Literaturbetrieb

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Burckhard Dücker (Hg.), Machen – Erhalten – Verwalten. Aspekte einer performativen Literaturgeschichte, Göttingen: Wallstein Verlag 2016

Beim Stichwort Literaturbetrieb denkt jeder an die Frankfurter Buchmesse, an Verlegerpatriarchen und hohe Auflagen, an Kritikerskandale und Bestseller. Literatur ist aber weit mehr als das, was das Feuilleton mit dem Scheinwerfer seiner begrenzten Aufmerksamkeit abtastet.

Der vorliegende Band widmet sich dem literarischen Feld, an dem über Autoren, Kritiker und Verleger auch noch Archivare, Übersetzer, Buchhändler, Papierhersteller, Bibliothekare und andere mehr beteiligt sind. Literatur wird konsequent sozial und wirklichkeitserschließend verstanden. So schreibt der Heidelberger Germanist Burckhard Dücker in seinem Vorwort: „Es handelt sich [bei einem literarischen Text] stets um sozial orientierte Hervorbringungen einzelner, um subjektive Weltanschauungsangebote, deren kultureller und sozial-historischer Status dem der Berichte von Zeitzeugen entspricht, entscheidend sind demnach Wahrnehmung, Deutung und – damit eingeschlossen – die Gestaltung eines Wirklichkeitssegments.“ (8)[1] Es genügt für einen Autor nicht, einfach Texte zu schreiben, er muss auch den Willen besitzen, sein Werk der Evaluation durch andere auszusetzen (10). Damit akquiriert er soziales Kapital (Pierre Bourdieu) und ändert seinen Status im literarischen Feld.

Genau dieses System der Evaluation durch Verlage, Bibliotheken, Leser ist aber für Dücker im Moment in Auflösung begriffen, weil die Möglichkeit von Online-Publikationen die Kontroll­instanzen des Verlages, des Lektors, der Buchhandlungen und Bibliotheken à la longue ausschaltet. Damit geraten die traditionellen Rollenzuschreibungen des Autors, des Verlegers, des Lektors etc. in Verlegenheit. Sie müssen sich der Herausforderung der neuen digitalen Publikationsstrategien stellen.

Die Beiträge des Bandes stellen sich nun genau dieser Herausforderung, aus der Sicht der Autorin (Maja Ludwig), des Verlegers (Thedel von Wallmoden), des Kleinverlegers (Ulrich Keicher), der Literaturkritikerin (Sibylle Cramer), der Archivarin (Ute Oelmann), der Kuratorin von Literaturausstellungen (Liselotte Homering), der Übersetzerin (Barbara Conrad), des Organisators von Literaturfestivals (Ingoh Brux) und der Buchrestauratorin (Andrea Pataki-Hundt). Ursprünglich wurden die Vorträge bei einer Tagung der Christian-Wagner-Gesellschaft in Warmbronn im Jahr 2013 vorgetragen.

Für Theologen von besonderem Interesse ist der Beitrag der renommierten Übersetzerin Barbara Conrad (93-106), die nicht zufällig von der Übersetzung der hebräischen Bibel ins Griechische (Septuaginta) und Martin Luthers reformatorischer Bibelübertragung ausgeht. Am Ende kommt sie auf das „Close Reading“ (105) zu sprechen, das sie mit Terry Eagleton auch „langsames Lesen“ (106) nennt. Der Übersetzer steht für Conrad am Anfang des Versuchs, das Werk eines fremdsprachigen Autors genau zu verstehen. Der Übersetzer ist sozusagen der erste Leser des Werks. Insofern wird im literarischen Feld eine Tugend kultiviert, zu der auch der auf die Schrift der Bibel bezogene Protestantismus mit beigetragen hat – und weiter mit beitragen sollte. In dieser protestantischen Perspektive gehören theologische (oder religiöse) Wirklichkeitsdeutung und literarische Wirklichkeitsdeutung auf das engste zusammen. Literatur und Protestantismus stimmen ein im Prinzip der Wirklichkeitsdeutung mit Hilfe von Schrift, im einen Fall von heiliger Schrift, im anderen Fall von Schrift, die ihren sozialen Status erst in einem komplexen Prozess der Literaturwerdung gewinnen muss. Es wäre lohnend, diesen angedeuteten Vergleich zwischen protestantischer und literarischer Schriftkultur weiter fortzuführen.

Das letzte Viertel des Bandes enthält vier Beiträge über den Warmbronner Dichter Christian Wagner, auf den auch diese Zeitschrift schon ausführlicher hingewiesen hat[2]. Die Beiträge von Franz-Theo Gottwald, Ulrich Schödlbauer, Berbeli Wanning und Burckhard Dücker beschäftigen sich alle mit der Naturphilosophie des Dichters Christian Wagner oder nehmen diese mindestens zum Ausgangspunkt. Innerhalb einer Theorie des literarischen Feldes ist Wagner vor allem von Interesse, weil er begonnen hat, Gedichte zu publizieren, ohne in irgend Weise im literarischen Feld verortet zu sein. So wie er dann agierte, als sich die ersten literarischen Erfolge einstellten, macht ihn zu einer besonders spannenden literarischen Figur. Noch spannender wird er darin, daß er in seinem Engagement für Tierschutz, Vegetarismus und – wie es Theologen ausdrücken würden – „Bewahrung der Schöpfung“ ein in der Theologie und Sozialethik vergessener früher Wegbereiter ökologischen Denkens war. Seine Ideen sind heute in vielen Bereichen zur Selbstverständlichkeit geworden, die sich andere auf die eigenen Fahnen schreiben. An Wagner lässt sich studieren, wie ökologisches Bewusstsein entstand, ohne gleich von einer Woge sozialer Akzeptanz getragen zu sein.

Anmerkungen

[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Band.

[2]    Wolfgang Vögele, Verdichteter Glaube. Religion und Literatur bei Goethe, Hebel und Wagner, Tà Katoptrizómena. Magazin für Kunst, Kultur, Theologie, Ästhetik, H.93, 2015, http://theomag.de/93/wv15.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/105/wv30.htm
© Wolfgang Vögele, 2017