Über Ordnungswidrigkeit

Sozialethische und theologische Bemerkungen

Wolfgang Vögele

Dieter Thomä, Puer robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Suhrkamp: Berlin 2016

1.

Merkwürdigerweise scheint es um die politische Theorie stiller zu werden, obwohl gegenwärtig in der Politik ein Flächenbrand ausgebrochen ist: Die über die Jahre selbstverständlich gewordenen Konsense von Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechten, der europäischen Kooperation sowie der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit werden plötzlich angezweifelt. Rechts gebürstete Polemiker und Ideologen treten in der Öffentlichkeit auf. Die dünne Schicht des Verfassungspatriotismus in der deutschen politischen Kultur scheint plötzlich nicht mehr wasserdicht zu sein. Wenn die Bedeutung des vernünftigen, auf Fakten basierten Arguments in der öffentlichen Diskussion immer weiter abnimmt, wenn in ganz Europa rechtsdrehende Bewegungen die egoistischen Ziele der alten Nationalismen wieder geltend machen, wenn oberste Staatsvertreter mehr nach Zustimmung und Hurragebrüll gieren und sich um ihre Lügen vom Vortrag nicht mehr scheren, dann sind das nicht nur Oberflächenphänomene, sondern Krisensymptome, welche auch die politische Theorie zum Überdenken der etablierten Selbstverständlichkeiten nötigen sollten.

Wer nicht einfach die bewährten Ideen von Demokratietheorie und Menschenrechten wiederholen will, der muss neue Perspektiven darauf entwickeln. Und der Philosoph Dieter Thomä, der in St. Gallen lehrt, findet sie in der Figur des Störenfrieds, des von Thomas Hobbes so genannten puer robustus, den er in seinem neuen gleichnamigen Buch zum Ausgangspunkt eines Gangs durch die politische Ideengeschichte macht. Der Philosoph untersucht von Hobbes bis Mao Tse Tung das Verhältnis von stabiler politischer Ordnung und ihren jeweiligen Störenfrieden.

2.

Was ist ein puer robustus? „Der puer robustus – der kräftige Knabe, der starke Kerl – ist ein Störenfried. Der Störenfried stört den Frieden.“ (11)[1] Aus unterschiedlichen Gründen stellt er sich außerhalb der gegebenen (politischen) Ordnung und bringt sie durcheinander. Die Vertreter der Ordnung versuchen umgekehrt, den puer robustus zu isolieren, auszugrenzen oder gar zu vernichten. Er selbst sucht sich Öffentlichkeiten, um seine dringenden Anliegen zu verbreiten, oder Privatheit, um seine Interessen im Verborgenen zu verfolgen. Stets kommt der Einzelgänger gegen die große Mehrheit zu stehen. Die Ordnung versucht, ihre Outsider durch Machtdemonstrationen zu überzeugen. Der puer robustus besitzt keine Macht, deswegen nutzt er List und Tücke, im günstigen, tugendhafteren Fall Vernunft und Argumente. Die Ordnung macht sich über den Außenseiter lustig, macht ihn lächerlich, nimmt ihn nicht ernst, manchmal kriminalisiert sie ihn, manchmal stellt sie ihn in die vergitterte Ecke der geschlossenen Psychiatrie.

Die Klugheit von Thomäs Buch besteht darin, dass er sich nicht einfach auf eine Seite schlägt, sondern dass er unterschiedliche Perspektiven einnimmt, um diese Konstellation von Ordnung und Störung zu erhellen. Denn manche Störenfriede verfolgen nur private Interessen des Gewinns und der Profitmaximierung. Viel spannender als solche eigensüchtigen Störenfriede sind die Rebellen, die sich mit dem Ziel gegen die bestehende Ordnung wenden, eine bessere Gesellschaftsordnung zu schaffen. Störenfriede sind also entweder Egoisten, die sich keinen Deut um die bestehende Ordnung scheren, oder Revolutionäre, die ein bleibendes Interesse am Gemeinwohl und an der Verbesserung dieser Ordnung haben. Hobbes hat die Störenfriede verachtet, Rousseau hat sie mit Sympathie begleitet. Thomä nimmt Partei für die Störenfriede, die eine bessere Ordnung im Sinn haben.

Er lässt sich nun von der Intuition leiten, dass die gesamte politische Theorie seit Hobbes sich mit damit beschäftigt, wie mit Störenfrieden umzugehen ist.  „Der Streit, der sich am puer robustus entzündet hat, betrifft nicht irgendein, sondern das Problem der politischen Philosophie: die Frage, wie sich eine Ordnung etabliert und legitimiert, wie sie kritisiert, transformiert oder attackiert wird, wie Menschen von dieser Ordnung einbezogen oder ausgeschlossen werden, sich anpassen oder quertreiben. Zum Thema Ordnung gehört notwendigerweise die Störung, also auch die Rolle von Außenseitern und Randfiguren, Querulanten und Quertreibern.“ (11f.) Das ist das Grundkonzept. Der Störenfried greift vom Rand aus in die politische Ordnung ein. Und Thomä schaut sich die entsprechenden Konflikte an. Es kämpfen nicht ebenbürtige Gegner miteinander, die Konflikte sind asymmetrisch angelegt: Ein einzelner oder eine kleine Gruppe rebelliert gegen das große politische Ganze. Der Störenfried wird verachtet, heimlich bewundert oder öffentlich in den Himmel gelobt.

