Vor allem nackter Sünder?

Der zerbrochene Krug in der Regie von Michael Thalheimer

Hans–Jürgen Benedict

Das Lustspiel Der zerbrochene Krug von Heinrich von Kleist beginnt mit einem theologisch aufschlussreichen Dialog zwischen dem Dorfrichter Adam, der sich zu Dienstbeginn morgens gerade sein Bein verbindet und seinem Schreiber Licht. Dieser fragt: Ei, was zum Henker, sagt, Gevatter Adam, was ist mit euch geschehn? Wie seht ihr aus? Darauf Adam: Ja, seht! Zum Straucheln brauchts doch nichts als Füße. Auf diesem glatten Boden, ist ein Strauch hier? Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst. Licht: Nein sagt mir Freund! Den Stein trüg jeglicher-? Adam: Ja, in sich selbst! Licht: Verflucht das! Adam: Was beliebt? Darauf Licht: Ihr stammt von einem lockern Ältervater, der so beim Anbeginn der Dinge fiel und wegen seines Falls berühmt geworden.

Die damit deutlich gewordene Anspielung auf die biblische Sündenfallgeschichte wird dann in Kleists Komödie dramatisch entfaltet. Der Dorfrichter heißt nicht umsonst Adam und die bedrängte Unschuld, der er in seiner Geilheit nachstellt, wird nicht zufällig Eve genannt. Der Richter soll den Fall des zerbrochenen Krugs aufklären. Zur Verhandlung steht aber eigentlich sein eigenes Vergehen: dass er die Nacht zuvor Evchen unter dem Vorwand ihr zu helfen, bedrängt hat, ihm zu Willen zu sein, von ihrem Verlobten Ruprecht überrascht wurde und dieser dem Fliehenden zwei Schläge mit der Türklinke versetzte, wobei nicht nur die Perücke verloren, sondern eben der titelgebende Krug zu Bruch ging, um dessen Ersatz Evchens Mutter nun vor Gericht klagt.

Der Dorfrichter Adam ist eine pralle Figur, die von großen Schauspielern gerne dargestellt wird. Er versucht natürlich sein Vergehen zu verbergen und redet sich immer mehr in seine Lügen und Verstellungen hinein. Er ist zugleich Ankläger und Angeklagter, Verfolger und verfolgter, gerissen und doch bemitleidenswert. Er lässt sich von seinen Trieben bestimmen, er säuft, frißt, hurt und lügt, was das Zeug hält, hat dabei aber immer noch soviel Verstand, sich um die Erkenntnis der Wahrheit zu drücken oder auf sein Amt zu pochen. Er ist, theologisch gesprochen, der gefallene Mensch, siehe die Eröffnungsszene, der mit allen Mitteln ums Überleben kämpft. Seine Schwächen werden aber von Kleist so humoristisch-vital dargestellt, dass er fast als eine tragische Figur erscheint.

