Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XX

Andreas Mertin


Hinweis: Dies ist die Zusammenfassung meiner Blognotizen der letzten Monate. Wer die Notizen tagesaktuell verfolgen will, kann dies in meinem Blog http://blogsurrogatextrakt.blogspot.de/ tun. Nach zwei Monaten werden diese dann gebündelt im Magazin publiziert.



05. 12. 2016 – Lob der Torheit

Auch das muss mal sein – ein Lob für einen schön luziden Artikel auf kath.net. Wer hätte das gedacht, dass ich einmal dieses Portal für einen Artikel lobe! Unter dem Titel „Kultur als Apostolat“ schreibt eine katholische Kolumnistin eine Hymne auf die Kultur. Das muss einem als Protestanten ja gefallen – vor allem wenn es so offenherzig geschieht wie in diesem Falle. Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über. Die Kolumnistin beginnt mit einer Beobachtung: das Staunen, das der Kölner Dom bei seinen Besuchern hervorruft („Asiaten, Araber, Afrikaner, Europäer“ – lustige Zusammenstellung, fast etwas rassistisch, zudem fehlen die Amerikaner). Wer auch immer die Domplatte betrete, sei erschlagen von der Monumentalität des architektonischen Kunstwerks. Und die Kolumnistin fährt fort:

„Was den wenigsten Touristen klar sein wird: Sie bestaunen zugleich auch den Glauben, der solche Meisterwerke ... hervorgebracht hat“.

Nun ja, ich glaube, dass es sich um ein christliches Bauwerk handelt, dürfte wohl 99,9% der Besucher klar sein. Es gibt freilich, anders als es die Kolumnistin nahelegt, keine zwingende Verbindung von christlichem Glauben und ostentativem Kirchenbau. Da sei der Apostel Paulus vor, der lieber den Leib anstelle eines Bauwerks als Tempel des Herrn ansah. Oder wisset ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist? Und gebaut haben den Kölner Dom immer noch die Architekten, die Handwerker und die Arbeiter. Mit Brecht gesprochen: Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen die Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt?

Die Kolumnistin ergänzt:

„Es ist der katholische Glaube, der vehement und nachhaltig die Würdigkeit der materiellen Welt herausgestellt hat – der aussagt, dass das Geschaffene Zeugnis vom Schöpfer ablegen darf, soll und muss. Es ist der katholische Glaube, der dafür einsteht, dass das, was schön ist, auch gut ist, und das, was gut ist, auch wahr.“

Gut gebrüllt, Löwin. Allerdings ist die Kalokagathia eigentlich ein Ideal der griechischen Philosophie und nachgelagert erst eines der christlichen. Die Kombination des Guten, Wahren und Schönen ordnen wir immer noch vor allem Platon zu. Aber im Sinne des Logos Spermatikos kann man ihn natürlich eingemeinden.

Ob nun freilich der Kölner Dom das geeignete Beispiel für die gut katholische Kalokagathie ist, daran kann man mit sehr guten Gründen einige Zweifel hegen. Zumindest fertiggestellt hat der katholische Glaube dieses Kunstwerk nicht. Wenn nur der katholische Glaube sich am Kölner Dom spiegeln würde, dann sähe dieser immer noch so aus:

Halb vollendet und fehlerhaft. So unfertig, dass die Kölner über Jahrhunderte spotteten, wenn der Kölner Dom einmal fertig werde, sei auch schon die Apokalypse nahe (und der Dom mithin nicht mehr nötig). Dass der Dom heute so erstrahlt und die „Asiaten, Araber, Afrikaner, Europäer“ erfreut, verdanken wir einem gehörigen Schuss Nationalismus und nicht zuletzt: den Protestanten. Der Nationalismus generierte das Bedürfnis nach einem überragenden deutschen Symbol und der Protestantismus in Gestalt des preußischen Königs half entscheidend bei der Finanzierung und Fertigstellung. Noch heute beruft sich der Kölner Dombauverein in seiner Rechtsordnung auf die preußische Kabinettsorder. Der Kölner Dom ist so protestantisch, dass zu seiner Einweihung der kölnische Katholizismus der Feier fernblieb – schließlich war Kulturkampf und man wollte die Preußen nicht ehren. Recht so.

So kann auch heute noch jeder „deutsche“ Protestant erhobenen Hauptes den Kölner Dom betreten und sagen: Ohne uns hätten sie es nicht geschafft – diesen wunderbaren Glanz des Katholizismus, der nur scheinbar den Zusammenfall des Schönen, des Wahren und des Guten dokumentiert. Aber es ist und bleibt letztlich ein nationalreligiöses Symbol.

Und fertig sieht er dann so aus:

Bei unserer Kolumnistin folgt nun eine kritische Jeremiade auf die nachlassende Kraft des Katholizismus, die Kultur, genauer die Hochkultur zu prägen. Ja, das ist irgendwie wahr. Seit 500 Jahren fällt es schwer, eine dezidiert katholische Hochkultur zu entdecken. Selbst für das neueste Fenster des Kölner Doms musste man einen Pfarrerssohn beauftragen. Es gibt einen nicht hinweg zu diskutierenden Graben zwischen Religion und neuester Kunst. Letztere bezeichnet die Kolumnistin später als Aktionskunst – aber da kommt sie 40 Jahre zu spät. Es kann sein, dass man in Kölner Kreisen immer noch meint, H.A. Schult sei der neueste Schrei, aber in Wirklichkeit vergammeln die Relikte der Aktionskunst heute in den Museumsdepots.

Dann folgt eine Eloge, die mir das Herz aufgehen ließ:

Ein Schlüssel zur Wertschätzung von Kultur ist Bildung. Comenius schreibt im Vorwort zu seinem berühmten Lehrbuch über Pädagogik sinngemäß, dass dem Christenmenschen Bildung eine hohe Pflicht sei: Da der Mensch Gottes Ebenbild sei, und Gott allwissend, habe der Mensch die Berufung, in seinem Rahmen am Wissen teilzuhaben und damit auch die Pflicht, sich zu bilden. Die Durchdringung der Welt mit der eigenen Vernunft ist eine Grundlage, um selbst die Welt zu gestalten. Wer authentisch für den Glauben begeistern will, der in einzigartiger Weise die Schönheit und Güte Gottes auch durch seine Schöpfung bekennt, der sollte dies auch in seinem Lebensstil verdeutlichen: Indem man das Gute nicht verachtet, sondern entdeckt und befördert, wo man kann.

Ach, wie Recht die Kolumnistin hat und wie viel mehr Johann Amos Comenius. Aber da meldet sich mein Gedächtnis und murmelt: Comenius? Comenius? War der nicht reformierter Bischof? Genauer: Bischof der Unität der Böhmischen Brüder? Und wurde der nicht von den Katholiken vertrieben und durch halb Europa gejagt? Ist das die katholische Wertschätzung des Guten, Schönen und Wahren? Kann das denn sein: ein reformierter Ketzer als Bewahrer der echten Werte? Das ist der Treppenwitz der Weltgeschichte: Die Apologeten und Bewahrer der wahren Kultur des Katholizismus sind dessen Kritiker und Opfer.

Auch die weiteren Tipps der Kultur-Enthusiastin deuten dann doch eher auf einen Krypto-Protestantismus hin: literarische Salons soll man gründen und dort über Oscar Wilde diskutieren. Und schon wieder meldet sich mein Gedächtnis. Oscar Wilde? Oscar Wilde? Da war doch was. Lebte der nicht in einer wie Katholiken so gerne sagen „objektiv ungeordneten Lebensform“, kam dafür sogar ins Zuchthaus und wurde dadurch so krank, dass er nicht mehr davon genas? Und als er freigelassen wurde und als Büßer in ein katholisches Jesuitenkolleg fliehen wollte, wurde ihm nicht die Aufnahme verweigert? Ja sicher, Oscar Wilde wurde auf dem Totenbett katholisch, aber ob er das selbst wollte, konnte niemand bestätigen. Aber lesen kann und sollte man ihn natürlich.

