Von Athen lernen?

Die documenta 14

Andreas Mertin

Auf der Suche nach der Logik der documenta ...

Zumindest was die räumliche Logik der documenta betrifft, ist dieses Mal alles auf den Kopf gestellt. Das Fridericianum, das erste für die Bürger gebaute Museum der neueren Geschichte, wird aktuell nur als Ausstellungsort eines anderen Museums genutzt, des EMST in Athen, dem bisher die Gelder für einen eigenen Museumsbetrieb fehlten. Vielleicht ist es das, was wir vor allem von Athen lernen können, dass ohne Geld und Kapitalflüsse auch die Kunst und ihre Präsentation (und ihr Widerstand) nicht funktionieren können. Ob die Geste der Documenta-Kuratoren, dem griechischen Museum für zeitgenössische Kunst für 100 Tage Platz im Fridericianum einzuräumen, mehr sein kann, als ein peinlicher post-postkolonialer Akt, müsste man noch genauer bedenken. Hanno Rauterberg kommentierte in der ZEIT jedenfalls süffisant: „Offenbar ist es Szymczyk und seinem Team herzlich egal, was im Fridericianum gezeigt wird. Für sie zählt allein die Geste: Wir öffnen euch unser Haus! Manche mögen das gönnerhaft finden, vorrangig aber ist es die Kulturalisierung realer Probleme. Schulden bleiben Schulden, liebe Griechen, doch bekommt ihr einen prima Platz auf unserer schönen Kunstschau. Na großartig!“[1] Und Rauterberg bezeichnet die Präsentation im Fridericianum als Versammlung „schönster Belanglosigkeiten‘.[2]

Also muss man sich für die Logik der Erschließung der documenta 14 auf einen anderen Weg begeben. Adam Szymczyk hat vorgeschlagen, aus dem Untergrund des Kulturbahnhofs in die Vorstädte der Stadt zu wandern und von dort ins Zentrum vorzustoßen, um dann den Spaziergang in der Peripherie zu beschließen. Aber auch das scheint mir – bei aller Sympathie für eine Spaziergangswissenschaft – nicht sehr logisch zu sein. Denn die künstlerischen Gewichte innerhalb seines Parcours sind doch sehr ungleichgewichtig verteilt.

Nun könnte man sagen, vielleicht ist es ja gerade die Logik dieser documenta 14, kein Zentrum zu haben. Aber jeder, der bereits in Kassel war, weiß, dass das nicht wahr ist.

Sehr schnell haben sich nicht nur in der feuilletonistischen Wahrnehmung Hauptwerke der documenta herauskristallisiert, auch wenn die verschiedenen Beobachter nicht einig sind, welches Werk nun dazu gehört und welches nicht. Was dem einen als der beste Beitrag erscheint, ist dem anderen viel zu marktschreierisch.

In allen Berichten über die documenta 14 triumphiert aber ein ganz besonderes Kunstwerk, so dass man sagen kann: Im Zentrum der documenta 14 steht eine nach 30 Jahren wiederholte Geste: „das am größten und Instagram-tauglichste Werk der Ausstellung“[3], das Parthenon-Imitat von Marta Minujín aus ehemals verbotenen Büchern.

Im Tempel

Beginnen wir also unseren Spaziergang über die documenta 14 mit einem Besuch in einem Tempel. Freilich ist es ein ‚Tempel‘ nur im Sinne eines historischen Zitats, hier verwendet als „Symbol“ für die älteste Demokratie auf europäischem Boden. Und es ist in diesem Sinne des Aufrufens historischer Reminiszenzen (von der diese documenta übervoll ist) natürlich ebenso eine Schatzkammer, eine der Jungfrau Maria geweihte Kirche, eine Moschee, ein Waffenlager und – natürlich – ein Raubgut der Kolonialgeschichte.

