„Wach auf, du Christ“

Die Lessingtage 2017 im Jahr des Reformationsjubiläums

Hans-Jürgen Benedict

Vor 500 Jahren revolutionierte die Reformation Europa. Indem Luther noch einmal mit großer Leidenschaft nach dem wahren befreienden Glauben fragte (und ihn in der Rechtfertigung aus Gnade allein entdeckte), brach er die katholische Einheitskultur auf, stellte die Freiheit des Einzelnen vor Gott ins Zentrum und sorgte mit Predigt, Bibelübersetzung, Flugschriften, Bildern (Cranach!) und Buchdruck (nicht zu vergessen: die Hilfe der sächsischen Kurfürsten) dafür, dass sich in der Mitte Deutschlands neue Kirchentümer bildeten. Die Religion wurde so noch einmal zur treibenden Kraft in den politischen Auseinandersetzungen. Keine Seite konnte die Vorherrschaft erringen, es kam letztlich zur Bildung von religiös einheitlichen Territorialstaaten. Luther rettete den protestantischen Wahrheitsanspruch um den Preis immerwährender konfessioneller Spaltung. Wider Willen trug er zur Reform der katholischen Kirche im Tridentiner Konzil bei und zu der mit großer Gewalt vollzogenen Gegenreformation. Am Ende standen nach dem verheerenden Dreißigjährigen Krieg die Zähmung der Religion und die Trennung von Religion und Politik. Was dann in den Verfassungen der europäischen Demokratien des 20. Jahrhunderts trotz gewisser Privilegierungen der christlichen Kirchen praktisch verankert wurde – Religionen sind Privatsache und haben sich gegenseitig unter dem Gebot der Religions- und Meinungsfreiheit zu tolerieren. Auch Zugewanderte anderen, vor allem islamischen Glaubens müssen sich den Bedingungen der Religionsfreiheit positiv wie negativ anpassen – sie haben alle Rechte im Rahmen der allgemein geltenden Gesetze ihre Religion wahrzunehmen; aber Gewalt, Zwang sowie menschenfeindliche Praktiken in Religionsdingen sind nicht mehr erlaubt.

Die Lessingtage des Thalia-Theaters 2017 stellten sich dankenswerterweise dem Anlass Reformationsjubiläum; die Fragen, die der Intendant Joachim Lux (er ist kritischer Katholik) in seinem programmatischen Vorwort zu den Lessingtagen stellte, verraten allerdings den alten kirchenkritischen Impuls: „Sind Religionen mit ihrem Absolutheitsanspruch an sich gewalttätig? Sind sie überhaupt reformierbar? (Was für eine Frage im Jahr des Reformationsjubiläums!) Sind überhaupt Religion und Aufklärung miteinander vereinbar (als gäbe es seit 250 Jahren keine historisch-kritische Bibelwissenschaft)?“ Doch das Programm, das der Intendant und seine Mitarbeiter zusammenstellten, hatte ein breites Spektrum, es ist in seinen Worten „tragisch und heilig, aber auch unverfroren und sardonisch“ (wer weiß noch, was das ist?). Im Folgenden ein paar Eindrücke von diesem vielfältigen Festival.

Eröffnet wurden die diesjährigen Lessingtage mit einem Thesenanschlag auf dem Gerhart-Hauptmann-Platz. SchülerInnnen der Niendorfer Stadtteilschule trugen nacheinander 95 Thesen vor und nagelten sie an eine Holztür wie damals (angeblich) der Reformator seine Thesen zu Buße und Ablass an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Ergebnis eines Projekts, das die kreative Jugendabteilung des Thalia-Theaters zusammen mit 10 Schulen durchführte. Insgesamt 10 Türen standen also vielfältig beschriftet auf dem Platz. Schade, dass die Aktion fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand. Denn die Vielfalt der Äußerungen dazu, was Religion und Glaube für die nach Herkunft buntgemischten Jugendlichen bedeutet, war beeindruckend – schwankend zwischen Zustimmung und Vertrauen, Skepsis und Ablehnung. Die SchülerInnengruppen zeigten sich als sprachfähig in einem Thema, das sonst eher peinlich verschwiegen wird: Wie hältst du es mit der Religion?

„Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ. Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn. Und was noch nicht gestorben ist, das macht sich auf die Socken nun.“ Am 27.1. feierte Brechts Mutter Courage und ihre Kinder Premiere im Thalia-Theater mit der Musik von Paul Dessau. und in der Regie von Philip Becker. Im Marschrhythmus wird die Schreckensmelodie des Kriegs auf die Bühne, eine schlichte halbrunde Holzarena, getrommelt. Ohne den berühmten Wagen der Marketenderin, die vom Krieg lebt, sich und ihre Kinder durch die Schrecken dieses ersten gesamteuropäischen Kriegs bringen muss und alle verliert. Auch ohne bemühte Aktualisierungen rücken Krieg und Kriegsgeschrei bedrängend nahe in der einprägsamen Sprache Brechts, der diese Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg zu Beginn des 2. Weltkriegs im schwedischen Exil verfasste. Gabriela Maria Schmeides Mutter Courage ist eine zupackende starke, aber auch eine verschmitzte Frau, hart und zugleich liebevoll zu ihren Kindern (Lisa Hagmeister, Julian Greis und Paul Schröder). Die kleinen Leute, die unterm Krieg leiden und sehen müssen, wie sie durchkommen, haben in ihr eine authentische Stimme. Der Glaube der Evangelischen wie der Katholischen wird als Vorwand benutzt. „Wenn man die Großkopfigen reden hört, führens den Krieg nur aus Gottesfurcht“, tatsächlich aber aus Gewinnsucht. Der Feldprediger muss zugeben, dass es in der Bibel nicht heißt: Not kennt kein Gebot. Und rechtfertigt doch die Kriegsgräuel der eignen Seite. Mutter Courage glaubt das System zu durchschauen, meint im Krieg vom Krieg leben zu können und verliert doch alles. Ihre Söhne Eilif und Schweizerkas kommen nicht durch. Und schließlich verliert sie noch ihre Tochter, “sie leidet am Mitleid“, die stumme Katrin, die durch Trommeln (im Gegensatz zu den inaktiven, ein Vaterunser betenden Bauersleuten) ein bedrohtes Dorf und seine Kinder vor den Soldaten rettet und erschossen wird. Erst im Tode löst sich ihre Zunge und der Regisseur lässt sie sterbend den Gryphius-Vierzeiler sprechen: „Mein sind die Jahre nicht, die etwa kommen.“ Schon vorher hatte der Altonaer Kammerchor, der zunächst als im Kreise gehende Bewegungskomparserie auftrat, in einigen Szenen das Geschehen unterbrochen und an die Rampe tretend, einige von Philip Hofmann vertonte Texte gesungen – das Chorlied aus Antigone, Gryphius‘ Die Herrlichkeit der Erden und Hölderlins Das Unverzeihliche. Das waren starke Momente, und doch kam dadurch etwas Elegisches in die Aufführung, das zu dem kantigen Brecht-Stück nicht recht passte. „Einmal Hölle und zurück“, so der englische Historiker Kershaw über die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts – so ergeht es auch Mutter Courage, die nun kinderlos, trotzdem den marschierenden Soldaten zuruft: „Wartet, nehmts mich mit“. Das Publikum war ergriffen und klatschte lange Beifall.