Denn der Mensch an sich ist ebenso wie der Theologe als Dandy eine respektable Lebensform.

Ansonsten gilt meines Erachtens: Kultur ist weniger ein Apostolat als vielmehr notwendig eine Art Apostat. Aber wie schon Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung gezeigt hat, sind Kunstwerke auch dann noch bedeutsam, wenn der Glaube, der sie hervorgebracht hat, längst auf der Müllhalde der Geschichte gelandet ist. Das gilt für Ägypten, das gilt für Griechenland und das gilt für Rom. (Und Köln).

Trotzdem: ein schöner Artikel. Denn er lobt ein mit protestantischen Mitteln fertiggestelltes Bauwerk, den reformierten Pädagogen der Neuzeit schlechthin und einen homosexuellen Dichter – und nennt das alles exemplarisch für den wahren Katholizismus. Was will man mehr?


08. 12. 2016 – Heim ins Reich!

Idea lässt nichts unversucht, die AfD zu promoten. Das finde ich löblich, dann weiß man wenigstens, wo idea steht. Dieses Mal bereiten sie Konrad Adam einen Empfangsteppich aus. Der schimpft über die EKD, weil diese nicht auf AfD-Linie liegt. Da müsse sich etwas ändern, man könne etwa die Kirchensteuer abschaffen, damit die EKD populistischer werde. Ha, ha. Befragt, was für ihn konservativ sein bedeute, sagt er: „Ich bin gerne Deutscher. Ich liebe die deutsche Landschaft, die deutsche Kultur, die deutschen Kirchen, die deutsche Musik und die deutsche Sprache. Alles das möchte ich erhalten und nicht fremden Kulturen preisgeben.“ Das ist schon ein wenig ekelig. Und der gleiche Mensch sagt, er bevorzuge die christlich-jüdischen Grundlagen unserer Kultur, die doch gerade durch ihren kosmopolitischen Charakter hervorstechen. Gerade nicht Nationalkirche, sondern weltumspannende Gemeinde, gerade nicht Einigelung, sondern weltweites Kommunikationssystem – gerade das machen Judentum und Christentum doch aus. Und ob zu den jüdischen Grundlagen unserer Kultur wirklich gehört, zu sagen: „Ich bin gerne Deutscher“ darf nach 1945 wohl mehr als bezweifelt werden.

Aber, ich habe es schon öfter geschrieben, die Funktion von kath.net und Idea ist gar nicht die Verbreitung derartiger Artikel an sich, sondern vielmehr, es dem reaktionären Mob zu ermöglichen, in der Kommentarspalte seinen Sud abzusondern. Und auch dieses Mal möchten viele mit Konrad Adam die deutsche (oder heißt es hier nicht besser: toitsche?) Kultur zu retten:

Verschwindet die deutsche Sprache, verschwindet unsere Kultur, und unsere Identität. So wird auch der Rest von Christentum verschwinden, da gibt es keinen Bach und Hayden mehr.

Das schreibt einer, der sich das schön genuin deutsche Pseudonym „solrex“ zugelegt hat. Ist das nicht wunderbar? Wie soll man jemanden charakterisieren, der solchen Dünnschiss von sich gibt? Glaubt jemand, der so etwas schreibt, wirklich an das, was er da in die Tasten tippt? Es gibt Sprachen in der Geschichte der Menschheit, die tatsächlich untergegangen sind. Trotzdem kennen und pflegen wir ihre Kultur. Man kann an die Alten Reiche in Ägypten denken, an die Maya oder Inka, an manche Indianersprache usw. Selbstverständlich hilft eine Sprache, eine kulturelle Identität auszubilden, aber wer die Sprache wechselt, also etwa von Ungarn nach Mitteldeutschland zieht, wechselt nicht seine Identität, sondern erweitert sie nur. Ein großer Teil der abendländischen Kultur besteht gerade darin, von Kosmopoliten und nicht von Nationalisten befruchtet worden zu sein (das Judentum ist ein wunderbares Beispiel dafür). Johann Sebastian Bach wiederum ist zwar immer wieder ein schönes Beispiel für Reichsdeutsche, aber auch er ist ein Mensch mit Migrationshintergrund. Seine Vorfahren kamen aus Ungarn nach Mitteldeutschland. Seine Musikalität könnte er also durchaus seinen „ungarischen“ Genen verdanken. Und Hayden? Da stockt einem doch ein wenig der Atem: Hayden als herausragendes Beispiel der deutschen Identitätskultur im Interesse der AfD? Hayden ist nun Österreicher durch und durch. Wer ihn zur (bundes-)deutschen Kultur zählt, will nur eins: Heim ins Reich.


08. 12. 2016 – Ein Käfig voller Helden

Es gibt eine neue Online-Zeitung im weltweiten Netz, die sich mit stolzgeschwellter Brust „The GermanZ“ nennt. Das hat uns gerade noch gefehlt. Vielleicht ist es der Versuch, bevor Breitbart nach Deutschland kommt, schnell noch ein Terrain abzustecken. Schaut man auf die Liste der Beiträger und Herausgeber, kommt sie einem seltsam vertraut vor. Es sind fast alles Protagonisten, die sich auch auf kath.net austoben. Und ihre Thematik ist von analoger geistiger Schlichtheit. Die CDU ist zu links und zu sozialistisch, der Lebensschutz ist kaum in Geltung und Gender ist Gaga. Das alles überrascht nicht, wenn man sieht, dass diese Zeitung eigentlich nur die Agenda ihrer Herausgeber umsetzt und deren Bücher promotet. Da ist dann kein Argument zu dumm, um es nicht gegen die imaginierten Gegner einzusetzen. Ein wenig kommen mir die Akteure vor wie die etwas schlichten deutschen Offiziere in der Fernsehserie „Ein Käfig voller Helden“, die sich krampfhaft und doch völlig unzulänglich bemühen, die Gegner in ihrem Lager festzuhalten. Feldwebel Hans Georg Schultz lässt grüßen: „I seh’ nix, i hör nix und i woaß nix.“


09. 12. 2016 – Toitsche Sprachkultur

Heute schreibt in The GermanZ irgendeine Doppelidentität (s. Screenshot rechts) über die Doppelmoral von linken Politikern: „Rechtsruck, wohin man auch schaut – von rhetorischen Doppelmoralisten.“ Und dieser Artikel fängt sprachlich so wunderschön an, dass man mit ihm jeden Kurs für Journalisten über mangelhafte Sprachkompetenz eröffnen könnte. Oder man könnte ihn in der Schule als Beispiel für unreflektierten Sprachgebrauch präsentieren:

Doppelt hält besser. Jeder, der als Zwilling zur Welt kam, oder wenigstens schon mal einen doppelten Knoten gebunden hat, kann dies bestätigen. Nur bei der Moral ist das mit der Duplizität so eine Sache. Wer mit zweierlei Maß misst, gerät schnell in Gefahr, den richtigen Maßstab für die Wirklichkeit zu verlieren. Dann hält doppelt nicht besser, sondern gar nicht.