Thomä bezeichnet sein Buch zugleich als philosophische Abhandlung und als „Abenteuerroman“ (14), ein Ausdruck, der sein Misstrauen gegen (politische) Theorie verkörpert. Der Theorie misstraut Thomä, aber er liebt sie zugleich, und er möchte gerne mit Hilfe dieser Paradoxie denken. Es bleibt eine offene Frage, ob dieses Konzept aufgeht.

3.

Als erster hat Thomas Hobbes vom puer robustus gesprochen, der gegen den sterblichen Gott des Leviathan rebelliert. Hobbes sieht in ihm einen wilden Egoisten, der sich nicht als Untertan in die staatliche Ordnung einfügen will. Jean-Jacques Rousseau kehrt die Vorzeichen dieser Bewertung um, für ihn ist der puer robustus der gute Wilde, der eine bessere, natürlichere Ordnung an die Stelle der bestehenden Gesellschaft setzen will. Die gute, alte natürliche Ordnung will er wieder herstellen. Rousseaus puer robustus verfolgt den Plan, die fehlerhafte aktuelle Ordnung von innen zu überwinden. Bei Friedrich Schiller taucht der Störenfried als Räuberhauptmann Karl Moor auf; dieser rebelliert zuerst gegen den eigenen Vater und dann gegen die ganze Welt. Für Victor Hugo heißt der Störenfried Quasimodo: Der bucklige Glöckner der Kathedrale Notre Dame wehrt sich gegen die Zumutungen der mittelalterlichen Pariser Ständegesellschaft, weil sie sich über seine Behinderungen lustig macht. Eigentlich möchte er nur die arme Esmeralda lieben; ihm entgeht dabei, dass die Gesellschaft das als Rebellion gegen ihre eigene fragwürdige Ordnung begreift – und zurückschlägt.

Der Störenfried handelt an einer bestimmten Stelle des politischen Raums, und diese identifiziert Thomä als die Schwelle, den Übergang von Innen nach Außen. Thomä schreibt: „Ja, die Wahrheit liegt an der Grenze. Oder auch: Die Wahrheit liegt an der Schwelle. An ihr zeigt die Ordnung ihr wahres Gesicht. Die Schwelle ist nicht unüberwindlich, sondern durchlässig.“ (536) Die Schwelle ist ein Ort des Übergangs und gleichzeitig ein machtbesetzter Ort, denn es wird immer einen Machthaber geben, der entscheidet, wen er herein- oder herauslässt. Die Schwelle benötigt einen Zöllner, der den Grenzübergang zulässt oder verweigert. 

Thomä sieht in der Schwelle keine absolute Grenze, sondern einen Übergangsbereich, in dem die politischen, sozialen und psychologischen Verhältnisse sich unterscheiden, aber noch nicht ganz geklärt, also getrennt sind. Die Schwelle grenzt ab, aber sie trennt nicht. Der Störenfried stellt sich an den Rand, um von dort die Ordnung aus der Distanz oder mindestens aus seiner ganz eigenen Sicht zu betrachten. Eine Theorie des puer robustus muss sich darum für Thomä an Grenzerfahrungen orientieren. Die politische Philosophie der letzten Jahrhunderte ist für Thoma gespalten, sie hat die Schwelle in der Regel verlassen und sich nach Innen oder Außen begeben. Die einen interessieren sich für Feinde, für Außenseiter, für die Anderen, für Provokateure und Terroristen, während die entgegengesetzte Theoriegruppe nach Gemeinschaftsformen, Organisationen und Institutionen, Zivilreligionen, Bindungen und Ligaturen sucht.

Thomä unterscheidet drei Typen von Störenfrieden (z.B. 21). Der egozentrische Störenfried denkt nur an seine eigenen Interessen, er lässt Fünfe gerade sein, wenn es seinem Erfolg dient; die herrschende Ordnung spielt in seinen Gedanken keine große Rolle. Sie ist kein Wert in sich selbst, er will sie zu einem eigenen Vorteil umgehen. Der exzentrische Störenfried pfeift ebenfalls auf die Ordnung, aber er ist sich über seine eigene Position noch nicht klar; er weiß noch nicht richtig, was ihn stört. Der nomozentrische Störenfried kämpft gegen die bestehende Ordnung, um auf ihren Trümmern und Überresten eine neue Ordnung zu errichten.

Störenfried und politische Ordnung definieren sich also mit- und gegeneinander. Die Macht des Störenfrieds ist daran zu erkennen, wie die bestehende Ordnung auf ihn reagiert. Der egozentrische Störenfried ignoriert die bestehende Ordnung, der zweite will sie transzendieren und der dritte in eine neue Ordnung überführen. Umgekehrt bemisst sich der Zustand einer politischen Ordnung daran, wie sie mit ihren Störenfrieden umgeht: Sie kann sie ausschließen, ausgrenzen, vernichten, sie kann die Kritik der Störenfriede aber auch produktiv machen für ihre eigene Fortentwicklung.

