Das Rätsel des Dybbuk

Notizen zur Eingangssequenz von "A serious man"

Andreas Mertin

Prolog

Da steckt es nun, das Messer, direkt im Herzen des alten Reb Groshkover und als Kino-Zuschauer wartet man förmlich auf das Blut, das aus seinem Brustkorb sickern, wenn nicht gar spritzen muss.

Und dann muss sich ja zeigen, ob er wirklich ein Dybbuk ist, wie die Ehefrau Dora des Händlers Velvel meinte, die dem Reb zuvor das Messer ins Herz gerammt hat.

Verdächtig ist ihr der alte Mann, weil man ihr berichtet hat, dass er in Wirklichkeit bereits vor drei Jahren an Typhus gestorben ist und ganz orthodox die Schiv’a (die Trauerwoche) für ihn abgehalten wurde. Wie kann er dann drei Jahre später quicklebendig vor Dora und Velvel sitzen und so tun, als sei er der Reb Groshkover leibhaftig?

Andererseits: Wenn er tatsächlich ein Dybbuk wäre, was würde dann ein Messer in seiner Brust bewirken? Kann man denn einen Dybbuk so mir nichts dir nichts töten? Oder kann man ihn nur austreiben?

Und dann stellt sich noch die Frage:

Was ist überhaupt ein Dybbuk?

Letzteres weiß im Prinzip jeder, der ein wenig im Neuen Testament gelesen hat. So heißt es etwa in Markus 5:

Und sie kamen ans andre Ufer des Meeres in die Gegend der Gerasener. Und als er aus dem Boot stieg, lief ihm alsbald von den Gräbern her ein Mensch entgegen mit einem unreinen Geist. Der hatte seine Wohnung in den Grabhöhlen. Und niemand konnte ihn mehr binden, auch nicht mit einer Kette; denn er war oft mit Fesseln an den Füßen und mit Ketten gebunden gewesen und hatte die Ketten zerrissen und die Fesseln zerrieben; und niemand konnte ihn bändigen. Und er war allezeit, Tag und Nacht, in den Grabhöhlen und auf den Bergen, schrie und schlug sich mit Steinen.“[1]

Der unreine Geist erweist sich als Legion von Geistern, die Jesus bitten, ihnen einen Space (so würde man heute wohl sagen) zuzuweisen, einen Raum außerhalb des besessenen Menschen und Jesus verweist sie an bzw. in eine Gruppe von Schweinen, die prompt voller Panik Selbstmord begehen. (Aber auch dann müssten die Geister sich eigentlich wieder neue Körper suchen. Aber davon steht im Neuen Testament nichts).

Also, ein Dybbuk ist nichts Neues für christliche Leser und noch weniger für jüdische. Gershom Scholem schreibt zusammenfassend: „Stories about dibbukim are common in the time of the Second Temple and the talmudic periods, particularly in the Gospels“.[2] Wirklich populär wurden Dybukks aber erst im Osteuropa des 16. Jahrhunderts. Eigentlich sind sie zunächst Dämonen, die von anderen Menschen Besitz ergreifen, dann wird das dahingehend ausgestaltet, dass sie Geister von Toten sind, die nicht zur Ruhe / Hölle gelangt sind und deshalb zu Dämonen wurden und von anderen Lebenden Besitz ergreifen. Diese Dämonen lassen sich aber nahezu ohne Schaden für die Besessenen austreiben. Die Encyclopædia Britannica fasst das Ganze so zusammen:

Dybbuk, also spelled dibbuk, plural dybbukim, in Jewish folklore, a disembodied human spirit that, because of former sins, wanders restlessly until it finds a haven in the body of a living person. Belief in such spirits was especially prevalent in 16th–17th-century eastern Europe. Often individuals suffering from nervous or mental disorders were taken to a miracle-working rabbi (baʿal shem), who alone, it was believed, could expel the harmful dybbuk through a religious rite of exorcism. Isaac Luria (1534–72), a mystic, laid the grounds for Jewish belief in a dybbuk with his doctrine of transmigration of souls (gilgul), which he saw as a means whereby souls could continue their task of self-perfection. His disciples went one step further with the notion of possession by a dybbuk.[3]

