Brot und Wein

Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung

Wolfgang Vögele

6.        Poesie des Abendmahls

Das Abendmahl lebt von seiner liturgischen Praxis und seiner theologischen Deutung. Beides schöpft aus dem Rückbezug auf die Bibel und der Inanspruchnahme unterschiedlicher Formen der Traditionen, wie er sich in Bekenntnisschriften, theologischen Erklärungen und theologischen Interpretationen des Abendmahls niedergeschlagen hat. So wichtig das sein mag, so gefährlich kann das auch sein, wenn sich der Dialog der theologischen Traditionen über das Abendmahl, wie das in manchen ökumenischen Debatten der Fall ist, versäult und gegen die Auseinandersetzung mit und in der Moderne abdichtet.

Deswegen erscheint es von erheblicher Bedeutung, auch die Referenzen auf das Abendmahl in der Kunst zu beachten. Diese in ihrem großen Umfang und in ihrem breiten Spektrum hier darzustellen, fehlen Raum und Zeit. Aber wenige Andeutungen sollen anzeigen, was gemeint ist.[1]

Texte wie die Arnoldshainer Abendmahlsthesen haben vor allem die biblischen Referenzen und die exegetische Diskussion zum Abendmahl in den Vordergrund gerückt. Dahinter versteckte sich die Annahme, all das als evangelischen und später als ökumenischen Konsens über das Abendmahl präsentieren zu können, was biblisch belegt, begründet und fundiert ist. Damit sind aber die liturgischen und theologischen Probleme des Abendmahls in der Gegenwart noch nicht gelöst. Die Feier des Abendmahls im Gottesdienst findet vor einem bestimmten Hintergrund der Lebenswelt statt, die stets mit in die theologischen Überlegungen einbezogen werden muß, im Grunde in Analogie zur Predigt, die ja auch als ein Gespräch zwischen dem Vorverständnis der Hörer und dem exegetischen Befund dargestellt werden kann.

Diesem Horizont der Gegenwart kommt in der theologischen Deutung des Abendmahls eine enorme Bedeutung zu, ohne daß er von vornherein als normativ eingebracht werden muß. Man kann diesen Horizont einspielen durch Meinungsumfragen, Gottesdienststatistiken, Interviews mit Beteiligten und anderes mehr. Hier ist ein anderer (Um-)Weg gewählt worden, nämlich der Bezug auf Kunst, Literatur und Poesie. Es ist kein Zufall, daß der Freiburger Theologe Magnus Striet seine theologischen Reflexionen über die Gegenwart Gottes durchgängig im Gespräch mit moderner Literatur führt[2]. Und es ist ebenso wenig Zufall, daß der Kulturwissenschaftler Roberto Calasso die Frage nach der Möglichkeit des Göttlichen in Literatur und besonders in Gedichten stellt[3]. Calasso findet diese Gegenwart des Göttlichen (die er gar nicht in einer christlichen Gottesvorstellung gründet) in einer absoluten, von der Wirklichkeit losgelösten Poesie. Und nicht umsonst bezieht er sich dabei auf Hölderlins Hymne „Brot und Wein“, einen poetischen Abendmahlstext, der Antike und Christentum miteinander verbindet.

Genau diesem Text ist schon früher als Calasso der Mannheimer Germanist Jochen Hörisch[4] nachgegangen. Für Hörisch ist das Abendmahl wie Geld und neue Medien ein Medium, um Heil zu vermitteln. Das Abendmahl gehört für ihn – wie auch für Hölderlin – in die alte, mit dem Mittelalter zusammengebrochene Metaphysik des Mittelalters, an der auch die Reformation mit Luthers Betonung der Realpräsenz noch festgehalten habe. Hölderlin hat in seiner Hymne versucht, ein neues poetisches Programm der Sinnfindung an die Stelle des vakant gewordenen Ortes der traditionellen Religion zu setzen. Und die Gegenwart ist noch über Hölderlin hinausgegangen, indem sie andere Medien an die Stelle von Poesie und Abendmahl gesetzt haben: „Denn in den neuen Medien hat sich das von Nietzsche prognostizierte Zeitalter der ‚Bedeutungslosigkeit‘ eingestellt. Es hat sich mittlerweile zu erkennen gegeben: als das Medienzeitalter universaler Zerstreuung – einer medialen Zerstreuung in jedem Wortsinn. Bis zur Omnipräsenz universalisiert haben sich die Medien in genau dem Maße, wie die semontologischen Botschaften, die sich zu vermitteln lohnten, sich zerstreut haben. Zumindest das unterscheidet die neuen von den alten Medien. Denn letztere hatten ein entschiedenes Interesse daran zu versammeln – in jedem Wortsinn zu versammeln. Nämlich die Aufmerksamkeit von versammelten Subjekten auf das Zentrum zu konzentrieren, in dem Sein und Sinn semontologisch zu einer unio zusammengefaßt werden konnten.“[5]