Thomä beschreibt den puer robustus als „Kippfigur“ (30) und als bad guy, der Unruhe stiftet. Der Hobbes’sche puer robustus erscheint als Kraftpaket, das sich keine Gedanken über das größere politische Ganze macht. Das Kind im Manne will sehr lange nicht vernünftig werden. Irgendwann wird er aber doch schwach in seinen Provokationen, und er sieht ein, dass es vernünftig ist, die Gesetze zu befolgen, allerdings mit der Einschränkung, dass er sie nur befolgt, solange sie ihm nützen. Darüber hinaus interessiert er sich nicht für die politische Ordnung. Hobbes‘ puer robustus handelt für Thomä nach dem Prinzip der rational choice. Er spielt nur nach den Regeln, wenn es ihm passt. Vernünftig ist, was seinen Interessen dient, auch hart am Rand der Illegalität. Störenfriede können bei Hobbes Arme oder Reiche sein. Arme schummeln aus Not, die Reichen schummeln, weil es ihnen nichts ausmacht, nach dem Ertapptwerden eine geringe Strafe zu bezahlen. Sie nutzen die Lücken der Steuergesetzgebung und transferieren Geld auf Nummernkonten in der Schweiz oder gründen gleich eine Briefkastenfirma in Panama. Für Hobbes führt der Störenfried einen Kampf gegen die Gesellschaft. In diesem Kampf wird er zuerst zum Individualisten und dann zum Egoisten. Er denkt keineswegs an die Verbesserung der Ordnung, sondern verbeißt sich in einen aussichtslosen Kampf.

Nach Hobbes und Rousseau der dritte Theoretiker des Störenfrieds ist Denis Diderot. Der Störenfried zeigt sich vor allem in seinem kurzen Roman „Rameaus Neffe“. Für Diderot wird der Störenfried in dieser Gestalt kreativ, sein puer robustus ist ein denkender Philosoph, der die Grenzen des Pragmatismus überschreitet, Alternativen auslotet und mit der Welt spielt, um für sich das Beste daraus zu machen. Und wer mit der Ordnung der Welt in Gedanken spielt, der kann sie auch verändern. Rameaus Neffe opponiert nicht fundamental gegen die Ordnung, aber er rüttelt an ihren Grenzen. Dafür empfindet auch Thomä Sympathie.

Angeblich will sich Thomä nur an denjenigen philosophischen Protagonisten orientieren, die Hobbes‘ berühmtes Zitat vom puer robustus aufnehmen. Aber er muss auch Kompromisse eingehen, vor allem bei Friedrich Schiller und Richard Wagner, die beide nicht explizit vom puer robustus sprechen: „Den Tanz aus der Reihe könnte ich damit rechtfertigen, daß Regeln in einem Buch über Regelbrüche nicht allzu ernst zu nehmen sind.“ (167) Das klingt sehr lässig! Bei Schiller stehen sich in den „Räubern“ Franz und Karl Moor gegenüber, bei Wagner ist es die Figur des naiven Siegfried aus dem „Ring der Nibelungen“, der in seinem Allmachtswahn in der „Götterdämmerung“ die Weltordnung erst zerstören muss, bevor die Sonne der Revolution neu aufgeht.  Bei Schiller steht der egozentrische gegen den nomozentrischen Störenfried, und beide geraten miteinander in einen Konflikt. Auch bei ihnen zeigt sich: Interessanter als die Querulanten, die den Streit um seiner selbst willen betreiben, sind die intellektuellen und anarchistischen Störenfriede, die eine bestimmte Idee, sei sie ästhetisch oder politisch, um der Verbesserung und Reform willen verfolgen.

In der bundesdeutschen Politik haben sich das in den letzten Jahrzehnten stets die Grünen zu Eigen gemacht, mit ihrer Wertschätzung von gewaltfreiem Protest, zivilem Ungehorsam und der idealtypischen Figur des Whistleblowers. Nach den in Fundamentalopposition verbrachten Gründungsjahren in den Achtzigern und Neunzigern näherten sich die Grünen seit der Jahrtausendwende einem realistischeren Politikmodell. Das ging damit einher, dass die Realos in der Partei immer mehr Regierungsbeteiligungen durchsetzen konnten. Trotzdem blieb den Grünen der Beißreflex des Oppositionellen und damit der Habitus des puer robustus erhalten. Whistleblower wie Edward Snowden konnten sich im Übrigen selten auf die Unterstützung einer Partei verlassen. Genau diese Unterstützung erhielten sie erst, nachdem sie mit ihren Informationen an die Öffentlichkeit gegangen waren. Man könnte sagen: In Parteien wie den Grünen organisiert sich der puer robustus zur politisch relevanten Gruppe. Die Gefahr besteht darin, dass Rechthaberei und Provokation zum Habitus um seiner selbst willen werden.