Der ‚moderne‘ Dybbuk des Salomon An-Ski

In der Moderne bekommt der Dybbuk seine Popularität durch ein Theaterstück des jüdischen Schriftstellers Salomon An-Ski.[4] Nahezu alle heutigen Reden vom Dybbuk beziehen sich darauf. Das Theaterstück erzählt die Geschichte von der Besessenheit einer Frau durch den bösen Geist ihres toten Geliebten. Das Stück spielt Ende des 19. Jahrhunderts in Wolhynien (nordwestliche Ukraine) in dem Bereich also, der damals den Juden zur Ansiedlung zugewiesen war und in dem sie einen Bevölkerungsanteil von 10-15% hatten. Anfangs erzählen sich in einer alten Synagoge einige Männer Geschichten von berühmten chassidischen Zaddikim. Dann tritt Chanan hinzu, ein Jeschiwa-Student, der ihnen von Lea erzählt, einer Tochter des Händlers Sender, in die er verliebt ist, jedoch vom Vater wegen seiner Armut abgewiesen wurde. Als nun der Händler auftritt und verkündet, dass er seine Tochter dem Bewerber Menasche versprochen hat, stürzt Chanan tot zu Boden. Einige Monate später soll Lea heiraten. Sie erzählt ihrer alten Amme, der tote Chanan sei ihr im Traum erschienen. Als der Bräutigam während der Zeremonie den Schleier der Braut hochheben will, stößt sie ihn zurück – aus ihr schreit eine Männerstimme. Sie scheint von einem Dibbuk besessen. Der Zaddik von Miropol übernimmt die Aufgabe, Lea von ihrem Geist zu befreien. Doch der Dibbuk weigert sich, der Aufforderung Folge zu leisten. Der Zaddik erkennt ihn als Chanan und bittet ein rabbinisches Gericht, ihn mit einem Bann zu belegen. Der Gerichtsvorsitzende Rabbi Samson tritt auf und erklärt, dass ihm im Traum der Geist Nissans, des Vaters von Chanan, erschienen sei und den Händler Sender vor dem Gericht anklagt, weil er verantwortlich für den Tod seines Sohnes sei. Vor Gericht erscheint die Seele Nissans und teilt sich den Anwesenden mit: Nissan und Sender seien gute Freunde gewesen und hätten gelobt, dass, wenn der eine Vater eines Sohnes und der andere Vater einer Tochter würde, diese einander heiraten sollten. Nissan verstarb ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes Chanan, doch dieser gelangte nach Brinitz und verliebte sich in Lea. Nissan beschuldigt Sender, durch seine Zurückweisung Chanan in Verzweiflung getrieben zu haben, worauf sich dieser der „anderen Seite“ zugewandt habe. Das Gericht spricht Sender vom Vorwurf des Gelübdebruchs frei, da niemand über ein ungeborenes Geschöpf verfügen kann, trägt ihm jedoch auf, die Hälfte seines Besitzes den Armen zu überlassen und täglich das Kaddisch für Nissan und Chanan zu beten. Während der heilige Zaddik nun einen Exorzismus ausführt, verlässt der Dibbuk schließlich Leas Körper. Die Hochzeit mit Menasche wird vorbereitet. Lea spricht mit dem Geist Chanans und gesteht ihm, sie habe ihn seit dem ersten Anblick geliebt. Ihre Seele verlässt ihren Körper, und Lea und Chanan sind im Tode vereint.[5]

Damit ist auch die grundsätzliche Figurenkonstellation der Geschichten rund um das Phänomen des Dybbuk vorgegeben: wir haben nicht ein Gespenst vor uns, das eigenständig durch die Welt spukt, sondern einen Geist, der von anderen Besitz ergreift und zwar von Menschen, zu denen er in einer bestimmten Beziehung steht. Gemeinsam ist beiden Vorstellungen, dass es um eine Art „unerlöste Seelen“ geht, die nicht ihren Frieden gefunden haben. Die Lösung ist daher in beiden Fällen, den Seelen zu ihrem endgültigen Ort (im Himmel oder der Hölle) zu verhelfen.

