Gott nach Sloterdijk

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Peter Sloterdijk, Nach Gott, Berlin: Suhrkamp 2017

Die Vorfreude wich während der Lektüre schnell der Ernüchterung. Der Karlsruher Philosoph hat einfach eine Reihe von Vorträgen, Essays, Auszügen aus früheren Büchern zu einem neuen Werk zusammengestellt, von dem man nach dem Titel annimmt, es handle sich um eine Auseinandersetzung mit der (christlichen) Theologie. Dass es sich genau darum handelt, das wird erst am Ende klar (s.u.).

Nun sind die Beiträge nicht chronologisch geordnet, dafür genügt ein Blick in den Publikationsnachweis am Ende des Buches. Die theologiekritischen Reflexionen wandern einmal in diese, einmal in jene Richtung. Der Titel verweist prominent auf Nietzsches Diktum vom Tod Gottes. Aber wer kommt danach? Wo einmal Gott war, bleiben keine Leerstellen, sondern Restbestände, die philosophisch verwertet werden müssen: die Trinitätslehre zum Beispiel oder die Kritik an der Gnosis oder eine Theorie der religiösen Erfahrung. Sloterdijk ernennt sich selbst zum Testamentsvollstrecker der Theologie. Die kulturellen und philosophischen Erben streiten sich um das theologische Familiensilber ebenso wie um den Abraum.

An die Stelle einer (vormodernen) dogmatischen Glaubenslehre tritt in der Moderne eine marginalisierte Theorie religiöser Erfahrung, von der aber höchstens Umrisse sichtbar werden. In diesem Übergang bewegen sich Sloterdijks Analysen. In der unübersichtlichen Moderne hat sich die Theologie marginalisiert. Sloterdijk hangelt sich nun von Metapher zu Metapher, von Bild zu Bild, um diese Diagnose zu belegen. Die Metaphern werfen gelegentlich strahlendes Scheinwerferlicht auf bestimmte Bereiche des Theologischen und helfen dem Leser, plötzlich aufleuchtende eigene Ideen weiter zu verfolgen, aber den theologischen Denkern und Themen, denen sich Sloterdijk so widmet, wird er damit nicht richtig gerecht. Stattdessen bestäubt er die Gegenstände seines Denkens mit Bilderwolken. Das ist oft anregend und erfrischend, aber nach einer Weile ist der Duft verflogen, und Themen und Konstellationen bleiben genauso sperrig und unverstanden wie zuvor.

An der Schnittstelle des Übergangs von manifester zu marginalisierter Religion (oder ihrem Ersatz) steht im 19. Jahrhundert der Komponist Richard Wagner. Über den ‚Ring des Nibelungen‘ schreibt Sloterdijk: „Wagners neue Mythologie ist eine Hermeneutik des Schicksals. Sie behauptet, durch die reine Vorführung zum Verstehen anzuleiten. Schicksalhaftes kann man nur zeigen, nicht erklären. Schicksal heißt, was geschieht, ohne dass Warum-Fragen zulässig wären.“ (20)[1] Schicksal heißt, dass sich Ereignisse und Verhältnisse nicht mehr aus Gottes Providenz und Prädestination erklären, sondern dem Zufall zugeschrieben werden. Dieser Zufall ist von den Menschen nicht zu beeinflussen. Im ‚Ring‘ erklärt das Wagner mythologisch so, dass hinter Göttern, Riesen, Menschen und Zwergen noch die undurchschaubaren Nornen an den Schicksalsfäden weben. Nach dem Tod der Götter erscheinen sie plötzlich auf der Bühne (in der ‚Götterdämmerung‘), sie singen auch vom Schicksal, aber für die Menschen sind sie nicht zu begreifen. „Nach Gott“ bedeutet: Der personale Gott (oder die personalen Götter) sterben und verwandeln sich in ein abstraktes Schicksal, das sich weder durch Opfer, Glaube oder gute Werke gnädig stimmen lässt. Auf der anderen Seite bleibt dieses blinde Schicksal auch gegenüber allem Bösen, Ungerechten gleichgültig.