Sigmund Freud bezieht sich, wie Schiller und Wagner, nicht auf Hobbes‘ Zitat vom Störenfried. Trotzdem widmet ihm Thomä ein langes Kapitel. Der Abenteuerroman ist nun endgültig im Dschungel der politisch-psychologischen Theorie gelandet. Und Freud, so liest Thomä ihn, hat die politische Theorie psychologisiert. Er identifiziert staatliche und politische Ordnung mit Vater[2] und Über-Ich. Psychologie und Politik schieben sich ineinander und erhalten von daher eine grelle neue Beleuchtung. Insofern findet Thomä im Dschungel seines Abenteuerromans immer wieder Lichtungen, die eine Denkpause lohnen, auch wenn er den eigenen Ausgangspunkt längst hinter sich gelassen hat.

Bei Freud ist der puer robustus der Sohn, der seine Mutter liebt und sich irgendwann gegen seinen übermächtigen Vater durchsetzen muss. Die spannende Frage lautet: Was geschieht, wenn der Sohn sich gegen den übermächtigen Vater durchgesetzt hat? Wie geht er dann – auf der horizontalen Ebene – mit den anderen Söhnen um, die neben ihm leben? Freud denkt darüber am Beispiel der Urhorde nach, und er empfand offensichtlich eine gewisse Vorliebe für homoerotisch geprägte Männerbünde, in denen die Frauenfrage dadurch geklärt war, dass diese zum Bund gar nicht erst zugelassen waren.

In Freuds Umfeld, bei seinen Schülern und Bewunderern verstärkte sich diese Tendenz, und Thomä zitiert ausführlich aus den Schriften des Rechtspositivisten Hans Kelsen und aus Thomas Manns ‚Betrachtungen eines Unpolitischen‘. Bei Thomas Mann verwundert das nicht, dass ihn die angeblich homoerotische Seite der Demokratie faszinierte. Die gleichberechtigten Männer reduzieren sich auf ihre homoerotischen Anteile, damit sie nicht mit den wahlberechtigten Frauen streiten. Homosexualität wäre dann für Thomas Mann die einzig demokratiefähige Form der Erotik. Die Integration der Störenfriede in eine bestehende Ordnung kommt offensichtlich ohne Ausgrenzungen nicht aus.

Mit Hans Kelsen und Thomas Mann optiert Thomä für eine Demokratie, in der die Bürger auf Querulantentum und unbedingtes Gewinnstreben verzichten, um des Nächsten und Anderen willen. Die soziale Rolle des Störenfrieds lohnt sich nur, wenn sie mit dem Ziel einer besseren Ordnung verfolgt wird. Von Kelsen (und Lévy-Bruhl) übernimmt Thomä den Begriff des „Misoneismus“ (388), den Hass auf alles Neue. Politische Ordnungen tendieren zum Erstarren, sie wollen sich nicht mehr verändern. Thomä entdeckt diesen Hass auf das Neue vor allem bei Carl Schmitt (394) und den restaurativen Politologen, Staatsrechtlern und Soziologen der „skeptischen Generation“ (Helmut Schelsky), die sich, Schmitt folgend, gegen die Studentenrevolte ihrer Söhne und Töchter in den 60er Jahren wandten. Hinter dem Kampf des puer robustus gegen die bestehende Ordnung verbirgt sich in dieser Variante der Kampf des revoltierenden unerzogenen Sohnes gegen den etablierten Vater.

Die Überblendung von Sohn und Störenfried ist verdächtig. Manchmal überkommt den Leser bei der Lektüre der Eindruck, für Thomä seien alle Menschen Störenfriede, und darin liegt eine erhebliche Herausforderung. Denn weder handelt es sich beim Störenfried um eine etablierte Rolle noch bei der Ordnung um eine festgefügte, institutionell fixierte Struktur. Beides ist in einer Gesellschaft auf eine bestimmte Weise im Fluss. Störenfried ist keine Dauerrolle, und Ordnung kein nachhaltig fixierter Zustand. Beides ist in Bewegung. Das Verhältnis von Ordnung und Störung ergibt sich aus den Problemen, den Schwierigkeiten, die bearbeitet werden sollen. Niemand hat die Wahl zwischen Sich-Einfügen in die Ordnung und Übernahme einer Rolle als Störenfried. Bürgerinnen und Bürger orientieren sich an ihrer eigenen Lebens- und Alltagserfahrung und schlagen sich auf die Seite der Ordnung mit Blick auf das, was beibehalten werden soll, und auf die Seite des Störenfrieds, wenn es ihnen um Veränderungen zu tun ist. Kaum jemand übt Fundamentalopposition wie Henry David Thoreau, der sich aus der zivilisierten Stadt in die Waldhütte des Eremiten und Zivilisationskritikers zurückzog.