Dybbuks als Genderfrage

Im modernen westeuropäischen Kontext ist das unter Dybbuk subsumierte Phänomen vielleicht greifbarer unter dem Stichwort Besessenheit, noch deutlicher aber unter dem vor allem im 19. und 20. Jahrhundert populären Stichwort Hysterie. Das legt nahe, auch dem Phänomen des Dybbuks unter Genderaspekte nachzugehen. Denn das Dibbuk-Phänomen scheint in einer spezifischen Beziehung zum Weiblichen zu stehen. Untersucht man die tradierten Erzählungen, dann ist die Mehrzahl der von einem Dybbuk besessenen Menschen weiblich, die Dibbukim selbst aber vor allem männlich.[6] Es ist das Verdienst von Rachel Elior, dieser Frage ausführlich nachgegangen zu sein:

Elior, Rachel (2008): Dybbuks and Jewish women. In social history, mysticism and folklore. Jerusalem, New York: Urim.     [-> Kindle-Edition]

Sie interessiert sich für den Dybbuk nicht zuletzt unter dem Aspekt der Normenabweichung: „a deceased person’s spirit that enters a living person, detaching that person from his routine life within the bounds of accepted norms.” In einer patriarchalischen Welt kann Krankheit eine Möglichkeit sein, der vorgegebenen Normensetzung zu entfliehen. Das bedeutet:

The principal way in which powerless people could deviate from the patriarchal order while still remaining within the traditional world was by succumbing to illness, a step that occasionally used the power of physical and mental weakness to gain a degree of distance and liberation from the expected order. The best-known form of illness was that of the “dybbuk,” which could serve as an escape route from marital bonds that had been imposed against the will of the interested parties.

Nicht zufällig ranken sich daher zahlreiche Dybbuk-Geschichten um junge Frauen, die frisch verheiratet sind – ein Phänomen, das sich mit verwandten Geschichten auch in anderen Kulturen wiederfindet.[7] Dybbuks ranken sich um (erotische) Hoffnungen, Versprechungen, Erwartungen Enttäuschungen und um Unabgegoltenes. Das ist eine mögliche Schnittstelle zum Film „A serious man“ der Gebrüder Coen.

A serious man

Ein Dybbuk ist das zentrale Element des Prologs im Film „A serious man“. Dieser Prolog erscheint zunächst relativ abgekoppelt vom eigentlichen Geschehen des Filmes, nicht nur durch den Umstand, dass er in Jiddisch gehalten ist, sondern auch, weil er zeitlich ganz anders verortet ist. Und auch inhaltlich kann man sich fragen, was denn der Vorspann mit dem restlichen Film zu tun haben soll. Der Covertext der DVD fast die Filmhandlung so zusammen:

Eigentlich lebt Larry Gropnik ein beschauliches Leben in einer kleinen jüdischen Gemeinde im Mittleren Westen der USA. Er ist ein liebender Ehemann, fürsorglicher Vater und erfolgreicher Professor. Aber irgendwie läuft plötzlich nichts mehr so wie gewohnt. Larrys Gattin verlangt plötzlich die Scheidung, um mit ihrem selbstgefälligen neuen Liebhaber zusammenleben zu können. Sein Sohn hat Probleme in der Schule, die Tochter bestiehlt ihn, um sich eine Nasenkorrektur finanzieren zu können. Sein psychisch labiler Bruder hockt nur noch auf der Couch rum. Und als ob die Familie nicht schon genügend Probleme bereiten würde, gerät auch noch Larrys Karriere ins Trudeln: Anonyme Briefschreiber verbreiten falsche Anschuldigungen über ihn, und außerdem versucht ein Student, ihn zu bestechen. Larry sucht Hilfe, und hofft diese bei einem Rabbi zu finden. Doch auch das ist leichter gesagt, als zu bekommen…

Das erklärt wohl auch, warum der Film so häufig mit der Thematik des Hiob-Buches in Verbindung gebracht wird.[8] Ein an sich anständiger Mensch wird unerwartet mit einer Fülle von Schicksalsschlägen konfrontiert, gerät in Zweifel über die Sinnhaftigkeit der Welt und fragt drei Ratgeber um Hilfe. Das ist eine deutliche Parallele zum Buch Hiob und diese Spuren wurden unbestreitbar bewusst gelegt. Aber der Film ist ganz sicher keine Illustration oder klassische Adaption des Hiobbuches. Zentrale Motive des Buches wie die fortdauernde Treue Hiobs zu Gott, die Rede aus dem Wettersturm usw. fehlen vollständig. Die philosophisch-theologische Fragestellung nach dem Leiden des Unschuldig-Gerechten kann nur mit Mühe erkannt werden.

Gerade das adaptierte Motiv von David (Larry Gopnik) und Bathseba (Mrs. Samsky) kommt damit in Konflikt. Larry Gopnik ist eben doch kein Hiob, der Gott auf Gedeih und Verderb treu ist. Treu ist er allenfalls aus Mangel an Gelegenheiten. Aber zumindest stellt er auf seine Weise die Sinnfrage. Und der Tornado am Schluss des Films kehrt dann den biblischen Wettersturm gegen die erzählte Logik des Buches Hiob: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Eine Restitution findet nur vorläufig statt, Satan wartet an der nächsten Ecke.