Die Gegenwart ist danach durch zwei Merkmale charakterisiert, zum einen durch den Zusammenbruch der alten, einheitlichen Metaphysik, zum anderen durch die Konkurrenz unterschiedlicher „Medien“, die alle den Zweck haben, die Vergewisserung von Sinn – im Gegensatz zur chaotischen und unübersichtlichen Wirklichkeit zu gewährleisten. Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit und die Konkurrenz dieser Medien, die sich sozusagen gegenseitig dementieren. Und innerhalb dieser Gegenwart muß der Abendmahlsgottesdienst gedacht werden, zum einen so, daß er nicht einfach die alte mittelalterliche Metaphysik reproduziert, zum anderen so, daß er für die Gegenwart anschlußfähig bleibt, das heißt in Widerspruch und Zustimmung die Erfahrungen der Gottesdienstbesucher konzentriert und auf einen bestimmten theologischen Punkt bringt.

Wie nun die Überlegungen Calassos zeigen, bleibt also die Frage oder das ‚Bedürfnis‘ nach einer Vergewisserung von Sinn bestehen. Für Hörisch besteht die Lösung in der Ablösung unterschiedlicher Medien (Geld, neue Medien etc.). Für Calasso besteht die Lösung in einer absoluten Poesie, die sich von der Beschreibung von Wirklichkeit abgelöst hat. Und Magnus Striet unterzieht den Gottesbegriff einer radikal eschatologischen Deutung, die im Grunde auf die Erfahrung der Gegenwart Gottes verzichtet.

Es gibt also, in der unübersichtlichen Moderne mit ihrer Vielfalt an Religionen, Medien, politischen wie ökonomischen Optionen, immer noch die Frage, auf die die Feier des Abendmahls einmal die Antwort war. Insofern sind theologisch zwei Fragen zu stellen:

  • Welche Modelle aus Kunst und Literatur kommen in Frage, um die Theologie des Abendmahls zu erhellen?
  • Was ist von ihnen in Abgrenzung oder Zustimmung theologisch zu lernen?

Um auf die erste Frage einzugehen: Calasso suchte nicht nach neuen metaphysischen Gewißheiten, sondern für ihn war das Göttliche einfach das Resultat einer Erfahrung defizitärer Wirklichkeit. Ohne ein Göttliches fehle der Wirklichkeit etwas. Man könnte daneben an Marcel Prousts berühmte mémoire involontaire denken, denn allein schon das Essen der in Lindenblütentee getauchten Madeleines erinnert an das Abendmahl, mit der Differenz daß Madeleines und Lindenblütentee eine psychologische Disposition für verschüttete Erinnerungen schaffen, während die Erinnerung des Abendmahls auf ein transsubjektives Geschehen zielt. Man könnte an die vielen Abendmahlsdarstellungen in der bildenden Kunst, angefangen bei Leonardo da Vinci denken, welche nun gerade den Stiftungsmoment der Eucharistie in den Blick nehmen. Interessant sind in diesem letzten Zusammenhang die Überlegungen des Kulturwissenschaftlers Alexander Schwan zum Abendmahl als einem Reenactment[6] eines kultisch wichtigen Vorgangs in der Vergangenheit für die Gegenwart.

Um auf die zweite Frage zu kommen: Genauso wie Calasso könnte man das Abendmahl als menschengemachtes Ritual verstehen, das postmetaphysisch eine neue Wirklichkeit schafft, indem sie sie einfach in einem Ritual praktiziert. Damit wäre ein Anschluß gewonnen an Slenczkas Formulierung von der kontrafaktischen Setzung zur Identitätsstiftung des Glaubens. Weiterführen läßt sich dieser Gedanke durch Überlegungen des Bochumer Theologen Joachim von Soosten.[7] Er versteht die Frage nach dem Abendmahl zunächst als die liturgische Antwort auf die Abwesenheit Gottes.