Doppelt hält besser – die Älteren unter den Lesern werden damit noch etwas verbinden können, das Sprichwort stammt aus der Zeit, als noch genäht wurde. Das korrekte Sprichwort und damit der dadurch kolportierte Erfahrungsschatz lautet nämlich: doppelt genäht hält besser. Nur sprachlicher Schludrian und die Tendenz der Alltagssprache, alles zu verknappen, machte daraus Doppelt hält besser. Sobald man diesen Satz aber von seiner ursprünglichen Bedeutung löst, wird er unstimmig. Keinesfalls ist „doppelt“ alles besser. Wenn man ein sehr teures Kunstwerk kauft in der Annahme, es sei einzigartig auf der Welt, ist es keinesfalls besser, wenn sich herausstellt, dass es ein Doppel des Bildes gibt. Es ist vielmehr eine Katastrophe, weil es die Einzigartigkeit mit einem Schlag zunichtemacht. Wenn man freilich ein Kleidungsstück näht, das größeren Belastungen ausgesetzt ist, dann ist es ratsam, eine Doppelnaht zu setzen, die eben reißfester ist. Wie jeder weiß: doppelt genäht hält besser. Ob das freilich heute noch zutreffend ist, müsste man Fachleute fragen, ich vermute es gibt inzwischen einfache Nähte, die viel reißfester sind als frühere Doppelnähte. Aber das ist für uns jetzt auch nicht so wichtig. Wichtig ist in unserem Falle, den Ursprung dieser Erfahrung mit zu bedenken.

Jeder, der als Zwilling zur Welt kam ... kann dies bestätigen. Rein statistisch bemerkt: In Deutschland brachte 2006 eine von 64 Schwangeren Zwillinge zur Welt. Die Zahl jener, die erfahrungsgesättigt als Zwillinge über „Doppelt hält besser“ Auskunft geben könnten, ist also begrenzt. Nicht jeder kann diese Erfahrung machen. Ich bin kein Zwilling (auch nicht als Sternzeichen), also halte ich mich einmal an Überlieferungen. Da die Herausgeber und Autoren von „The GermanZ“ es ja erklärtermaßen sehr mit der Bibel haben, schlage ich diese einmal auf, suche mir ein berühmtes Zwillingspaar und schaue in Genesis 25, was dazu berichtet wird:

Isaak aber bat den Herrn für seine Frau, denn sie war unfruchtbar. Und der Herr ließ sich erbitten, und Rebekka, seine Frau, ward schwanger. Und die Kinder stießen sich mitein­ander in ihrem Leib. Da sprach sie: Wenn es so ist, warum geschieht mir das? Und sie ging hin, den Herrn zu befragen. Und der Herr sprach zu ihr: Zwei Völker sind in deinem Leibe, und zweierlei Volk wird sich scheiden aus deinem Schoß; und ein Volk wird dem andern überlegen sein, und der Ältere wird dem Jüngeren dienen.

Esau und Jakob heißen die beiden und ihre Beziehung ist über weite Strecken eine von Konkurrenz, Betrug, Übervorteilung und gegeneinander Ausstechen. Von wegen: Doppelt hält besser. Zumindest diese Zwillinge werden – einzeln und unabhängig voneinander befragt – den Satz nicht bestätigen. Aber auch so scheint mir die Idee, dass allein das Zwilling-Sein schon alles besser mache, sehr fragwürdig zu sein. Alexander von Humboldt berichtet übrigens über eine südamerikanische Sitte Folgendes:

Sind [die Kinder] Zwillinge, so verlangen verkehrte Begriffe von Anstand und Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. Zwillinge in die Welt setzen, heißt sich dem allgemeinen Spott preisgeben, heißt es machen wie Ratten, Beutelthiere und das niedrigste Gethier, das viele Junge zugleich wirft. Aber noch mehr: ‚Zwei zugleich geborene Kinder können nicht von Einem Vater seyn‘. […] Um des Hausfriedens willen nehmen es alte Basen der Mutter oder Hebamme auf sich, eines der Kinder auf die Seite zu schaffen.“

Wie gesagt: Doppelt hält besser. Jeder(!), der als Zwilling zur Welt kam, kann dies bestätigen. Wohl eher nicht.

Jeder, der ... schon mal einen doppelten Knoten gebunden hat, kann dies bestätigen. Wie jeder Krawattenträger weiß, hängt das nicht am doppelten Knoten, sondern vor allem an der Sorgfalt, mit der ein Knoten gebunden wurde. Betonen muss man aber, dass der doppelte Knoten zumindest bei Krawatten eher eine ästhetische als eine sichernde Funktion hat. Ob einfacher oder doppelter Windsor-Knoten macht sicherheitstechnisch wenig Unterschiede. Das mag bei den Knoten in der Seefahrt natürlich anders sein, hier ist ein doppelter Knoten wahrscheinlich vorteilhaft.

Nur bei der Moral ist das mit der Duplizität so eine Sache. Diesen Übergang muss man erst einmal verstehen (können). Nur scheinbar bezeichnen in der deutschen Sprache „Doppel“ und „Duplizität“ etwas Gleichartiges. Das ist mehr gemogelt als begründet. Auch wenn sich beide ursprünglich vom selben Wortstamm ableiten, hat das Wort Duplizität in der deutschen Sprache eine etwas andere Bedeutung bekommen. Die Duplizität von Fällen bezeichnet in aller Regel ein zufälliges(!) Zusammentreffen zweier gleicher oder ähnlicher Ereignisse. Noch etwas anders ist der deutsche Sprachgebrauch bei „duplizieren“: Esau wurde nicht dupliziert und auch beim Knoten wird ein erster Knoten nicht dupliziert. Duplikation ist in aller Regel eine Zweitausfertigung nach einem Original. Insofern fragt sich, was aus dem zuvor vom Autoren zum Thema „Doppelt hält besser“ Gesagten nun im Blick auf die Duplizität der Moralanwendung ausgesagt werden soll. Es ist klar, worauf der Autor zusteuern möchte: auf die Doppelmoral. Ich vermute, ihm ist auch klar, dass diese überhaupt nicht mit seinem erkenntnisleitenden Satz von der doppelten Naht in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden kann. Das möchte er aber verschleiern indem er mit mehreren Begriffen, bei denen es irgendwie um Doppelungen, Verdoppelungen, Parallelitäten und dergleichen geht, jongliert. Aber ihm fallen die Begriffe – wie bei schlechten Jongleuren üblich – scheppernd auf den Boden.

Wer mit zweierlei Maß misst, gerät schnell in Gefahr, den richtigen Maßstab für die Wirklichkeit zu verlieren. Wie der Autor von Duplizität auf zweierlei Maß kommt ist mir schleierhaft. Das Duplikat eines Moralurteils wäre ja mit dem ersten Urteil identisch, also gerade kein Fall von „zweierlei Maß“. Es wäre übrigens gerade auch kein Fall von Doppelmoral. Was will uns der Autor also sagen? Uns allen dürfte lebensweltlich klar sein, dass der abstrakte Satz, man dürfte nicht mit zweierlei Maß messen, nur scheinbar richtig ist. Er ist lebenspraktisch völlig unsinnig. Aus guten Gründen messen wir häufig mit zweierlei Maß, genauer: wir verändern den Rahmen der Bemaßung. Was heißt denn schon: gleiches Maß? Wenn ich einen anderen bewusst fälschlicherweise einer Straftat bezichtige, dann ist das Urteil (hoffentlich) immer dasselbe, aber im Endeffekt höchst unterschiedlich: es können einmal 24.000 Euro Strafe sein und einmal 1.000 Euro. Es hängt eben vom Maßstab ab: Gleiches Vergehen = gleiche Strafe ist offenkundig nicht der rechte Maßstab. Gleiches Vergehen = gleich spürbare Strafe aber wohl doch. Im Augenblick diskutiert der Gesetzgeber, ob nicht auch bei Verkehrsstrafen dieser Grundsatz, der bei der Verurteilung zu Tagessätzen ja schon länger im Gebrauch ist, in Anwendung zu bringen wäre. 200 Euro Bußgeld treffen einen Armen ungleich schwerer als einen Reichen, die Strafe ist also ungleich. Es kommt auf den rechten Maßstab an. Was nicht geht, ist willkürlich den Maßstab in Ansehung der Person zu verändern. Wenn eine prominente Bischöfin in einem Auto betrunken bei Rot über die Ampel fährt, kann der Polizist nicht so tun, als ob das nicht geschehen wäre, nur weil es eine Prominente ist. Würde man die Prominente laufen lassen, die angetrunkene Arbeiterin aber bestrafen, wäre das Doppelmoral in der Justiz.