Der Dybbuk in ‚A serious man’

In einem gewissen Sinne entspricht die Figurenkonstellation im Prolog zu „A serious man“ einem bestimmten Typ von Gemälden von Oskar Schlemmer, beim dem es auch oft um Konstellationen verschiedener Protagonisten geht und der Betrachter sich fragt, in welcher Beziehung sie wohl zueinander stehen. Zunächst einmal ist da Reb Groshkover, der das Ehepaar besucht. Dann haben wir das Ehepaar Dora und Vevel selbst und schließlich einen namenlosen bösen Geist, der im Körper des Reb Groshkover präsent zu sein scheint. Irgendwie müssen diese vier in eine Beziehung – eine narrative Logik – gebracht werden.

Halten wir zunächst fest, dass die Verwendung, die die Gebrüder Coen von der Figur des Dybbuk machen, in einigen zentralen Momenten vom üblichen Gebrauch in den Erzählungen der Tradition abweicht. Vergegenwärtigen wir uns kurz noch einmal:

Ein Dibbuk (auch Dybuk oder Dybbuk genannt; Pl. Dibbukim; hebräisch דיבוק = „Anhaftung“) ist nach jüdischem Volksglauben ein oft böser Totengeist, der in den Körper eines Lebenden eintritt und bei diesem irrationales Verhalten bewirkt.[9]

Wenn man dem Prolog im Film „A serious man“ folgt, geschieht hier jedoch etwas ganz anderes, höchst Paradoxes, nämlich dass der Dybbuk in den Körper eines bereits Toten fährt und diesen quasi zum Leben erweckt bzw. scheinbar lebendig erhält. Er nutzt, wie Dora es darstellt, einen Moment, in dem der Körper des toten Reb Groshkover unbeobachtet ist und macht ihn sich zu Eigen – aber so, dass er dauerhaft in dem Zustand bleibt, in dem der Geist von ihm Besitz ergriffen hat. Dora ‚beweist‘ das, indem sie zeigt, dass die noch nicht vollendete Totenrasur weiterhin am Besucher zu sehen ist, denn die eine Gesichtshälfte ist rasiert, die andere nicht. Die Coen-Brüder legen gesprächsweise sehr viel Wert darauf, hier keine jiddische Geschichte übernommen, sondern eine neue erfunden zu haben.

Dann können wir beobachten, dass der Dybbuk hier in eine Person gleichen Geschlechts fährt. Das ist in der Tradition der Dybbuk-Geschichten, wie bereits erwähnt, eher ungewöhnlich, aber nicht ausgeschlossen. Es fragt sich aber 1., aus welchen Gründen der Geist ausgerechnet in den Körper des Reb Groshkover gefahren ist; 2., warum er in diesem Körper die Begegnung mit dem Händler Vevel gesucht hat und 3., warum er dann abends zum Haus von Dora und Vevel gekommen ist. Sinn macht es nur, wenn es irgendeine – freilich nicht explizierte – Beziehung zwischen dem Dybbuk und Dora gibt. Oder die Coen-Brüder haben auch hier eine eigene, sehr offene Erzählvariante erfunden.

Und schließlich scheint zumindest Dora der Meinung zu sein, man könne einen Dybbuk töten oder doch wenigstens dauerhaft schädigen, indem man seinen „Wirt“ tötet, im konkreten Fall also ihm quasi noch einmal das Leben nimmt. Ob das gelingt, bleibt ein Geheimnis der Coen-Brüder. Was der Kino-Besucher sehen kann, ist, wie nach einiger Zeit Blut aus der Stichwunde rinnt und Reb Groshkover deutlich geschwächt erscheint und aus dem Haus wankt.

Dabei wird niemals ganz deutlich ob der Reb Groshkover wirklich ein Dybukk ist; vom Verstand her spricht eigentlich spricht alles dafür, dass Dora sich geirrt haben muss und einem Aberglauben erlegen ist (obwohl man sich die Alternative kaum ausdenken mag - denn wo kämen wir hin, wenn wir jedem, den wir merkwürdig finden oder als Besessen ansehen, ein Messer in die Brust rammen würden?). Traditionell bedürfte es einer Beschwörung durch einen Zaddik (einen Gerechten), damit ein von einem Dybbuk Besessener seine Freiheit zurück erhält und der Dybbuk seinen Frieden findet, Lynchjustiz ist bei Dybbuks nicht vorgesehen.