Man muss die Veränderungsenergie, die in jedem Menschen steckt, nicht notwendig als Störenfried auf die bestehende Ordnung projizieren, jeder ist frei, diese Energie auch auf sich selbst zu lenken und sich durch Training, Übung, Askese zu verändern, wie das Peter Sloterdijk in seinem Buch „Du mußt dein Leben ändern“[3] beschrieben hat. All das aber fällt bei Thomä weg. Er bewegt sich nur im Rahmen der Gleichungsfrage: Wie lassen sich Ordnung und Störung in die Balance bringen? Nicht jeder Jugendliche aber, der sich sinnlos betrinkt und randaliert, bringt gleich die Ordnung der Gesellschaft ins Wanken. Gerade in einer Demokratie ist mit einem politisch und juristisch institutionalisierten Selbstveränderungsprozess der Ordnung zu rechnen, der zwar sehr langsam und manchmal behäbig erscheinen mag. Dennoch handelt es sich um einen Veränderungsprozess. Thomä, so ergreift einen das Gefühl, will beides zugleich: mit dem Störenfried Abenteuer erleben und von der Ruhe und Ordnungen, des juristisch und politisch strukturierten Staates profitieren. Zwischen Ruhestörung und Provokation sowie stillgestellter Ordnung gibt es immer noch die Reform, ohne die keine Gesellschaft bestehen kann. Wer es mit der Reform übertreibt, wird zum Querulanten, und diesem gilt zu Recht Thomäs Kritik. Wer Reformen trotz Notwendigkeit unterlässt, wird zum Spießbürger strukturkonservativer Prägung.

Demokratie benötigt Bürger, die zugleich auf sich selbst und auf die anderen schauen. Wer auf Querulantentum verzichtet, der rüstet die Mauern des eigenen Egoismus ab. Er wägt eigene Interessen mit denen der anderen ab, und schon damit ist der Blick weg von den eigenen Interessen auf die Interessen der Anderen gegeben. Das Ich verzichtet – mindestens ein Stück weit - auf seinen eigenen Egoismus und baut Vertrauen zum Anderen auf. Dieses Vertrauen beruht auf der Erkenntnis, dass der andere von den gleichen Interessen, Gedanken und Emotionen geprägt ist wie das Ich selbst. Totalitäre Ordnungen und Bürokratien brechen dieses Gefühl für die Gleichheit mit den anderen gerne auf, indem sie vermeintliche Querulanten und Störenfriede isolieren und in die Einsamkeit treiben.

Thomä spricht zuletzt für die Gegenwart von einer Normalisierung (493) der verschiedenen Typen des Störenfrieds. Sie gliedern sich der demokratischen Gesellschaft ein, und ihre Quertreiberei wird nicht mehr als staatsgefährdend betrachtet. Aber ob das stimmig ist? Am Ende schreibt Thomä: „Mit dem Übermut, der am Ende eines solchen Buches vielleicht erlaubt ist, sei gesagt: Die gegenwärtige Lage ist bestimmt durch einen Kampf, den der puer robustus mit sich selbst führt. (…) Die Szene füllt sich gleichzeitig mit verschiedenen, krass voneinander abweichenden Störenfrieden. Sie geraten in Streit miteinander und legen sich zugleich auf je eigenen Weise mit der politischen Ordnung an.“ (491) Die alten, vertrauten Muster des politischen Streits, Demokratie vs. Diktatur, Ost gegen West, Europa gegen Asien, Erste gegen Dritte Welt haben sich aufgelöst. Aber an ihre Stelle ist nicht das Ende der Geschichte (Francis Fukuyama), sondern ein Chaos getreten, das von unterschiedlichen Störenfrieden geprägt wird: Trump gegen das Establishment in Washington, D.C., Putin gegen den Westen, Tsipras gegen die Europäische Union, Le Pen, Wijlders und andere gegen den demokratischen Konsens Europas, die IS-Terroristen gegen die westliche Welt und so weiter. Es ist fast so, als ob sich überall Ordnungen, Verbindlichkeiten und Selbstverständlichkeiten des politischen Umgangs miteinander auflösen würden. Und es ist schon merkwürdig, wenn wie gegenwärtig in den USA der unberechenbarste Störenfried des ganzen Landes das Amt des Präsidenten ausübt.

Insofern besitzt das Gegenüber von Störenfried und Ordnung analytische Aufschluss kraft für die gegenwärtige politische Situation. Und doch ist die Frage zu stellen, ob eine Metapher ausreicht, um als Leitfaden für eine politische Theorie zu dienen. Auf der einen Seite weckt die Metapher weitere Assoziationen, man entdeckt zusätzliche Konstellationen von Störenfried und Ordnung, in der Theologie und in der Kunst, im Theater und in der Oper, aber Thomä lässt das alles links liegen. Auf der anderen Seite wirkt die Auswahl an Störenfrieden, die er getroffen hat, begrenzt und willkürlich. Er konzentriert sich auf die politische Philosophie und lässt das Recht beiseite, obwohl gerade das Recht sich mit der Abwägung von Grenz- und Schwellenfällen beschäftigt. Eine Ausnahme bei Thomä bilden die Schriften des Rechtspositivisten Hans Kelsen, der aber nur in den Blick kommt, weil er mit Sigmund Freud befreundet war. Das Bild vom puer robustus schillert und es ist an den Rändern ausgefranst.