Ob es freilich einen richtigen Maßstab für die Wirklichkeit gibt, das erscheint mir doch sehr fraglich. Und das gilt nicht nur in moralischen oder ethischen Fragen, sondern insbesondere in der Naturwissenschaft. Hier sollte der Autor noch einmal die Realismusdebatte in der Teilchenphysik nacharbeiten. Ich bin kein dezidierter Konstruktivist, aber so viel ist doch klar, dass die Wahrnehmung unserer Wirklichkeit nicht im Sinne von richtig oder falsch, sondern eher im Sinne von angemessen, plausibel und subjektiv nachvollziehbar zu beschreiben ist. Aber ich vermute, hier spielen irgendwelche naturrechtlichen Hintergedanken eine Rolle. Da ist ja immer schon alles klar und vorgegeben.

Wer mit zweierlei Maß misst, gerät schnell in Gefahr, den richtigen Maßstab für die Wirklichkeit zu verlieren. Dann hält doppelt nicht besser, sondern gar nicht. Abgesehen von der Frage, wie man von zweierlei (also unterschiedlichem) Maß auf doppelt kommt, ist die Argumentation hier eher lustig, aber kaum einsichtig. Der Erfolg der Doppelmoral – darum geht es dem Autoren schließlich – begründet sich ja nicht zuletzt dadurch, dass man damit recht gut durch die Welt kommt, ja, so sage ich einmal als Protestant, dass sie für die Menschen geradezu charakteristisch ist. Theologisch gesehen ist Doppelmoral für alle Menschen alltägliche Lebenspraxis. Und das nicht nur, weil man auf die Aufsichtsräte und ihre Boni schimpfen kann, schnell im Büro aber die Privatpost verschickt und Büroutensilien mitgehen lässt. Sondern weil der Mensch nichts weniger will als erkennen zu müssen, dass er durch und durch Sünder ist.

Daß der Mensch - vor aller Fremdheit, die ihm in anderem begegnet - sich selbst zutiefst fremd ist, hat Luther in seiner Römerbriefvorlesung mit außerordentlicher Hellsicht aufgewiesen. Von einem Willen ist für Luther die Existenz des Menschen bestimmt: nicht vor das Eigene gebracht, nicht mit sich selbst vertraut gemacht zu werden. Es ist, was sich hier nachdrücklich und ungehalten zur Geltung bringt, der über alles entschlossene Wille zur Abkehr von seiner eigenen Wahrheit. Ihr will er unter keinen Umständen ins Angesicht sehen, nicht sich selber angeeignet werden. Denn eine Nähe des Menschen zu sich selbst, in der er in sein Eigenes zu blicken genötigt wäre, würde augenblicklich erkennen lassen, daß er weit davon entfernt ist, seinem eigenen Heil der Nächste zu sein. Die Wahrheit über den Menschen ist vielmehr die seines Sünderseins: die seiner elenden, abgründigen Nichtigkeit. [Michael Trowitsch, Verstehen und Freiheit]

Das nun auf „The GermanZ“ vorgestellte „Beispiel für rhetorische Doppelmoral“ ist keines. Von einer Doppelmoral kann immer dann gesprochen werden, wenn unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe verwendet werden, obwohl die der Bewertung zugrunde liegenden Sachverhalte gleichartig sind. Im vorliegenden Fall wird aber kritisiert, das der SPD-Abgeordnete Stegner für diverse Fälle immer das gleiche Erklärungsmuster verwendet (nämlich: Pegida trägt Mitschuld). Das ist nun gerade keine Doppelmoral. Doppelmoral wäre es, wenn er bestimmte Handlungen bei Pegida-Anhängern verurteilt und dieselben Handlungen bei Jusos goutiert. Doppelmoral ist es, wenn Linke die Gewaltakte der Neonazis gegen Asylanten verurteilen, die Gewaltakte der Antifa gegen Rechte aber nicht oder, schlimmer noch, sie sogar legitimieren.

Genau darum geht es dem kritisierten Rudolf Stegner aber gar nicht. Er kontextualisiert zwei Ereignisse nur in ein gesellschaftliches Klima, das sich durch das Auftreten von Pegida verschlechtert hat. Das ist wahrscheinlich etwas willkürlich, aber sicher kein Fall von Doppelmoral. Ich glaube auch nicht, dass Stegner meint, wenn er nur oft genug „Vorsicht Pegida!“ ruft, würde das Wirkung zeigen. Dann aber müsste der Text seines Kritikers auch mit „Wiederholung macht es nicht besser“ beginnen und nicht mit „Doppelt hält besser“. Dann wäre aber das Wortspiel mit der Doppelmoral weg. So oder so wird keine stimmige Geschichte draus. Eine Zeitschrift sollte aber gerade in den ersten Tagen, in denen sie sich auf dem Markt platziert, mit etwas mehr (sprachli­cher) Sorgfalt glänzen. Und vor allem dann, wenn sie sich ganz stolz „The GermanZ“ nennt. Aber vielleicht sind sie so – die deutschen Helden anno 2016.


09. 12. 2016 – Himmlische Berührungen. Oder: Sprachkunde für Neu-Deutsche

Es gibt Texte, die sollte man wenigsten noch einmal Korrektur lesen, bevor man sie veröffentlicht. Sonst sind sie nur eine Ansammlung von misslungenen Metaphern. Hier einige Zitate aus der heutigen Freitagskolumne auf kath.net:

„Es gibt Orte, an denen sich Himmel und Erde berühren.“

„Doch der stete Tropfen des Alltags höhlt bekanntlich den Stein.“

„wer im geistlichen Sinne Muskeln aufbauen will, der muss schon mehrmals als ein Mal im Jahr trainieren.“

„Und was tut Gott? Er nimmt mich erstmal ganz fest in seine Arme. Er hört mir zu, wie ich ihm mein Herz ausschütte. Ganz offen, ganz unumwunden, das auch in der Beichte. Er versteht mich, er weiß, was ich meine und was mich bewegt. Wo es nötig ist, rückt er mir den Kopf zurecht. Renkt ein, was ausgerenkt war. Da zucke ich vielleicht schon mal zusammen, weil ich denke: "Oh, das tut jetzt bestimmt weh." Tut es aber am Ende komischerweise doch nicht. Ich spüre anschließend nur, dass alles wieder so funktioniert, wie es funktionieren soll. Es ist eher so, als wenn eine eiternde Wunde aufgemacht wird, damit alles Schlechte darin abfließen und die Heilung beginnen kann.“

„Wir können Andere nur entzünden, wenn wir selbst brennen. Dieses Feuer in uns wird allzu leicht manchmal selbst ausgeblasen im Sturm unseres Alltags. Entzünden wir es dann neu!“

Ist das nicht goldig? Das nennt man wohl besinnungsloses Metapherngestöber. Jede Metapher wird gegen ihren Bedeutungssinn verwendet, aber nicht innovativ (als kühne Metapher), sondern nur assoziativ:

  • aus Mut machenden Sprichwörtern werden so unter der Hand depressive („Steter Tropfen höhlt den Stein“ – Zur Erinnerung, natürlich nur für Linke: Noch einmal Bots hören! „Das weiche Was­ser bricht den Stein“);

  • aus Nicht-Orten (U-Topien / A-Topien) werden reale Orte („wo Himmel und Erde sich berühren“; dazu schon Flammarion höchst ironisch 1888: „Ein Missionar des Mittelalters erzählt, dass er den Punkt gefunden hat, wo der Himmel und die Erde sich berühren …“);  

  • aus dem Eingeständnis der menschlichen Schwäche werden dann religiöse Muskelspiele (trotz 2. Kor. 12, 9: „Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne.“)

  • Und dann gibt es tatsächlich noch anatomische Wunder: Gott renkt ausgerenkte Köpfe ein, vielleicht aber auch nur metaphorisch ausgerenkte Schultern oder Wirbel. Und das tut nicht mal weh (Letzteres funktioniert aber nur bei Geistern und Zombies oder wie rechts abgebildet auf alten österreichischen Scherzbildern).