All dies war das historische Vorbild, der Parthenon in Athen, im irren Lauf der Zeiten. All das ist in jede Begegnung und jede Auseinandersetzung, ja jede Zitierung des historischen Vorbildes Parthenon eingeschrieben. Nur Baedecker-Touristen rekurrieren auf die reine Form und die primäre Funktion des athenischen Parthenon. Alle anderen aber sehen in ihm eine Kultstätte mit wechselnden gesellschaftlichen und (zivil-)religiösen Zuschreibungen. Man könnte ohne Schwierigkeiten den alten „Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen“ mit seiner Differenzierung von religiöser Funktion, ästhetischer Funktion, politischer Funktion und abbildender Funktion von Kunst am Beispiel des Parthenon durcharbeiten.[4]

In einem anderen Sinne sollte man freilich doch lieber nicht „von Athen lernen“, denn viele Details der Athener Demokratie entsprechen mehr den Vorstellungen von Pegida, Lothar de Maiziere oder Donald Trump als es den aufrechten Symbolnutzern heutiger Zeiten lieb ist.

„Sie gewährte allen männlichen Vollbürgern der Stadt Athen ab Vollendung des 30. Lebensjahres Mitbestimmung in der Regierung. Ausgeschlossen blieben Frauen, Zugezogene, unter Dreißigjährige und Sklaven. Die Anzahl der Vollbürger betrug etwa 30.000 bis 40.000 Männer, das waren rund 10 % der Gesamtbevölkerung. ... Diese antike Staatsform war nicht unumstritten, gewährte sie doch beispielsweise den Bürgern das Recht, Mitbürger, die als gefährlich für die Demokratie angesehen wurden, mit Hilfe des sogenannten Scherbengerichts (Ostrakismos) in die Verbannung zu schicken. Auch waren die Beschlüsse der Volksversammlung leicht beeinflussbar. Demagogen spielten nicht selten eine fatale Rolle in der Politik Athens.“[5]

Das sollte davor warnen, Symbole wie das Parthenon ohne weitere Reflexionen für heutige politische und gesellschaftliche Prozesse in Beschlag zu nehmen. In Kassel sammelt die Konzeptkünstlerin Marta Minujín also wie schon vor 30 Jahren noch einmal verbotene Bücher aller Zeiten, um daraus das Parthenon in 1:1-Größe nachzubilden. Sicher schwebt ihr dabei ein progressiver Diskurs über Redefreiheit, Zensur und Unterdrückung vor, der sich auf den Zusammenbruch der argentinischen Militärdiktatur vor 30 Jahren bezieht.

Dennoch scheint mir der Bezug auf den Parthenon eher ein fast schon naiv kultiviertes Retro-Klischee des 19. Jahrhunderts zu sein. Denn Minujins Bau ist nicht die erste originalgroße Nachbildung des Parthenon in Deutschland. Auf Veranlassung des bayerischen Königs Ludwig I. gibt es seit 1842 die Gedenkstätte Walhalla, die bedeutende Persönlichkeiten „teutscher Zunge“ verherrlichen soll. „Kein Stand nicht, auch das weibliche Geschlecht nicht, ist ausgeschlossen. Gleichheit besteht in der Walhalla; hebt doch der Tod jeden irdischen Unterschied auf.“ Nur „teutscher Zunge zu seyn, wird erfordert, um Walhallas Genosse werden zu können“, so Ludwig, denn die Sprache „ist das große Band, das verbindet, wäre jedes andere gleich zernichtet; in der Sprache währt geistiger Zusammenhang“.[6] Die Zwischentöne muss man dabei mitlesen.

Und auch die andere 1:1-Reproduktion des Parthenon aus dem Jahr 1897 in Nashville, Tennessee, scheint mir eher in diese Richtung zu weisen. Es sind durchaus populärkulturelle Gesten, die aber gerade durch ihre ostentative Monumentalität ihre kritischen Spitze wieder verlieren. Das gute Gefühl, das man in Kassel vermittelt bekommt, weil man ja über derartigen Zensurbestrebungen steht und vielleicht eher der Ansicht ist, „das wird man ja noch sagen dürfen“ erscheint mir überaus ambivalent.