Diese liturgische Präsenz Gottes läßt sich reformatorisch innerhalb mehrerer Modelle artikulieren. Und Luther favorisiert ein – so nennt es von Soosten – rhetorisches Modell gegenüber reformierter Bedeutungskultur und einer katholischen ontologischen Präsenzkultur. Erst die bei der Abendmahlsfeier gesprochenen Worte stellen performativ her, was im Genuß von Brot und Wein geglaubt werden soll: die Präsenz Christi.[8] „In Luthers eigener Ausführung heißt es: Christi Wort ist weder Lesewort, Nachwort oder Lügenwort, sondern ein ‚Machtwort, das da schaffet, was es lautet‘ (…).“[9]

Auf diese Weise kommen Calassos Suche nach den Spuren des Göttlichen in absoluter Poesie und die performative Sprachkultur in der Abendmahlsliturgie in von Soostens Lutherinterpretation sehr gut zusammen. Beide lassen sich lesen als der Versuch, den Ort des Religiösen in einer nachmetaphysischen Zeit zu erhalten, im einen Fall im Medium einer nicht-spezifizierten Religiosität, im anderen, sehr viel wichtigeren Fall im Kontext eines genuinen Entwurfs christlicher, in diesem Fall rhetorisch präformierter Theologie.

Die folgende Passage aus von Soostens verdeutlicht genau diesen Charakter des Abendmahls in der Neuzeit ein weiteres Mal: „Im Abendmahlsritual spricht sich das Verlangen nach Anwesenheit aus. Abwesenheit scheint die Grunderfahrung zu heißen, die den Wunsch nach Präsenz grundiert. Abwesenheit ist der Ursprung einer jeden Geschichte. Drohende Abwesenheit ist es auch, die im Präsenzritual des Abendmahls blockiert werden soll.“[10] Das Denkmittel, mit dem diese Auffassung gesichert wird, besteht in einer Inanspruchnahme der Rhetorik der Synekdoche und der Rhetorik der Metapher.[11]

-> 7. In welche Richtung?

Anmerkungen


[1]    Diesem Aufsatz folgt ein zweiter Essay, der das Thema des Abendmahls in der Kunst in den Mittelpunkt rückt.

[2]    S.o. Abschnitt 2.1.

[3]    S.o. Abschnitt 2.2.

[4]    Jochen Hörisch, Brot und Wein. Zur Poesie des Abendmahls, Frankfurt/M. 1992.

[5]    A.a.O., 9.

[6]    Alexander Schwan, Jesus reenacted. Authentizität und Wiederholung im Abendmahlsstreit, in: Uta Daur (Hg.), Authentizität und Wiederholung. Künstlerische und kulturelle Manifestationen eines Paradoxes, Bielefeld 2011, 255–272.

[7]    Joachim von Soosten, Präsenz und Repräsentation. Die Marburger Unterscheidung, in: Dietrich Korsch (Hg.), Die Gegenwart Jesu Christi im Abendmahl, Leipzig 2005, 99-122.

[8]    A.a.O., 105: „Luther begreift die Einsetzungsworte tropologisch: Synekdoche und Metapher stehen in diesem Denkmodell an der Spitze einer Hierarchie von Argumenten, die bemüht werden müssen, wenn der Bedeutungsstatus der Einsetzungsworte im Sinn einer Produktion von Präsenz verteidigt werden will.“

[9]    A.a.O., 110.

[10]   A.a.O., 114f. Vgl. auch a.a.O., 121f.: „Das Ritual des Abendmahl umwirbt das Geheimnis der Gegenwart Gottes. (…) Zum ersten begreift Luther die Einsetzungsworte Jesu in ihrem performativen Charakter. Die Worte schaffen das, was sie lauten, und sind damit mehr als nur Deuteworte, die Elemente Brot und Wein mehr als nur bloße Hinweiszeichen. Dabei sind die Einsetzungsworte zweitens nicht im Sinne einer Zerteilung, sondern einer wirklichkeitsverdichtenden und wirklichkeitserneuenden Funktion zu verstehen.“

[11]   A.a.O., 120f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/wv036_06.htm
© Wolfgang Vögele, 2017