte klaubt und damit Politik macht. Geschenkt. Was dem einen recht ist, ist dem anderen billig. Aber im Blick auf Luther würde ich dann doch lieber sagen: Quod licet Iovi, non licet bovi. Man vertritt nicht den Geist Martin Luthers, wenn man sich nach ihm benennt.

Und der Rest der Stellungnahme wiederholt nur all die Unsäglichkeiten, mit denen Christentum und Unternehmersprache verschmolzen werden sollen.

Das sind alles Zeichen einer Säkularisierung, die wir nicht aufhalten, aber verlangsamen können, wenn Christen mit ihren Kernthemen wieder mehr Profil und Selbstbewusstsein zeigen.

Nichts davon steht in meiner Bibel – weder in der Lutherbibel noch in der Zürcher. Aber vermutlich in jedem Unternehmenshandbuch.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/111/am615.htm
© Andreas Mertin, 2018