Der personale Gott dagegen hatte die Menschen noch beobachtet und ihr Handeln und Denken bewertet. Sloterdijk bezieht sich auf Karl Jaspers, der diesen Status Gottes als Beobachter der Welt auf die Achsenzeit zurückführt. In ihr entwickelten sich Monotheismen, deren Kern darin besteht, dass Gott die Menschen wahrnimmt und auf ihr Handeln reagiert. Er bestraft ihre Sünden und belohnt ihre guten Taten. Mit dem Tod Gottes fällt diese theologische Fremdbeobachtung weg. Und aus der Beobachtung durch eine fremde Instanz wird – Selbstbeobachtung. Am Anfang des 19. Jahrhunderts entsteht die Freudsche Psychoanalyse. Wenn Gott nicht mehr beobachtet, muss der Mensch sich selbst beobachten. Wenn Gott nicht mehr vergibt, muss sich der Mensch selbst vergeben. Schon Luther hatte das Verhältnis zwischen den Menschen und Gott entscheidend verändert, indem er die These vertrat, dass der Mensch zu guten Werken nicht imstande ist, mithin dem beobachtenden Blick Gottes in keinem Fall standhalten kann. In der Gegenwart schreitet diese Entwicklung weiter voran. Gott blickt nicht mehr auf die Menschen. Und hundert Jahre nach ihrer Entstehung wird klar: Auch die Selbstbeobachtung der Psychoanalyse scheitert. Stattdessen buhlen Influencer, Blogger, Fußballprofis und Schlagersängerinnen auf Facebook und Instagram um die Aufmerksamkeit der anderen: „An die Stelle der belastenden vertikalen Beobachtung unter dem Auge Gottes tritt das massenhafte Streben nach horizontaler Aufmerksamkeit.“ (66) Mit dem Tod Gottes als Beobachter verschieben sich Aufmerksamkeitsverhältnisse.

Wichtige Veränderungen findet Sloterdijk in der frühen Gnosis. Mit ihr steht die Bewertung der Wirklichkeit auf dem Spiel. Ist die Welt gute Schöpfung oder von vornherein so mit dem Bösen kontaminiert, dass Gott sie befreien muss? Sloterdijk sieht im Kreuz das Symbol, das Gott von der Welt trennt, aber er fragt dann nicht mehr nach der theologischen Verknüpfung zwischen dem Schöpfer- und dem Erlösergott, welche die Gnosis in einen Dualismus aufgelöst hatte. Für die Gnosis passten Schöpfung und Erlösung nicht zusammen. Der Demiurg muss sich geirrt haben, oder er wollte den Menschen eine Falle stellen. Sloterdijk folgt solchen Fragen bis in die feinsten philosophischen und psychologischen Verästelungen. Er denkt topologisch in Sphären, Kosmen und Räumen. Die säkulare Philosophie beginnt für ihn mit dem In-der-Welt-Sein, während die biblische Theologie mit dem In-Gott-Sein beginnt (111). Daraus ergeben sich unterschiedliche Raum-Konzepte. Philosophie und Theologie konstituieren Großräume, die durch Pole und Fixsterne zentriert werden: Gott, Mensch, Christus, Seele.

Und das muss man dem Philosophen Sloterdijk gegenüber den meisten Theologen zugutehalten: Wo sonst außer bei ihm finden sich im Jubiläumsjahr der Reformation noch Reflexionen über die Trinitätslehre? In der Theologie haben diese jedenfalls mittlerweile Seltenheitswert. Sloterdijk charakterisiert Trinitätslehre so: „Im Interface zwischen griechischen und neutestamentlichen Sprachspielen bildete sich einer der mächtigsten Diskurs-Wirbel der alteuropäischen Kultur.“ (155) Aber diese theologische Kultur ist untergegangen, an ihre Stelle ist nach der Reformation die bürokratische Kirche getreten: „Inzwischen haben die Apparatkirchen selbst, die reformatorischen wie die römischen, eher subkulturellen Charakter angenommen; sie sind vorwiegend zu Filteranlagen für Eigennachwuchs geworden und haben ihre Kompetenz, die Liebesprozessionen in den natürlichen Gesellschaften zu moderieren, eingebüßt; (…).“ (172f.) Apparatkirchen bilden Cliquen der Selbstbestätigung aus; Pöstchen werden nur noch nach Gesinnung, nicht mehr nach Kompetenz verteilt. Wer dagegen aufbegehrt, wird unter Zuhilfenahme des Pfarrerdienstrechts als psychisch krank denunziert. In Augustins Modell vom Gottesstaat dachte die Kirche noch anders – und größer – von sich selbst. Und es ehrt Sloterdijk, dass er es wagt, Alte Kirche und Moderne auf diese Weise zusammenzubringen.

Als weiteren untergegangenen Strang der Theologie identifiziert Sloterdijk die Christologie, die er als Familienaufstellung zwischen Vater, Sohn, Jüngern und Aposteln begreift. Schon Paulus setzte ein Modell der Gleichheit, der Taufe und der Nachfolge an die Stelle von Generationenfolgen und Familienstreitigkeiten. Christentum ist nicht Familienzugehörigkeit, sondern eine Art Freundschaftsbund. Die Reformation nahm diesen brüdergemeindlichen Impuls auf, der aber bald wieder in neuen Hierarchien verebbte. Auch sie erlag den Versuchungen der Apparatkirche.