Zwischen (gesellschaftlicher) Ordnung und individualistischem Störenfried öffnet sich ein garstig breiter Graben. Merkwürdigerweise fehlen bei Thomä alle vermittelnden Institutionen wie Parteien, Kirchen, Interessengruppen, Gewerkschaften und andere Assoziationen der Zivilgesellschaft.[4] Thomä kann sich nur Einzelkämpfer gegen das Ganze vorstellen, und das versetzt seiner Theorie eine heftige Schlagseite. Er pendelt dann entlang des Stichworts von der ‚glocalization‘, was bei ihm dann heißt: lokal stören, global etwas verändern. Der puer robustus der Gegenwart – so Thomä – nutzt die zunehmende glocalization, er operiert gleichzeitig auf globaler und lokaler Ebene, Thomä spricht von einem „glokale[n] double bind“ (500). Radaubrüder, vermummte Autonome, rechte Störer werden abgelehnt. Thomä spricht daneben vom massiven Störenfried, der mehr durcheinanderbringt als geplant, und er nennt als Beispiel den norwegischen Attentäter Anders Breivik. Im Angesicht des Terrors und der Attentate von welcher Seite auch immer „wächst die Wertschätzung für Ruhe und Ordnung“ (530). Aber Sicherheit und Ruhe haben ihren Preis, den Bürger und Staat in Form von Steuern und Sicherheitsmaßnahmen bezahlen müssen.

4.

Thomä konzentriert seinen „Abenteuerroman“ über den Störenfried auf die politische Theorie. Er konzediert seinen Kritikern, dass er die Auswahl seiner Störenfriede willkürlich getroffen hat. Bei willkürlichen Auswahlvorgängen kann der Kritiker fragen, was fehlt, und vorschlagen, wer zu ergänzen wäre. Hier seien zwei Ergänzungen vorgeschlagen. Zum einen: Thomä sieht selbst, dass alle seine Störenfriede „so verdammt männlich“ (15) agieren und zu einem gewissen Individualismus neigen. Zum anderen: Die Konstellation von Störung und Ordnung hat auch eine eminent theologische Seite, und zwar auf mehreren Ebenen.

Weibliche Störenfriede, die puellae robustae fehlen beim Autor. Alle von Thomä beschriebenen Störer sind männlich. Thomä sieht selbst, dass seine Störenfriede „so verdammt männlich“ (15) sind und zum Individualismus neigen. Der puer robustus ist für ihn Kind, Jugendlicher, Halbstarker – und vor allen Dingen Sohn[5]. Die psychologische und die politische Komponente verschränken sich bei ihm. Die puella robusta wäre dagegen durch ein anderes politisches und psychologisches Setting charakterisiert. Wer käme als störende Tochter in Frage: Antigone, die Mitleid über Recht und die monarchische Ordnung Kreons in Frage stellt? In Frage käme aus Wagners „Ring des Nibelungen“ die ihrem Vater Wotan abtrünnige Walküre Brünhilde, die in der „Walküre“ das Gebot des Vaters bricht und dafür zu ewigem Schlaf verurteilt wird und dann bei ihrem Retter Siegfried vergeblich zu retten versucht, was noch zu retten ist. Bei Wagner sieht es so aus, als sei sie eine sehr viel klügere und reflektiertere Rebellin als der naive, vor Kraft strotzende Siegfried, der die auf ihn kommenden Probleme zuerst mit dem Schwert löst, bevor er darüber nachdenkt. In Frage kämen auch, näher an der Gegenwart, Hannah Arendt im Gegenüber zu ihrer verborgenen Liebe Martin Heidegger oder Simone de Beauvoir im Gegenüber zu ihrem Lebensgefährten Jean Paul Sartre. Die Reihe der Störenfriedinnen (furchtbares Wort!) ließe sich noch erheblich verlängern.

Aber am meisten hätte eine literarische Figur Nathaniel Hawthornes diesen Titel der puella robusta verdient, nämlich Hester Prynne aus seinem Roman „Der scharlachrote Buchstabe“[6]. Hester ist eine schwangere Frau in einer neuenglischen Stadt des 17. Jahrhunderts. Die Schwangerschaft verrät ihren Ehebruch. Die Verurteilung durch Stadtrat und Konsistorium zwingt ihr das Kainsmal des Buchstabens „A“ für die Ehebrecherin auf. Ihre „Rebellion“ gegen die herrschende Ordnung besteht nun genau darin, dass sie auf jede Anklage, Rache oder auf einen „Kampf“ gegen ein ungerechtes System gerade verzichtet. Das wäre auch nach Hawthornes Meinung völlig aussichtslos gewesen, sie hätte in diesem Fall nur weitere Verurteilungen und Demütigungen in Kauf nehmen müssen. Hester provoziert durch ihre Duldung. Durch diesen stummen Protest aber erreicht sie mit Geduld und Nachhaltigkeit, dass sich in der Aufdeckung der wahren Geschichte, in der Entlarvung des frommen Predigers als Verführer, das soziale System, die von Thomä so apostrophierte „Ordnung“, umso sicherer ad absurdum führt – so sehr, dass das Kainszeichen des Buchstabens auf ihrer Kleidung am Ende zu einer Art Orden wird, den sie zuletzt wie eine Auszeichnung trägt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Hester Prynnes Ordnungsstörungen typisch für eine Frau sind, aber sie sind ein großartiges Beispiel für eine prima facie nicht-politische und nicht-revolutionäre Störung, die mit Geduld und Beharrlichkeit (am Ende auch im politischen Bereich) mehr erreicht, als es vermeintlich „männlicheren“ Formen der Störung je möglich wäre.