Es gibt allerdings Indizien, dass Dora im konkreten Entwurf des Mythos durch die Coen-Brüder mit ihrer Dybbuk-Deutung Recht hat. Nicht nur, dass Reb Groshkover wie ein Dybbuk nichts isst, nicht nur, dass er den tödlichen Stoß in die Brust relativ unbeschadet übersteht und anschließend sogar in grelles Gelächter ausbricht, vor allem ein Indiz könnte für Doras Theorie sprechen: als der merkwürdige Gast aus dem Haus wankt, hinterlässt er im frisch gefallenen Schnee keinerlei Spuren, so als ob ein Geist fortschweben würde.

Die Bedeutung des Dybbuks für ‚A serious man’

In den Extras zum Film gibt es einige Aussagen zur möglichen oder unmöglichen Bedeutung des Prologs für den Rest des Films. So sagt Joel Coen im Produktions-Interview:

“Die ersten zehn Minuten haben keine direkte Verbindung zum Rest des Films, zum Rest der Geschichte.“

Und Ethan Coen ergänzt:

„Ich weiß nicht warum, aber den Film mit einer jiddischen Sage zu beginnen, schien eine angemessene Einleitung. Aber wir kannten keine passenden[10] Sagen, also dachten wir uns eine aus ... Das ist wie bei den Zeichentrickfilmen, die man früher vor dem Hauptfilm zeigte.“

Allerdings ergänzt der Executive Producer Robert Graf unmittelbar anschließend:

„Ich will nicht kommentieren, was die beiden damit sagen wollen, aber es entsteht ein interessanter Bezug zum Rest der Geschichte.“

Beide Bemerkungen sind wahrscheinlich zutreffend. Einerseits ist der Prolog nur eine Art Marker, der zeigen soll, aus welcher Kultur sich die jüdische Gemeinde in Amerika, die ja Thema des Films ist, entwickelt hat. So wie die Coen-Brüder den alten weisen Rabbi zeichnen, erscheint er wie unmittelbar aus der osteuropäischen Tradition nach Amerika übertragen. In diesem Sinne gäbe es keine inhaltliche, wohl aber eine atmosphärische Verbindung.

Ein bisschen ist es so, als ob Schülerinnen und Schüler heute auf das Gemälde „Die Gesandten“ von Hans Holbein aus dem Jahr 1535 schauen und es verstehen müssten. Man erkennt unschwer Details des Bildes (die übrigens eine überraschend hohe Übereinstimmung mit dem Zimmer des Rabbi in „A serious man“ haben, nur dass die christlichen Symbole im einen Bild durch jüdische Symbole im anderen Bild ausgetauscht sein), aber es ist schwer, eine stringente Deutung der Szene zu entwickeln. Es bleibt eine gewisse Stimmung von Bildung.

Auf der anderen Seite, und darin hat Executive Producer Robert Graf Recht, verändert die einleitende Geschichte die Wahrnehmung und damit auch die (Be-) Deutung des nachfolgenden Films. Man beginnt sozusagen nach Logiken der Verknüpfung zu suchen. Wer könnte der Dybbuk in der Filmhandlung sein bzw. in wem könnte er inkorporiert sein – etwa Sy Ableman, der als Totengeist Larry Gropnik in der Vorlesung besucht? Und was genau ist dieses Böse, das in einen Menschen fährt? Und wo begegnet uns das Böse und wie begegnen wir dem Bösen und wie rotten wir es aus?

Das Motto – der Rahmen

Kann die Antwort des Films wirklich so lauten, wie es als Motto über dem gesamten Film steht: "Empfange mit Einfachheit das, was dir passiert"? Es gibt Gründe, das anzunehmen. Die Coen-Brüder weisen es aus als Zitat des Pentateuch-Kommentators Raschi (Rabbi Schlomo ben Jizchak, 1040-1105). EPD-Film schreibt dazu, die Coen-Brüder hätten später zugegeben, dass sie keine Ahnung hätten, woher das Zitat stammt.[11] Das freilich ist kaum glaubhaft, zu präzise passt es nicht nur auf die Eingangsszene, sondern auf den ganzen Film. Forscht man ein wenig nach, lässt es sich sogar leicht lokalisieren. Es stammt aus dem Kommentar des Raschi zu Deuteronomium 18, 13 und lautet dort in der deutschen Übersetzung von Selig Bamberger:[12]