Und wie bei den touristischen Fotos des originalen Parthenon wirkt auch der Kasseler Parthenon am besten, je distanzierter man ihn aufnimmt, wenn man also auf das Parkdeck des benachbarten Kaufhauses hochfährt und das Gebilde von weitem fotografiert. Oder wenn man es bei Dunkelheit mit touristischer Illumination abbildet.

Sobald man aber näher tritt und die rhetorische Illumination verblasst, ist es dann doch etwas enttäuschend banal. Dass auf dem Friedrichsplatz in Kassel vor dem Fridericianum am 19. Mai 1933 in der Nachahmung der „Aktion wider den undeutschen Geist“ Bücher verbrannt wurden, hätte ja auch dazu genutzt werden können, einmal über den studentischen und universitären Anteil an der Verbreitung des Ungeistes nachzudenken. So bleibt es bei der Geste, die nun en Detail auch ungerecht und maßlos (im Wortsinne) wird: wenn in der DDR der Vertrieb von Micky-Maus-Heftchen und Tarzans Abenteuern verboten war, ist das qualitativ etwas anderes, als wenn Bücher jüdischer und kommunistischer Autoren in Deutschland brannten oder Salman Rushdies Leben von Islamisten bedroht wird.

Und wie ist es mit dem Europa der Gegenwart? Wenn ich mit einigen der Schriften, die ich auf meinem Computer habe, etwa nach Großbritannien reise würde, würde ich u.U. inhaftiert, denn der bloße Besitz ist dort strafbar. Das gilt etwa für die Propaganda-Zeitschrift des IS mit ihren Bombenbau-Anleitungen. Ist das nun Zensur und gehören Dabiq oder Rumiyah deshalb auch auf den Bücher-Parthenon in Kassel? Und findet sich auch Adolf Hitlers „Mein Kampf“ unter den ausgestellten Büchern? Und ab wann wird dann ein solches Sammelsurium unsinnig? Gesten allein ersetzen noch keine politische und gesellschaftsphilosophische Reflexion.

Kritisch wäre daher mit dem Kunstwerk von Marta Minujin umzugehen, weniger im Blick auf die Arbeit der Künstlerin selbst, da diese sich historisch erklärt, wohl aber mit Blick auf die Kuratoren der documenta, die bewusst auf einen unterhaltenden Eyecatcher im Stil des Großkapitalismus der Sinne gesetzt haben.

Walter Grasskamp hat in seiner Sozialgeschichte des Kunstmuseums[7] auf die frühe Verquickung von Krieg, Religion und Kunstsammlung verwiesen. Die Schatzhäuser der antiken Gottheiten in Delphi präsentierten die im Krieg erbeuteten Kulturgüter der Feinde und wurden so zu den frühesten Museen. Selbst das bereits als Musentempel entworfene Fridericianum ist in diesem Sinne ein Präsentationsort der Herrschenden gewesen.

Nein, auch das Parthenon der Bücher ist kein wirklich geeigneter Einstiegsort, um von Athen zu lernen. Vielleicht hätte man vor oder an den Toren Kassels anfangen müssen. Also an Ibrahim Mahamas Torwachen (dem Check Point Sekondi Loco). Überaus beeindruckend, aber wie das Parthenon eine wiederholte Geste, dieses Mal sogar eine mehrfach wiederholte Geste. Irgendwann fiel mir eine, dass ich auch schon eine Installation von ihm im K21 in Düsseldorf gesehen hatte. Sicher ist die Arbeit auch eine Art Gatekeeper und Eyecatcher, aber eben doch kein Schlüssel zur documenta.

Deshalb breche ich an dieser Stelle ab und mache mich dann doch auf ins Fridericianum, dem traditionellen Kult-Ur-Ort der documenta.

-> Hier geht es weiter im Fridericianum ...

Anmerkungen


[2]    Ebd.

[3]    Ebd.

[4]    Busch, Werner (Hg.) (1997): Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen: Piper.

[5]    Wikipadia, Art. Demokratie, https://de.wikipedia.org/wiki/Demokratie#Geschichte

[7]    Grasskamp, Walter (1981): Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums. München: Beck (Beck'sche schwarze Reihe, 234).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/108/am590.htm
© Andreas Mertin, 2017