  • Und indem Gott die Wirbel einrenkt, öffnet sich irgendwie eine eiternde Wunde, das Schlechte(?) fließt ab und die Heilung beginnt. Man könnte auch sagen: Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Das mit dem Brennen schließlich („Wir können Andere nur entzünden, wenn wir selbst brennen“) ist der Emmaus-Geschichte entnommen, wird aber im Sinne der religiösen Selbstermächtigung gedreht. In der Emmaus-Erzählung ist es Gott, der das Herz der Jünger zum Brennen bringt. In der Kolumne können wir aber unser Herz einfach selbst entzünden (Entzünden wir es ... neu!) und dann andere anstecken. Das funktioniert zugespitzt gesagt nicht bei Katholiken, Lutheranern oder Reformierten, sondern allenfalls bei Pfingstlern und Schwärmern. Und es ist theologisch höchst fragwürdig. Man kann Gott im Sinne von Pfingsten bitten, unsere Herzen zu entflammen, aber mehr auch nicht. Oder wir machen ihn überflüssig. Der Witz der Emmaus-Geschichte ist jedenfalls, dass die beiden Jünger wie blind sind und erst Christus sie zur Erkenntnis bringt und ihre Herzen entzündet. Worum es geht, ist wunderbar ausgedrückt auf einem Bild von Jaco­bus Buys nach einer Vorlage von Rembrandt. Alles Licht, alles Feuer, alles Leuchten geht von Christus aus. Soli Deo gloria!


14. 12. 2016 – Zensur?

Haben rechte Seiten einen gesellschaftlichen Anspruch darauf, von der deutschen Industrie finanziert zu werden? Einige meinen, ja. Sie sehen die Meinungsfreiheit gefährdet, wenn die deutsche Industrie nicht weiter Anzeigen auf ihren Seiten schaltet. Diesen Eindruck muss man zumindest haben, wenn man den Aufstand sieht, den einige Seiten veranstalten, weil ein Werbetreibender bei deutschen Unternehmen nachgefragt hat, ob ihnen überhaupt bewusst sei, in welchen Kontexten ihre Werbung auftaucht und ob ihnen das egal ist. Zum Beispiel beim reaktionären Breitbart-Portal in Amerika. Die Unternehmen kaufen Werbeeinblendungen im Internet in aller Regel pauschal und kümmern sich nicht darum, wo sie erscheinen. Das überlassen sie Agenturen. Sie können freilich festlegen, wo sie nicht erscheinen wollen (z.B. auf Pornoseiten oder Parteiseiten). Angesichts der Aufwendungen, die Werbetreibende sonst machen, um ihr Zielpublikum zu erreichen, wundert es einen schon, dass sie es schlicht in Kauf nehmen, auch auf rechten, rechtspopulistischen und/oder rechtsradikalen Seiten zu erscheinen. Nun gibt es genügend große deutsche Unternehmen, die konservativ, ja sogar reaktionär ausgerichtet sind und vermutlich keine Probleme haben, auch rechte und deutschnationale Seiten zu fördern.

Die müsste man als Meinungsportalbetreiber aber gezielt ansprechen, während so ein automatisch eingeblendeter Werbebanner mit dem das Geld fließt, viel angenehmer ist. Fällt das weg, tut es weh. Aber daraus eine Headline wie „Meinungsfreiheit durch Boykott bedroht“ zu konstruieren ist absurd. Was ist passiert? Nachdem der oben genannte Werbetreibende bei der Industrie nachfragte, ob sie tatsächlich rechte Seiten finanzieren wollen, haben diese zahlreiche Aufträge gecancelt, genauer: sie haben benannt, wo sie künftig nicht mehr erscheinen wollen. Und das in einer Art vorauseilender Vorsicht auch bei Seiten, die weniger rechtsradikal als vielmehr schlicht rechtskonservativ sind. Diese haben nun empfindliche Verluste. Das kann man bedauern (ich tue es nicht), ist aber in keiner Hinsicht Zensur oder Einschränkung der Meinungsfreiheit. Denn es ist doch klar: es gibt kein Recht darauf, dass andere (oder gar die Industrie) die eigene rechte Meinung finanzieren. Das ist Schwachsinn. Es gibt ein Recht darauf, dass der Staat die Meinung der Menschen nicht unterdrückt – soweit diese nicht gegen geltende Gesetze verstößt. Meinungsfreiheit heißt daher keinesfalls, man dürfe alles sagen. Antisemitismus, Rassismus, Völkerverhetzung usw. sind in Deutschland explizit ausgeschlossen. Und das ist gut so. In Amerika ist man da lässiger – mit allen Konsequenzen. Der Staat in Deutschland unterdrückt keine Meinungen – die widerliche Erscheinung namens Pegida ist ein deutlicher Beleg dafür.

Es ist keine Zensur, wenn ein Unternehmen sagt, wir fördern mit unserer Werbung nicht Seiten, die mit unseren Unternehmenswerten nicht übereinstimmen. Man kann es problematisch finden, wenn jemand hingeht und ein Unternehmen auffordert, keine Werbung bei diesem und jenem zu schalten. Es hat ohne Frage ein Geschmäckle, weil es ganz entfernt klingen könnte wie der historische Aufruf „Kauft nicht bei Juden“. Nur hat es überhaupt nichts damit zu tun. Denn nicht der Boykott an sich ist das Problematische, problematisch kann allenfalls sein, wer wen aus welchen Gründen boykottiert. Ist es problematisch, wenn Mahatma Gandhi die Inder dazu aufruft, keine Güter bei der Kolonialmacht  zu kaufen? Die britischen Händler dürften jedenfalls empfindlich getroffen sein – haben sie nicht ein Recht darauf, dass die Kolonialisierten bei ihnen einkaufen? Ist es problematisch, wenn die Schwarzen Amerikas die Busse boykottieren, die sie zur Rassentrennung zwingen? Oder haben die Busunternehmen ein Recht darauf, dass die Ausgegrenzten dennoch bei ihnen mitfahren?

Die Neurechten haben nun Angst, dass ihr bisheriges Geschäftsmodell nicht mehr funktioniert. Man polemisiert „meinungsstark“ gegen den Großteil der Bevölkerung, hetzt gegen Andersdenkende, fordert zum Partei- oder Kirchenaustritt aus – und dennoch fließt das Geld der Werbeindustrie, denen es scheinbar nur um Werbung zu gehen hat. Dieses Modell gerät dann in Gefahr, wenn Werbetreibende selbst ethische Grundregeln aufstellen und berücksichtigen. Die deutsche Industrie hat sich sehr lautstark und entschieden für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen. Ist es nicht konsequent, wenn sie jene nicht mehr fördert, die permanent dagegen polemisieren? Die permanent Zwietracht säen? Die einen Konnex von Milben und Flüchtlingen in Deutschland herstellen und so ein bisschen Goebbels spielen? Ich finde es daher eher skandalös, wenn die Keile-Treiber unserer Gesellschaft nun laut jammern, ihr bequemes Finanzmodell gehe den Bach runter und das als Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit darstellen.