In der Übersetzung von Julius Dessauer lautet der entsprechende Satz:

„Du mußt dich ganz an den Ewigen halten, blicke stets vertrauensvoll zu Ihm empor und forsche nicht nach der Zukunft, sondern nimm, was dir widerfährt, gläubigen Sinnes an, dann wirst du unge­theilt Ihm angehören![13]

Also wird man davon ausgehen können, dass irgendein theologischer Ratgeber die Coen-Brüder auf den Kommentar des Raschi verwiesen hat. Noch interessanter wird es, wenn wir dem biblischen Kontext nachgehen, also 5. Mose 18, 9-14:

Wenn du in das Land kommst, das dir der HERR, dein Gott, geben wird, so sollst du nicht lernen, die Gräuel dieser Völker zu tun, dass nicht jemand unter dir gefunden werde, der seinen Sohn oder seine Tochter durchs Feuer gehen lässt oder Wahrsagerei, Hellseherei, geheime Künste oder Zauberei treibt oder Bannungen oder Geisterbeschwörungen oder Zeichendeuterei vornimmt oder die Toten befragt. Denn wer das tut, der ist dem HERRN ein Gräuel, und um solcher Gräuel willen vertreibt der HERR, dein Gott, die Völker vor dir. Du aber sollst untadelig sein vor dem HERRN, deinem Gott. Denn diese Völker, deren Land du einnehmen wirst, hören auf Zeichendeuter und Wahrsager; dir aber hat der HERR, dein Gott, so etwas verwehrt.[14]

Von Dybbuks soll man sich fern halten – so könnte man Deuteronomium 18, 9ff. in nuce lesen. Und, bezogen auf die Haupthandlung des Films:

Versuche nicht, Deine Zukunft zu ergründen, und interpretiere dein Ergehen nicht als Zeichen. Gehe nicht zu den Zeichendeutern, die noch an den Zähnen das Schicksal ablesen wollen.

Ich glaube kaum, dass diese Parallelen ein Zufall sind. Man könnte die Vermutung äußern, die Bibelstelle sei leitend für die Film-Gestaltung. Dann aber ist es weniger ein Hiob-Film als vielmehr einer über die jüdische Existenz, über das jüdische Zeit-Verständnis und das jüdische Leben (und natürlich den jüdischen Humor).

Anmerkungen

[1]    Übersetzung Lutherbibel 2017.

[2]    Gershom Scholem: Dibbuk (Dybbuk). In: Encyclopaedia Judaica. 2. Auflage. Band 5, Detroit/New York u.a. 2007, ISBN 978-0-02-865933-6, S. 643–644 (englisch).

[5]    Zusammenfassung nach dem Wikipedia-Artikel „Der Dibbuk“ https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Dibbuk

[6]    “Of seventy-five cases documented in dybbuk narratives and exorcism reports, forty-nine involved women suffering from possession by a dybbuk, while only twenty-six involved men … Ninety percent of the spirits taking possession of the victims were men.” Elior, Rachel (2008): Dybbuks and Jewish women. In social history, mysticism and folklore. 1st ed. Jerusalem, New York: Urim. S. 73f.

[7]    Rachel Elior verweist auf Gedaliah Nigals Buch “Dybbuk Tales in Jewish Literature” und schreibt: Nigal notes as well that “of the women, a significant number were young women after their marriages” and that “the abundance of post-marriage young women among the afflicted is a finding that recurs in various cultures”.

[8]    Vgl. Zwick, Reinhold (2013): Hiob im Kino. Die Theodizeefrage im Spiegel aktueller Filmkomödien. In: Werner Schüßler und Marc Röbel (Hg.): Hiob - transdisziplinär. Seine Bedeutung in Theologie und Philosophie, Kunst und Literatur, Lebenspraxis und Spiritualität. Berlin: LIT (Herausforderung Theodizee, 3), S. 173–190.

[10]   Allein dieses Wort spricht dafür, der einleitenden Geschichte eben doch eine Bedeutung zuzuweisen. Wenn es um passende Geschichten geht, dann sind sie eben nicht beliebig, sondern der Haupthandlung zugeordnet.

[14]   Übersetzung Lutherbibel 2017

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/105/am572.htm
© Andreas Mertin, 2017