Die Eröffnungsrede der Lessingtage hielt Norbert Lammert, Präsident des deutschen Bundestages zu dem Thema „Toleranz und Gewalt. Über das Verhältnis von Religion und Politik.“ Wie passen die Friedensbotschaften der Religionen mit den Kriegen zusammen, die in ihrem Namen geführt wurden – gewaltsame Missionierung, Kreuzzüge, Reconquista, Hugenottenkriege, Dreißigjähriger Krieg usw.? Nach Lammert gibt es zwei Zivilisationstechniken, die versuchen, Gewalt zu domestizieren – Religion und Politik. Beide scheitern jedoch an dieser Aufgabe, die Religionen noch mehr als die Politik. Das liegt an dem absoluten Wahrheitsanspruch, mit dem sie auftreten. Im Vergleich dazu unterwirft die Politik Wahrheitsansprüche dem Mehrheitsprinzip und anerkennt absolut geltende Menschenrechte, die auch von Religionen nicht in Frage gestellt werden dürfen. Die Trennung von Religion und Politik und die Toleranz gegenüber den Meinungen Andersdenkender und Andersglaubender sind die große Errungenschaft des neuzeitlichen Staats, die Gewaltenteilung nicht zu vergessen. Der Frage, ob Religion von der Politik für ihre Ziele funktionalisiert wurde oder ob sie selber Ursache der Konflikte ist, ging Lammert nicht genauer nach. Gefährlich sind nach wie vor die Mischungen von Religion und Politik, siehe die Wahlempfehlungen der katholischen Bischöfe im Adenauerstaat der 50er Jahre und die theokratische Ummantelung einer formellen Demokratie im heutigen Iran. Lammert trug seine Gedanken rhetorisch geschickt, mit vielen Kunstpausen vor, sagte viele allgemeine richtige Sätze, ohne jedoch an irgendeiner Stelle einmal differenzierter nachzufragen. So wurde Luther nur als Gewalt gegen Bauern, Juden, Türken, Wiedertäufern und Baptisten (sic!) rechtfertigender Theologe dargestellt, sein Prinzip, dass das Evangelium nicht mit Gewalt, sondern nur durch das Wort (sine vi sed verbo) zu verbreiten sei, schlicht unterschlagen. Ebenso wie die Gewalt der katholischen Gegenreformation. Auch dass Jan Assmann seine These, der jüdische Monotheismus mit seiner Unterscheidung von wahr und falsch sei Ursprung von Gewalt, längst zurückgenommen hat, blieb unerwähnt. Der mit seiner Ringparabel von Lammert belobigte Lessing hat den unvermeidlichen Partikularismus von Religionen, mit dem wir uns heute auseinandersetzen müssen, immerhin noch gesehen und anerkannt („Wie kann ich meinen Vätern weniger als deinen glauben?“). Von einer bloß ertragenden Toleranz muss es doch zu Anerkennung und Respekt kommen. So trug die mit viel Beifall bedachte Rede zu einer neuen differenzierteren Sicht des Themas wenig bei. Interessant aber war, dass die anwesende Bischöfin Kirsten Fehrs sich die Kirchenschelte des Bundestagspräsidenten (augenscheinlich missmutig) anhören musste, ohne eingreifen zu können. Damit hatten sich die Verhältnisse zur Zeit Lessings umgekehrt. Dieser hatte dem ihn attackierenden Hauptpastor Goeze noch zugerufen: „Poltern sie doch nicht so in den Tag hinein, lieber Herr Pastor. Überschreien können Sie mich alle acht Tage, Sie wissen wo. Überschreiben sollen Sie mich gewiß nicht.“ Und erhielt dann doch von seinem Braunschweiger Herzog ein Publikationsverbot, was uns immerhin Nathan der Weise bescherte. „Ich muß versuchen, ob man mich auf meiner alten Kanzel, dem Theater, wenigstens noch ungestört will predigen lassen.“