In der Lektüre fällt spätestens hier auf, dass sich der Aufbau unterschwellig doch an einer klassischen Dogmatik orientiert: Gotteslehre, Trinität, Gnosis-Schöpfung, Christologie, Anthropologie, Mystik, religiöse Erfahrung. Die anfangs wahrgenommene Enttäuschung über den kompilatorischen Charakter des Buches weicht der Lektüreerfahrung stärkerer Konsistenz.

Anthropologisch zielt Sloterdijk auf eine Analyse der religiösen Gleichheit von Menschen. Bei der Gleichheit der Menschen vor Gott wäre zu unterscheiden, ob sie dem Sünder, dem ‚wert-losen‘ Menschen gilt oder dem Menschen, der von Würde und Gottebenbildlichkeit geprägt ist. Diese Gleichheit des gottebenbildlichen Menschen muss eschatologisch verstanden werden, sie wird erst in Erlösung und Auferstehung Wirklichkeit. Vorher sind die Menschen auf Gnade und Annahme durch Gott angewiesen. Fällt diese letzte Annahme des coram Deo nun weg, so stehen die Menschen gleichsam vor dem Nichts, vor der Gleichgültigkeit des Zufalls und des Universums. Sie bedeutet Sterblichkeit und Abhängigkeit von einem unentzifferbaren Schicksal. So etwas wie „Sünde“ kann dann gar nicht mehr aufgelöst werden.

Die Moderne ist gekennzeichnet durch eine Konkurrenz von Konfessionen und Religionen, die von unterschiedlichen Offenbarungsquellen geprägt werden. Wer wählen kann zwischen verschiedenen Religionen, der muss auf der Hut sein und darf sich nicht von den eigenen Wünschen täuschen lassen. Oder wie es Sloterdijk in Übernahme eines Zitats von Elias Canetti formuliert: „Am unerträglichsten wäre ein Gott, der so wäre, wie man ihn sich wünscht.“ (283) Religionen bringt viele Götter hervor: den harmlosen, den lieben, wunscherfüllenden Gott, den Vater überm Sternenzelt und den bärtigen alten Mann, der aussieht wie Gandalf aus dem ‚Herrn der Ringe‘.

Die Konkurrenz von Religionen führt dazu, dass sie „beobachtungsempfindlich“ (284) werden. Leichtgläubigkeit und Harmlosigkeit können so leichter entlarvt werden. Was Sloterdijk in der Folge über bürokratische Kirchenapparate sagt, gehört zum Erhellendsten, was seit einiger Zeit von außen über das Innenleben des Klerikalismus geschrieben wurde. Innerhalb der bürokratischen Apparate der Kirche herrschen Verlegenheit, Verunsicherung und Selbstzweifel. Längst ist die Suche nach einer substantiell inhaltlichen Strategie, die theologisch von den Grundlagen der eigenen Konfession abgeleitet wäre, preisgegeben worden. Stattdessen versichert man sich der Hilfe der Marketingstrategen und setzt – darin populistischer als die Populisten in der Politik – auf alles, was Erfolg, Aufmerksamkeit, Teilnehmer und Öffentlichkeit verspricht. Aber das Jagen nach Aufmerksamkeit schaltet theologische Reflexion aus oder schiebt sie wenigstens nach hinten in den schattigen Bereich des Bedeutungslosen.

Es ehrt Sloterdijk, dass er sich am Ende seines Buches mit religiöser Mystik beschäftigt und sie als Gegenbewegung zum verbreiteten Szientismus versteht. Er kritisiert die verbreitete religiöse Gleichgültigkeit, die sich im fehlenden Respekt vor Kirchen, Tempeln und Moscheen zeigt, aber auch im Verzicht auf die Frage nach dem Warum der Welt. Im ersten Fall betreten Touristen die Kathedrale achtlos und in unangemessener Kleidung, im zweiten Fall gibt man sich damit zufrieden, das Leben als ewige Wiederkehr von Shopping, Kurzurlauben und Traumhochzeiten zu betrachten, als endlose Kette von Events, die immer stärkere Reize setzen müssen. In einer wunderbaren Formulierung spricht Sloterdijk vom „AIDS der Überzeugungslosigkeit“ (351), und genau dieses Bild zeigt auch, wie hohen Aufwand der einzelne treiben muss, um religiöse Überzeugungen gegen seine skeptische Umwelt aufrechtzuerhalten. Gelegentlich hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass der Skeptiker Sloterdijk den Glauben ernster nimmt als mancher klerikale Funktionär. Zumindest ist er in der Lage, Leerstellen genau zu benennen, die Aufklärung und historische Kritik gerissen haben.



[1] Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das genannte Buch.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/wv039.htm
© Wolfgang Vögele, 2017