Das ist nicht zuletzt eine Beleidigung all jener, die wirklich für ihre Meinung eintreten ohne gleich den Klingelbeutel durchzureichen. Seine Meinung im Internet kundzutun, kostet in der Regel gar nichts oder nur wenige Euro. Nur wer meint, die Industrie müsse mit ihrer Werbung auch noch den Lebensunterhalt der „Meinungsstarken“ bezahlen, bekommt Probleme. Zumindest dann, wenn er sich am rechten oder linken Rand der Gesellschaft positioniert. Aber vielleicht haben die Larmoyanten ja Recht, eine Meinung zu haben, sollte honoriert werden ... Dann freue ich mich auf die Protestkampagne der linksradikalen indymedia, weil die Industrie sie nicht mehr durch Werbung finanziert. Ach – das hat sie noch nie getan? Da ist doch die Meinungsfreiheit bedroht, oder? Das ist der Unterschied: bei indymedia schlägt mein AdBlocker nicht an, keine Werbung, kein Tracker, nichts. Bei einer der bejammernswerten neurechten Seiten meldet mein AdBlocker, dieser wolle gleich 16mal Werbung einblenden bzw. meine Aktivitäten tracken, mit anderen Worten, mich nicht nur mit Meinungsdreck, sondern auch mit Werbemüll verfolgen und meine Daten abgreifen. Warum machen sie das nur? Wie sagte schon ein meinungsstarker Zeitungsmann über das Kerngeschäft des Journalismus? Dieses sei „die Vermarktung von Werbung. Journalistische Inhalte sind das Vehikel, um die Aufmerksamkeit des Publikums für die werblichen Inhalte zu erreichen." Wenn das stimmen würde, müsste man ja nur die Meinung ändern, um weiter Werbung transportieren zu dürfen.


15. 12. 2016 – Statistik I

Gerade geht eine Statistik durch die Presse, die ich überaus interessant finde. Im Kern ist es eine weltweite Studie zur Ignoranz. Menschen aus 40 Ländern wurden danach befragt, wie sie bestimmte Verhältnisse oder Haltungen einschätzen bzw. was sie vermuten, wie diese von der Bevölkerung des Landes angesehen werden, in dem sie wohnen. Klassisch wäre für so etwas also die Frage, Was glauben sie, wie viele Juden in ihrem Land wohnen? Aus der Differenz könnte man eine Markierung für Ignoranz (also das nicht Kümmern um reale Fakten) ableiten.

Gefragt wurde nun nicht nach Juden, sondern zunächst nach dem Anteil von Muslimen in der Bevölkerung des Landes. Erwartungsgemäß wird der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung absolut überschätzt. Die Deutschen gingen davon aus, dass 21% der Bevölkerung Muslime seien. Das ist schon deshalb grotesk (oder ignorant), weil selbst der Anteil der Protestanten an der Gesamtbevölkerung nur bei 27% liegt. Tatsächlich beträgt der nominelle Anteil der Muslime in Deutschland etwa 5%. Somit schätzen die Deutschen die Zahl ihrer muslimischen Mitbürger 4mal so hoch ein, als sie real ist. Diese Abweichung ist eine der größten unter den 40 befragten Staaten.

Fragt man nun danach, wie groß wohl der Anteil der Muslime in vier Jahren(!!) sein wird, glauben die befragten Deutschen, dieser steige auf 31% der Bevölkerung. Das ist geradezu grotesk. Die Befragten gehen also – unterstellt, sie hätten nachgedacht – davon aus, dass in vier Jahren der Islam die größte Einzelkonfession (nach den Konfessionslosen) ist. Das erklärt manche der panischen Reaktionen, aber noch nicht, wie so etwas zustande kommt.

Nicht alles aus der Befragung stimmt pessimistisch, aus einigen Daten lassen sich auch positive Folgerungen ziehen. So glauben die Befragten zwar, ein Drittel ihrer Mitbürger sei homophob, de facto liegt der Anteil aber nur bei 8%. Wären die Parteien sich klar, wie klar die Haltung der Bundesbürger in dieser Frage wäre, würden sie vielleicht auch offener und fortschrittlicher agieren. In den USA halten fast 40% der Bevölkerung Homosexualität für unmoralisch, in Russland mehr als 70% - da ist Deutschland schon einen guten Schritt vorangekommen, könnte sich aber immer noch an den skandinavischen Staaten ein Beispiel nehmen.

Noch ein weiteres interessantes Ergebnis:

die Befragten rechneten mit einem 18%-Anteil derer, die moralische Vorbehalte gegen Sex vor der Ehe haben.

Der reale Anteil ist dagegen nur 1/3 so groß. Gerade mal 6% der Bevölkerung befinden sich noch im 19. Jahrhundert.

Hier zeigen sich die positiven Folgen der 68er-Revolution.

Und ein letztes Beispiel:

die Befragten rechneten damit, dass beinahe die Hälfte der Gesamtbevölkerung eine Abtreibung für moralisch verwerflich halten würden. Real beträgt der Anteil aber nur 19%. Dieses Ergebnis hat auch mich überrascht, ich hätte den Ablehnungsgrad höher eingeschätzt. Man merkt, dass das laute Geschrei der so genannten Lebensschützer einem die Perspektive zerstört. 

Wer die Daten nachlesen will, kann das im folgenden Papier tun:
www.ipsos-mori.com/Assets/Docs/Polls/ipsos-mori-perils-of-perception-charts-2016.pdf


04.01.2017 – Statistik II     

Kath.net verweist auf einen kanadischen Professor, der gezeigt habe, dass konservative Gemeinden wachsen, während liberale schrumpfen. Nun ist das nicht besonders überraschend, zeichnen sich doch konservative Gemeinden in der Regel durch einen höheren sozialen Druck zum Verbleib in der Gemeinschaft auf, während liberale Gemeinden ihren Mitgliedern - wie der Name schon sagt - alle Freiheiten lassen. Soweit, so nachvollziehbar. Ob es freilich an der konservativeren Theologie liegt, die diese Gemeinden beständiger sein lässt, ist zumindest fraglich.

Ich mache mal einen deutschen Lackmustest und vergleiche die liberale EKD mit der konservativen SELK. Unter der Voraussetzung, dass „schrumpfen“ schwindende und „wachsen“ steigende Mitgliederzahlen bedeutet, kommt man zu interessanten Ergebnissen. Setzt man den jeweiligen Mitgliederstand im Jahr 2006 auf 100 und beobachtet die Entwicklung in den folgenden Jahren, dann muss man sagen: Eine Differenz zwischen der liberalen EKD und der konservativen SELK lässt sich so gut wie gar nicht feststellen. So einfach ist das mit konservativ = wachsend und liberal = schwindend offenbar nicht. Oft ist es schlicht eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung. Oder man verwechselt absolute mit relativen Werten. Aber vielleicht ist in Amerika/Kanada auch alles anders.


06.01.2017 – „Nafris“

Seit dem Neujahrstag macht ein Wort aus einem Tweet der Kölner Polizei die Runde, das zu vielfältigen Überlegungen Anlass gegeben hat.