Theaterautoren als säkularisierte Prediger – das konnte man in seinen Vorzügen und Nachteilen in dem Gastspiel des Deutschen Theaters Berlin mit dem gerade frisch aufgeführten Stück Die 10 Gebote sehen. Die Regisseurin Jette Steckel hatte 11 AutorInnen und FilmemacherInnen gebeten, sich zu je einem Gebot zu äußern. „Was bedeuten die 10 Gebote heute – sind sie Provokation, Reibungsfläche aus dem Bewusstsein verschwunden – oder fordern sie uns immer noch auf, eine Haltung einzunehmen?“ fragte Steckel. Die Antworten auf der von Florian Lösche gestalteten Bühne – ein kolosseumartiger, sich drehender Rundbau auf zwei Etagen und mit großen Durchblicken, auf dessen Wände die Gebote jeweils mit Kreide geschrieben wurden – fielen in Inhalt und Form sehr unterschiedlich aus. Clemens Meyer steuerte einen Text zum ersten Gebot bei, der die Gebotsübergabe an Big Moses ironisierte. Das zentrale zweite Gebot nach der hebräischen Zählung, das Bilderverbot, fiel aufgrund der lutherischen Einteilung der Gebote (das zehnte wird in zwei aufgeteilt) ganz weg. Obwohl es gerade spannend gewesen wäre, zu hören, was das bildkräftige und bildabhängige Theater dazu zu sagen hat. Das Elterngebot fand eine stimmlich vielfältige Resonanz in den Tischgesprächen der Kinder und Enkel von Jochen Schmidt. „Die Mutter meiner Großmutter hat gesagt usw.“, daran wurde deutlich, dass der Generationszusammenhang, von dem die Bibel ausgeht, sich vor allem narrativ bewährt. Das Sabbatgebot als Institution der Unterbrechung, eines der großen Geschenke des Judentums an die Menschheit, wurde in einem Film immerhin ansatzweise gewürdigt. Das elementare Tötungsverbot, etwa in Kieslowski „Kurzer Film über das Töten“ bedrängend aktuell interpretiert, fand eine kannibalistische Auslegung, die zum heutigen Diskurs über staatliches und militärisches Töten so gut wie nichts beitrug. Das Verbot des Ehebruchs erfuhr in Nino Haratischwilis Verführungsszene eine gewalttätige Eruption aller drei Beteiligten. Das siebte Gebot ohne Verneinung „du sollst stehlen“ wurde in einem Dialog zweier cooler Jungunternehmer bedrückend aktuell umgesetzt. Ein Höhepunkt war der von Ole Lagerpusch und Wiebke Mollenhauer in Artistenkostümen gesprochene und virtuos agierte essayartige Text über „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus“ von Mark Terkessides. Ausgehend von den Hausbesetzungen wird die Immobilien-Situation der Gegenwart im Zusammenhang von Entkolonialisierung und Migration geistreich und witzig differenziert erörtert. Ein Stück im Stück ist Dea Lohers tragische Flüchtlingsgeschichte zum zehnten Gebot, die schon 2015 als Libretto für eine zeitgenössische Oper („Weine nicht, singe“ in der Regie von J. Steckel) in Hamburg uraufgeführt wurde. Zum Schluss tritt Gottvater zu einem Text von Rocko Schamoni im zotteligen Pelz und mit einem Schaf auf die Bühne und stimmt ein Klagelied über die fehlgegangene Schöpfung an. Die Stimmung des Publikums, das in der Pause noch über den Sinn des Ganzen rätselte, hatte sich inzwischen auf den Travestie- bzw. Parodiecharakter der Aufführung eingestellt und genoss den restlichen Abend mit wachsender Heiterkeit. Ob die Absicht der Regisseurin, zu den Geboten eine Haltung einzunehmen und so die eigene Christlichkeit zu reflektieren, durch das Stück befördert wurde, sei dahingestellt. Dazu wurden zu viele, mal unterhaltsame, mal irritierende Nebenfährten ausgelegt. Es wäre ja spannend gewesen, das Zeitbedingte der Gebote, entstanden in einer antiken agrarischen Gesellschaft mit polytheistischer Umwelt, von ihrem unbedingten Kern zu unterscheiden, ihren Anspruch (Du sollst) zugleich mit ihrem Zuspruch (Du kannst das) zu entfalten. Ich erinnere an Luthers Erklärung zum 1. Gebot: „Woran du dein Herz hängst, das ist recht eigentlich dein Gott.“ Aber gut, Theater ist kein Theo­logiekolleg oder Volkshochschulseminar. Aber wie in Kieslowskis Filmen den Ernstfall der Gebotsübertretung auch ernsthaft-dramatisch darzustellen, das hätte noch stärker versucht werden können. Man denke an die lakonische Lesebuchgeschichte Wolfgang Borcherts: „Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. Warum nicht, fragte der Soldat.“ Um die Gebote zu halten, bedarf es einer haltenden Gemeinschaft. Der einzelne ist angesprochen, aber die Gesellschaft ist gemeint. Das kann ja passieren: Ich trete aus dem Theater und mein Fahrrad, mit dem ich gekommen bin, ist geklaut. Oder jemand verabredet sich nach dem Theater zu einem Seitensprung. Auf jeden Fall war es – ein anregender Theaterabend zum Nachdenken.