5.

Schließlich soll noch darauf verwiesen werden, dass das Wechselspiel von Störung und Ordnung eine eminent theologische Komponente besitzt. In diesem Fall tritt zum Verhältnis von Vätern und Söhnen das Verhältnis von Gott und Mensch, mit allen Nuancen zwischen Sünde und Gottebenbildlichkeit. Dass Thoma darüber kein Wort verliert, ist ihm nicht vorzuwerfen, denn er wollte ja ein Buch über politische Theorien schreiben. Aber all die biblischen Geschichten von Störung und Ordnung, die theologisch aufgeladene sind, geben dem Thema nochmals eine andere Farbe. Die ersten Rebellen sind Adam und Eva, die im Paradies die Früchte vom Baum der Erkenntnis essen und dafür einen hohen Preis bezahlen (Gen 3). Damit wird das Rebellentum in die anthropologische Grundkonstruktion des Christentums, das Gegenüber von Sünde und Gottebenbildlichkeit hineinmontiert. Zu erwähnen wäre auch das Beispiel des Propheten Jona. Dieser flieht zuerst vor dem Auftrag Gottes, die Menschen im fernen Niniveh zur Buße zu rufen. Der Walfisch erst spuckt den Propheten an den Strand zurück und hilft ihm auf den richtigen Weg. Dazu kommt die Geschichte mit dem schattenspendenden Baum, den Gott verdorren lässt und an dem sich Jona stört.

Noch interessanter sind Gleichnisse und Geschichten des Neuen Testaments. Der zwölfjährige Jesus ignoriert die Anweisungen seiner Eltern und diskutiert mit den Schriftgelehrten (Lk 2,41-52). Während diese Erzählung mit ihrem pubertären Anstrich noch eher in die Vorgeschichte des öffentlichen Wirkens Jesu zu gehören scheint, werden im Gleichnis vom verlorenen Sohn theologische, psychologische und politische Aspekte von Rebellentum und Ordnung verhandelt (Lk 15,11-32). An der erzählten Geschichte fällt sehr auf, wie dieses Verhältnis aus mindestens drei Perspektiven (des jüngeren, des älteren Sohnes und des Vaters) verhandelt wird. Der jüngere Sohn scheitert, der Vater gewährt ohne Zögern Gnade, ohne das Recht durchzusetzen, und der ältere Sohn protestiert gegen die fehlende Rechtssicherheit. Diese Konstellation im Blick auf das Verhältnis von Provokation und Ordnung auszuloten, scheint mir lohnenswert. Die Bedeutung dieses Gleichnisses zeigt sich auch daran, dass es in der Literatur immer wieder aufgenommen, zum Beispiel in Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“.

Dabei ist nicht zu vergessen, dass sich mit dem Johannesevangelium eine Schrift in der Bibel findet, in der wiederholt die Untrennbarkeit, sogar Ununterscheidbarkeit von (Gott-)Vater und Sohn betont wird. „Ich und der Vater sind eins“, wird der johanneische Christus nicht müde zu wiederholen (Joh 10,30). Aber der johanneische Christus stört nicht die göttliche Ordnung seines himmlischen Vaters, er ist ein Anti-Störenfried. Genau durch diese (theologische) Einheit zwischen Vater und Sohn wird er aber auf einer anderen Ebene zum Störenfried für Pharisäer und Schriftgelehrten, mit denen er sich im Johannesevangelium heftige Dispute liefert.

Das biblische Verhältnis von Störung und Ordnung ist weiter interessant, weil, wie Lyndal Roper in ihrer Luther-Biographie[7] gezeigt hat, der Protestantismus in seiner Entstehungszeit auf der Intervention eines theologischen Störenfrieds beruht, der zwar 1517 noch ein Mönch und Theologieprofessor war, der aber genau diese Rolle des Störenfrieds (und puer robustus – wie Thomä sagen würde) innerhalb der katholischen Kirche annahm und perfektionierte – bis zur Gründung einer neuen evangelischen Kirche. Ohne dass das jetzt weiter ausgeführt werden kann, ist die Rolle des puer robustus (zuerst im theologischen, dann aber auch im politischen Sinn) in die Gründungsgeschichte des Protestantismus fest einzementiert.  Und gerade Ropers psychohistorischer Ansatz, die Biographie zu entschlüsseln, bringt Luthers antikatholisches Rebellentum mit allem Pathos und aller Ernsthaftigkeit zur Anschauung, in einem faszinierenden Amalgam aus Psychologie und Theologie. Und insofern hat sich auch der Protestantismus bis in die Gegenwart nicht von diesem Hang zu Provokation und Abweichung befreien können, so staatstragend und obrigkeitshörig er zu Zeiten auch gewesen sein mag.