Ich vermute einmal, die Mehrheit derer, die erregt darüber diskutieren, wissen nicht einmal, was das Wort genau bezeichnet. Ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Das ursprüngliche Kürzel lautet offenkundig „NAFRI“. Das soll der polizeiinterne Begriff für NordafrikanischeIntensivtäter sein. Schon diese Wahl dürfte man zu Recht als unglücklich bezeichnen können, denn worauf sich das abschließende I bezieht, ist durchaus unklar. Zu nahe liegt der Gedanke, dass schlicht „Nordafrikaner“ gemeint ist. Das aber wäre nicht nur rassistisch, sondern vom Grundgesetz verboten. Selbstverständlich darf die Polizei nicht einfach Menschen untersuchen, nur weil sie Nordafrikaner oder Araber oder Juden oder Chinesen sind. Das verstößt gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Die Polizei beteuert daher, der Begriff bezeichne nicht Nordafrikaner an sich, sondern eben die spezifische Klientel der Intensivtäter aus dieser Gruppe. Ich möchte dieser Versicherung glauben. Sie harmoniert freilich nicht mit dem Tweet der Polizei. Der meldet nämlich nicht, eine Gruppe werde daraufhin untersucht, ob „NAFRI“ darunter seien, sondern die gesamte Gruppe (mehrere Hundert) wurde vorab als „NAFRIS“ charakterisiert. Das finde ich schon außerordentlich problematisch.

Und noch etwas anderes stört mich. Das ist die im Deutschen an sich durchaus übliche Pluralbildung bei Abkürzungen mit dem Plural-s. Wir kennen das aus „Juso / Jusos“, „CD / CDs“, aber eben auch „Assi / Assis“, „Proll / Prolls“. Meines Erachtens bekommt das an sich schon problematische Kürzel „NAFRI“ durch das Plural-s noch einmal einen herabsetzenden, rassistischen Drive. Der Tweet der Polizei wäre vermutlich präziser (und weniger herabsetzend) gewesen, wenn er gelautet hätte:

Am HBF werden derzeit mehrere hundert Menschen auf NAFRI überprüft.
Am HBF werden derzeit mehrere Hundert auf NAFRI überprüft.

Aber der Tweet hätte dann nicht die diffusen Ängste einer Klientel bedient, die gerne von Assis, Prolls, Nafris und dergleichen redet und die herabsetzende Konnotation zur eigenen Selbsterhöhung genießt. Denn darum ging es doch in der Nachricht. Warum hätte man sie sonst so formulieren sollen. Verständlich wäre der Tweet ja auch für jeden gewesen, wenn er schlicht gelautet hätte: wir kontrollieren am HBF mehrere hundert Menschen.


11.01.2017 – Noch einmal: Rizzi

Meine im letzten Heft publizierte Kritik an den Kirchenfenstern von James Rizzi in der Essener Kreuzeskirche hat einige Reaktionen hervorgerufen – zustimmende und ablehnende. Interessant ist, dass einige der Beteiligten Kritik sofort mit Einmischung verwechseln, so als ob Kirchenfenster nicht das Öffentlichste der Welt wären, zu dem jeder sein Urteil abgeben kann. Und eine Gemeinde braucht sich bei einer verantworteten Entscheidung vor kritischen Urteilen ja nicht zu fürchten. Sie ist eben zu anderen Schlussfolgerungen gelangt. Und ich kann mich trösten: Es gibt so viele schlechte Kirchenfenster in Deutschland, da schmerzen zwei weitere auch nicht mehr. Wenn es mal gute Entwürfe gibt, dann kann man aber nahezu sicher sein, dass die Gemeinde sie ablehnen wird. Heidelberg lässt grüßen.

Einer meiner Mitherausgeber wies mich im Kontext unserer Gespräche über die Essener Vorgänge nun auf ein interessantes Detail hin, dass ich den Leserinnen und Lesern des Magazins nicht vorenthalten will. In der Weihnachtsausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) schrieb Markus Günther eine Philippika gegen die Zeitgeistorientierung der großen Kirchen. Diese Polemiken werden durch Wiederholung nicht besser und keinesfalls plausibler. Wer ernsthaft meint, die evangelische Kirche habe sich in den letzten Jahren in Richtung Zeitgeist bewegt, hat entweder einen anderen Begriff von Zeitgeist als ich oder kennt die Evangelische Kirche nicht. Wenn man nicht geneigt ist, mit Zeitgeist von vorneherein etwas Pejoratives zu verbinden, dann könnte es ja durchaus im Interesse der Kirche sein, in der Gegenwart anzukommen, präsent zu sein (und nicht nur Präsenz zu zeigen). Geistesgegenwärtig zu sein ist für mich immer noch eine positive Eigenschaft. Und auf der Höhe der Zeit zu sein auch. Andere finden das verdächtig, weil sie glauben, das Christentum habe seit 33 n.Chr. petrifiziert zu sein und dürfe nicht geändert werden. Petrifiziertes hat aber die Eigenschaft, nur noch Abrieb und damit Verlust zuzulassen. Veränderungen jedoch ermöglichen zumindest Aufbrüche - die Reformation steht dafür.

Die Redaktion der FAS wollte jedenfalls den kritisch gemeinten Vorwurf der falschen Zeitgeistorientierung der Kirchen für ihre Leserinnen und Leser sinnenfällig machen und platzierte ohne Kommentar(!) einen Ausschnitt eines der Kirchenfenster von Rizzi aus der Essener Kreuzeskirche über dem Artikel. Und symbolträchtig machten sie es so, dass vom entschwindenden Christus nur noch die Füße zu sehen sind. Offenkundig müssen die Redakteure der Meinung gewesen sein, dass ein Blick auf die Fenster von Rizzi reicht wenn man das im Artikel Ausgeführte evident machen will. Nun kann man kritisch einwenden, dass die bei Rizzis Fenster vorausgesetzte Situation gerade die des vorkirchlichen Christentums ist. Christus musste in den Himmel fahren, damit so etwas wie Kirche überhaupt entstehen kann. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, dass die FAS-Redakteure Rizzis Fenster als eindeutiges Symptom des Zeitgeistes begriffen haben. Sie wittern hinter dem Einbau des Fensters den Versuch, sich bei einem bestimmten Publikum anzubiedern. Dem mag ich freilich kaum widersprechen.


13.01.2017 – Vom Klappern und von Mäusen

Es ist immer wieder schön zu beobachten, wie die Reaktionäre unter den Katholiken seit dem Amtsantritt von Papst Franziskus die Contenance verlieren. Sie pöbeln so herum wie es den Gerüchten nach im Ruhrgebiet allenfalls aus der Bahnhofskneipe zu fortgeschrittener Stunde tönen soll. Und sie kennen keine Hemmungen. All jene, die noch bis vor wenigen Jahren Ehrfurcht vor dem hohen Herren in Rom von allen Abweichlern einforderten, überbieten sich nun in ihrer Klerikerschelte. Der Papst ist böse, die Kurie ist böse und die deutschen Bischöfe und Priester waren es ja schon immer – es sei denn sie standen den Pius- oder Petrusbrüdern nahe. Sobald aber ein Bischof auch nur ein gutes Wort für Flüchtlinge, Benachteiligte oder Ausgeschlossene einlegt, gilt er als Renegat, den man nach Belieben beschimpfen kann.

Ein Musterbeispiel für gepflegte Sprache und subtile Kritik im reaktionären katholischen Lager ist ein sich selbst als Journalist bezeichnender Mensch, der nicht müde wird, an der Verbesserung der katholischen Kirche zu wirken – zumindest daran, was er für eine Verbesserung hält. Kürzlich tat er das unter der wunderbar hochkulturell geprägten Überschrift:

Hochwürdige Herren, haltet endlich die Klappe!