Ein provozierendes Gastspiel kam zum Abschluss der Lessingtage vom Schauspielhaus Wien – Citta del Vaticano. Vatikanstadt also, das kleine Zentrum der weltweiten katholischen Kirche, wurde in dem Stück von Falk Richter, der auch Regie führte (zusammen mit dem Choreografen Nir de Volff), zu Beginn als männlicher Hort von Homophobie, Missbrauch und reaktionärer Sexualmoral dargestellt. Doch dann weitete sich der Begriff und Citta del Vaticano stand als Metapher für den sinnstiftenden Anspruch christlicher Konfessionen überhaupt. In einer wilden Mischung von Diskurs- und Tanztheater fragten die jungen Künstler (fünf Männer und zwei Frauen): Lassen sich die Positionen von Kirche und Religion noch in Einklang mit den Lebenswirklichkeiten einer jungen Generation von Europäern bringen? Ein Stefan erzählte von seinen Erfahrungen in einer evangelikalen christlichen Gemeinschaft, sang ein frommes Kinderlied mit begleitenden Gesten vor, sprach von dem großen Einfluss des Glaubens auf seine Entwicklung. Jetzt, da er sich davon gelöst hat, muss er sich dennoch immer wieder daran abarbeiten, an den Schuldgefühlen, die ihn damals bestimmten, an dem Sündenvorwurf und viel repressiver Moral. Ähnlich die anderen, etwa bei dem homosexuellen Coming out, dem verzweifelten Bemühen, den Eltern das verständlich zu machen, dem Schrei nach Liebe und uneingeschränkter Annahme. Vor den Papstbildern von Francis Bacon und mit eingespielten Filmen von evangelikalen Versammlungen, die schon Kinder frömmlerisch konditionierten, wurden die christlichen Gemeinschaften in diesem aufopferungsvoll gespielten Stück als rückständig und letztlich nicht reformierbar dargestellt. Als Gegenbild zum Schluss ein Homo-Paar mit Freundin, die sich entschließen einen Sohn zur Welt zu bringen, der so liebevoll als erwartet beschrieben wird, dass er mich, ja, an das biblische Welcome für Jesus erinnerte: „Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ Diese theatralische Attacke auf eine sexualfeindliche heuchlerische Religion, symbolisiert im Vatikan, als Schrei einer jungen Generation nach einer neuen Identität als queer liebende und hoffende Menschen, wiederholte bekannte Religionskritik und blieb die Antwort auf die Frage schuldig – warum setzen so viele Menschen dennoch ihre Hoffnung auf diesen Glauben, auf einen erbarmenden Gott, auf einen Jesus, der sich hingibt und sich den Armen zuwendet, auf eine Gottesmutter, die sie in ihren kleinen Leiden tröstet? Warum nur? Alles nur Priesterbetrug, Machtspiel der Kirchen?

Eine Antwort auf diese Fragen gab vielleicht eher überraschend das einzige Stück der Lessingtage, das Martin Luther im Titel nannte – das Martin Luther Propagandastück von Boris Nikitin vom HAU in Berlin, obwohl es überhaupt nicht direkt von Luther handelte. Sondern von dem ungläubigen Thomas, der in der Geschichte aus dem Johannes-Evangelium seinen Finger in die Seitenwunde des auferstandenen Jesus legen will. Ob er es tatsächlich getan hat, so der Performer Malte Scholz, der zusammen mit einem Gospelchor den Abend bestritt, stehe nicht im Text. Die Handlung des Thomas bleibt eine Leerstelle. Aber der Sprung in die Leerstelle, in die Fiktionalität des Glaubens, die Scholz wie ein Prediger und Showmaster vortrug, ist die existentielle Handlung, die auch Luther vollzog, als er entdeckte, dass Gott ihn gerecht spricht allein aus Gnade. Luther lieferte sich diesem Gott vorbehaltlos aus, im Guten wie im Bösen. Und trat damit eine Glaubensbewegung los, die Europa veränderte. Weg von der katholischen Einheitskultur zur Vielfalt der Konfessionen und dann auch der Weltanschauungen. Und damit in der Moderne zur Vielfalt der Meinungen und Lebensentwürfe. Aber den Sprung muss man wagen.

Übrigens hat Lessing einmal genau bestimmt, was ein Lutheraner heute tun müsse: „Der wahre Lutheraner will nicht bei Luthers Schriften, er will bei Luthers Geiste geschützt sein; und Luthers Geist erfordert schlechterdings, daß man keinen Menschen in der Erkenntnis der Wahrheit nach seinem eigenen Gutdünken fortzugehen, hindern muß.“ In diesem Sinne waren die Lessingtage 2017 mit ihrem vielfältigen Angebot gut lutherisch.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/106/hjb55.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2017