In seiner Inszenierung im Deutschen Schauspielhaus, die am 24.3.2017 Premiere feierte, verzichtet der oft zu Recht als Stücke-Verdichter gefeierte Michael Thalheimer weitgehend auf diese komödiantische Entfaltung des (Sünden-)Falls und lässt sofort die Katze aus dem Sack. Der Dorfrichter (Carlo Ljubeck) kriecht nackt und blutverschmiert (eine Mischung von Gekreuzigtem und Golomb in Herr der Ringe) auf die Bühne und versucht schleimig, sein Vergehen zu verbergen. Damit ist die Schuldfrage visuell von Beginn an geklärt und der Witz des ganzen Stücks geht leider weitgehend verloren - die von dem überraschend das Gerichtswesen in Adams Dorf inspizierenden Gerichtsrat Walter (Markus John) angesetzte Verhandlung, in der letztlich trotz all seiner Ausflüchte, Verdrehungen und Lügen die Schuld Adams zutage tritt. Adam fläzt sich in seinem erhöht positionierten Richtersessel, während die Anklägerin Frau Marthe (Anja Lais) mit ihrem Krug, der Angeklagte Ruprecht (Paul Behren) und sein Vater Veit (Aljoscha Stadelmann), die Zeugen Eve (Josefine Israel) und die Muhme Brigitte (Ute Hannig) in einem niedrigen Raum gebückt ihre Einlassungen vorbringen müssen, Gerichts-Hierarchie räumlich umgesetzt (Bühne: Olaf Altmann). Das Schwergewicht der Handlung verlagert sich von der Richter-Ebene auf die Eltern-Kind-Konflikte – der gewalttätige Ausfall des Vaters gegen seinen Sohn, die mangelnde Solidarität der Mutter mit ihrer Tochter beeindrucken in ihrer Gefühlskälte, die gut lutherisch mit dem 4. Gebot gerechtfertigt wird. Schließlich als die Schuld des Richters durch das Zeugnis der Muhme Brigitte, die die Perücke des Richters im Birnen-Spalier fand, schon fast erwiesen ist, fährt der Gerichtsraum mit allen Protagonisten in den Bühnenhintergrund zurück und allein Eve bleibt vorne stehen und schildert, wie es sich tatsächlich zugetragen – der Richter Adam, der sie mit einem gefälschten, Ruprecht vor der Konskription rettenden Papier erpressen wollte, hat den Krug zerbrochen, als er aus ihrem Zimmer floh. Thalheimer lässt den Variant-Schluss spielen, in dem der Gerichtsrat Walter ihr die Goldstücke zuwirft, die Ruprecht aus der Konskription auslösen können, falls es doch zu einer Entsendung in die Kolonien kommen sollte. Doch damit ist die Herrschaft männlicher Gewalt nicht beendet. Thalheimer lässt Walter sich Eve nähern und ihr an den Busen greifen. Auch das Geld als neuer Gott ist kein Garant der Verlässlichkeit und Wahrheit. Abdunkelung, Vorhang, Schluss der angeblichen Komödie, die wie das sogenannte Fluchwort der Sündenfallgeschichte mit der Befestigung der Herrschaft des Mannes endet: „Dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, er aber soll dein Herr sein.“ (Genesis 3,16b)

In der anderen Fassung des Stücks flieht Adam, als er schließlich entdeckt ist, mit seinem Klumpfuß von der Bühne. Man könnte sagen, Adam ist eine Figur, die den Mitspielern ihre Unschuld vorspielen will und dabei scheitert. Und doch nicht ganz verdammt wird, denn wir sind in der Komödie. Wenn die Kasse stimmt, sagt der Gerichtsrat Walter, dann kann er im Amt bleiben. Der Autor geht mit Adam um wie ein gnädiger Gott, der ein Auge zudrückt.

Thalheimers Lesart des Stücks und ihre theatralische Umsetzung entlässt uns nicht so versöhnt mit der „gebrechlichen Einrichtung der Welt“, um an eine von Kleist wiederholt gebrauchte Formel der conditio humana zu erinnern. Aber wird er damit Kleist gerecht? Kleist war theologisch ein Lutheraner. Trotz seines Gerechtfertigtseins bleibt der Mensch ein Sünder, simul iustus et peccator, bleibt „alter Adam“ (der Begriff wird im Stück genannt), den wir nach Luther täglich ersäufen müssen, wozu uns das Bad der Taufe auch instand setzt (und der Dorfrichter Adam war sicher getauft.) Ja, man könnte sagen, es gibt keinen Dramatiker, der wie Kleist die menschliche bzw. christliche conditio des simul iustus et peccator so entschieden umsetzt wie Kleist. Die große Kunst Kleists besteht darin, dass er für diese Theologumena poetische Bilder findet – der zerbrochene Krug mit der leeren Stelle, wo einst die niederländischen Provinzen und „jetzo nichts“ ist, die Perücke, die das Amt kleidet (wie die Felle, die Gott dem sündigen Menschen macht) und schließlich die aberwitzige Sprache der Selbstrechtfertigung, die mit Adam und Evas Verteidigungsrede im Paradies begonnen hat. „Wir sind Rechthabezwerge“ (Martin Walser). Das hat seine komischen Seiten. Denn das Nichtaussprechen der Wahrheit hat ein Aneinandervorbeireden zur Folge, das den dramatischen Witz des Stücks ausmacht. Indem Thalheimer Adam von Anfang an als bloßgestellten, schon überführten nackten Sünder zeigt, nimmt er seiner lutherischen Doppelnatur den Witz. Ich erinnere noch mal an den Anfang und die stupende theologische Einsicht: „Ein jeder trägt den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst.“ Das ist die theologische These, die dann dramatisch entfaltet wird. Darum wird der Zuschauer ein wenig betrogen; dafür wird er mit blutiger Nacktheit, Elterndiktatur und fraulichem Ausgeliefertsein umso mehr aufgerüttelt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/hjb56.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2017