Das Verhältnis von staatsbürgerlichem Gehorsam, die berüchtigte Forderung des Paulus nach Gehorsam gegenüber aller Obrigkeit (Röm 13,1ff.) und der Widerstand gegen die Tyrannei auf der anderen Seite ist ein altes Thema der politischen Ethik des Protestantismus. Damit schließt sich der Kreis zwischen Bibel, Theologie und Politik. Exemplarisch lässt sich das noch an der Demokratie-Denkschrift[8] der EKD aus dem Jahr 1985 zeigen. An wenigen Stellen thematisiert diese Denkschrift den zivilen Ungehorsam, was als Habitus der Person zuzuordnen wäre, die Thomä den nomozentrischen Störenfried nennt. In den achtziger Jahren war der zivile Ungehorsam gemünzt auf den Kampf gegen Mittelstreckenraketen und atomare Abrüstung.[9] In diesem Zusammenhang stellt die Denkschrift die Frage nach dem „Widerstehen des Bürgers gegen einzelne gewichtige Entscheidungen staatlicher Organe, wenn der Bürger die Entscheidung für verhängnisvoll und trotz formaler Legitimität für ethisch illegitim hält.“ Genau dieses halten die Autoren der Denkschrift für erlaubt, denn jemand, der so handelt, „will damit nicht das ganze System des freiheitlichen Rechtsstaats in Gefahr bringen. Sieht jemand grundlegende Rechte aller schwerwiegend verletzt und veranschlagt dies höher als eine begrenzte Verletzung der staatlichen Ordnung, so muss er bereit sein, die rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Es handelt sich dabei nicht um Widerstand, sondern um demonstrative, zeichenhafte Handlungen, die bis zu Rechtsverstößen gehen können.“[10]

Es würde sich lohnen, diese wenigen Hinweise zu einer theologischen Theorie des Störenfrieds aus der Sicht des Protestantismus auszuarbeiten. Dieses sollte auch in kritischer Absicht gegenüber der klerikalen Bürokratie[11] geschehen, denn letztere fordert durch Fehlentwicklungen und Irrwege den Protest eigener Störenfriede heraus. Im Rahmen einer Rezension fehlt dafür aber der Platz.

6.

Ebenso fehlt der Platz, nun noch auf die Verwandtschaften einzugehen, die sich zwischen dem puer robustus, der in der Politik und der Theologie rebelliert, und dem outsider, der dem etablierten Kunstmarkt den Rücken kehrt, einzugehen. Und es wären hier eine Reihe von Verwandtschaften zu markieren, wenn auch der outsider[12] eher ein Individualist (vielleicht ein Eigenbrötler) ist, der die Kohäsivkräfte von politischer Ordnung und sozialem Zusammenhalt ignoriert anstatt sie wie der puer robustus mit revolutionären Absichten zu bekämpfen.

Thomäs anregendes und lesenswertes Buch ist zu lesen als der erste Versuch, eine politische Philosophie des 21.Jahrhunderts zu schreiben. Diese reagiert auf eine politische Lage, die charakterisiert ist durch Globalisierung, Migrationsströme, das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und eine Krise etablierter Ordnungen, von der Demokratie bis Europa. Mit Thomäs Reflexionen hat die politische Philosophie darauf eine erste, nachdenkenswerte Antwort gefunden. Die Antwort der politischen Ethik des Protestantismus steht noch aus.

Anmerkungen

[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das genannte Buch von Thomä.

[2]    Zur Frage der Vater-Figuren vgl. Wolfgang Vögele, Den Vater durchs Leben tragen. Über Väter und das Vater-Buch von Botho Strauß, Tà Katoptrizómena, H.93, 2015, http://theomag.de/93/wv14.htm.    

[3]    Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt/M. 2009. 

[4]    Dazu Wolfgang Vögele, Kirchen als freiwillige Assoziationen der Zivilgesellschaft. Theologische Überlegungen im Anschluss an Ronald Thiemanns Rezeption des Kommunitarismus, PTh 87, 1998, 175-183.

[5]    Nicht zufällig hat Thomä auch eine philosophische Studie über Söhne und Väter publiziert: Dieter Thomä, Väter: Eine moderne Heldengeschichte, München 2008.

[6]    Nathaniel Hawthorne, Der scharlachrote Buchstabe, München 2014 (1850). Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Hester und Jim. Zur Aktualität zweier klassischer Romane, tà katoptrizómena H.91, 2014, http://theomag.de/91/wv13.htm.

[7]    Lyndal Roper, Der Mensch Martin Luther: Die Biographie, München 2016.

[8]    Kirchenamt der EKD (Hg.), Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe, Gütersloh 1990 (4.Aufl., 1985).

[9]    Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Leben und Überleben. Der Lebensbegriff im Kontext der protestantischen Friedensbewegung in Deutschland, in: St. Schaede, R. Anselm, K. Köchy (Hg.), Das Leben. Historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Bd.3, Religion und Aufklärung 27, Tübingen 2016, 141-162.

[10]   A.a.O., Anm. 8, 21f.

[11]   Dazu Wolfgang Vögele, Das Abendmahl der Aktenordner. Bemerkungen zum Verhältnis von Theologie und Kirchenleitung, Ta Katoptrizómena, H.90, 2014, http://www.theomag.de/90/wv12.htm.

[12]   Vgl. dazu die übrigen Beiträge dieses Heftes.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/wv33.htm
© Wolfgang Vögele, 2017