Er fühlte sich bemüßigt, über betagte Kleriker herzuziehen, die sich beklagt hatten, dass für katholische Priester nach ihrer Dienstzeit oft Einsamkeit der Preis des Zölibats sei. Ich finde das eine legitime Klage und finde es auch legitim, darüber nachzudenken, warum Menschen in eine solche Situation kommen müssen. Aber ich bin ja auch Protestant. Was mir unangenehm auffiel, war der rüde Ton des katholischen Kollegen. Im Ruhrgebiet steht „Halt die Klappe“ direkt nach den noch etwas deftigeren „Halt die Fresse“ und „Halt die Schnauze“. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man einem Priester oder Bischof gegenübersteht und in dieser Face-to-Face-Situation zu ihm sagt: Hochwürdiger Herr, halt endlich die Klappe. Selbst im Ruhrgebiet würde man dies für absolut unangemessen halten. Aber im Ostwestfälischen, in dem der Kollege lebt, scheint das normal zu sein. Ich werde mich mal beim Paderborner Bischof erkundigen.

Ich habe mich dann gefragt, was eigentlich der semantische Gehalt der Überschrift ist und bin auf folgendes gestoßen: Im Mittelalter nahmen die Klosterbrüder in der Kirche zum Beten auf Klappstühlen Platz. Stand nun einer unvermittelt auf, ohne die Sitzklappe festzuhalten, dann entstand in der Kirche ein ungebührlicher Lärm, der die anderen beim Beten störte. Deshalb: Halt (beim Aufstehen) die Klappe (fest)! Nun wird niemand durch die Briefe von rheinischen Priestern im Ruhestand vom intensiven Beten abgehalten. Allenfalls könnte man im ursprünglichen Sinne den Ausdruck so deuten, die Betreffenden sollten sich leiser zu den sie betreffenden Fragen äußern, denn der Journalist fühle sich durch sie gestört. Aber Sinn macht das kaum. Nein, unser Kollege rekurriert auf die vulgäre Lesart der Redewendung. Er meint: haltet die Fresse.

In der Sache beginnt der Kritiker seine Polemik an den Priestern mit folgenden vier Sätzen:

Man kann sich den Kalender danach stellen. Irgendwann im Januar oder Februar, d.h. nach Ende der Weihnachtszeit und vor Beginn der Karnevalszeit kommen sie aus den Löchern gekrochen und machen Krawall. Es sind die inzwischen ergrauten Kirchenrevoluzzer der späten 60er und frühen 70er. Mit ihrer vom „Geist des Konzils“ verdorbenen und von den Jahren der Frustration verfaulten Theologie stellen sie in unterschiedlichen Konstellationen Jahr für Jahr dieselben Forderungen.

Man kann den Kalender danach stellen? Das muss schon eine äußerst grobe Orientierung sein, die man so erlangt. Ich pflege nach bestimmten Ereignissen meine Uhr zu stellen (bzw. auf die Uhr zu blicken), in aller Regel um 7 Uhr und um 12 Uhr, weil dann unsere Kirchenglocken erklingen. Aber den Kalender nach etwas stellen? Wenn das und das passiert, dann ist es entweder Januar oder Februar? Da wird eine schöne Redewendung verhunzdeutscht – wie Lichtenberg schreiben würde. Und sachlich stimmt es nicht einmal – man braucht nur bei Google „Priester fordern“ eingeben und kommt auf: Januar (2017) – Februar (2011) – März (2010) – April (2015) – Mai (2012) – Juni (2014) – Juli (2004) – August (2003) – September (2012) – Oktober(2015) – November (2011) – Dezember (2016). Summa summarum – man kann nach Priesterforderungen natürlich den Kalender stellen, nur weiß man immer noch nicht, in welchem Monat man ist.

Aber um Bildung ist der Kollege nicht verlegen. Wenn er Priester als unreine Mäuse bezeichnen will, dann macht er es höchst subtil.

Im Januar oder Februar kommen die aufsässigen Priester aus ihren Löchern gekrochen.

Darauf muss man erst mal kommen! Wer würde schon Geistliche mit unreinen Mäusen vergleichen? Doch nur der, der ihnen gegenüber dekretiert: Haltet endlich die Klappe.

Wie kommt einer wie er darauf, Menschen mit Mäusen zu vergleichen? Nun, unser katholischer Kollege kennt sich eben aus in der Vulgata, die schon früh diesen Begriff geprägt hat: „intrate et excitate illum quoniam egressi mures de cavernis suis ausi sunt provocare ad proelium“ (Geht hinein und weckt ihn, denn die Mäuse sind aus ihren Löchern gekommen und haben gewagt, zur Schlacht herauszufordern) sagen laut Vulgata die Offiziere des Holofernes zu seinem Verwalter und vergleichen so die Israeliten mit unreinen Mäusen und ihre Wohnungen mit Mäuselöchern. Inhumaner im Ton geht es kaum. Das mit den Mäusen ist sprachlich eine Sonderüberlieferung der Vulgata und hat eine tragische Nachgeschichte was die Verbindung von Juden und Mäusen angeht.

Aber darum geht es hier nicht. Der Kollege polemisiert vielmehr gegen jene Revoluzzer, die

„mit ihrer vom ‚Geist des Konzils‘ verdorbenen(!) und von den Jahren der Frustration verfaulten(!) Theologie“

ungehörige Fragen stellen – zum Beispiel nach der Rolle der Frau in der katholischen Kirche. In der Sprache ist das der Tonfall der Piusbrüder.

Aber man darf den guten Kollegen wohl mit einigem Genuss daran erinnern, wie es jenen ergangen ist, die die Redewendung von den Mäusen, die aus den Löchern krochen, seinerzeit verwendet haben sollen. Sie wurden elendig von einer Frau(!) in die Flucht geschlagen. Nehmen wir das als gutes Zeichen und resümieren wir: Hochmut kommt vor dem Fall. Wer andere als Mäuse bezeichnet, ist am Ende noch lange nicht der Sieger. Nur unverschämt.


17.01.2017 – Blühende Phantasiewelten

Was soll man von einem führenden Mitglied einer Institution sagen, das in einem Interview folgenden Unsinn über die religiösen Verhältnisse in Italien von sich gibt: In zehn Jahren werden wir alle Moslems sein. Gut der Mann ist fast 80, aber das heißt ja nicht, dass er unzurechnungsfähig ist. Wie kommt er auf die Idee, bereits 2027 würden alle(!) Italiener Moslems sein – oder, wie es abschwächend im Teaser heißt, der Islam wenigstens die größte Religion darstellen? Diese absurde These setzt ja nicht nur voraus, dass Millionen Muslime nach Italien einwandern, sondern auch, dass noch mehr Millionen von Italienern gezwungen würden, vom Katholizismus zum Islam zu konvertieren. Denn: Wir alle werden ja angeblich zu Moslems.

Zur Begründung heißt es im Text der Nachricht, dass 1970 nur 2000 Italiener Moslems waren und 2015 zwei Millionen. Nun, zum einen scheinen mir beide Angaben falsch zu sein. Die erste Zahl ist zu niedrig, die zweite zu hoch. Aber egal, tun wir für den Moment so, als seien sie zutreffend. Was berechtigt dann zum anderen zu der Annahme, 2027 seien alle 60 Millionen Italiener Moslems oder doch wenigsten 28 Millionen, um die größte Religion in Italien zu bilden (der Katholizismus hat aktuell einen Bevölkerungsanteil von 85%! in Italien). Hat hier jemand versucht, Statistiker zu spielen? Dann ist das aber fürchterlich schiefgegangen. Aber damit wird offenkundig Politik gemacht.

Ich erinnere noch einmal an den Blogeintrag vom 15.12.2016 über die weltweite Befragung über den Anteil von Muslimen in der Bevölkerung. Auch hier ragt Italien heraus. Während der reale Anteil von Muslimen in der italienischen Bevölkerung 3,7% ist, glauben die Italiener, es seien de facto 20%. Und für 2020 erwarten die Italiener 31% Muslime in der Bevölkerung während es nach allen seriösen Statistiken nur 4,9% sein werden. 2020 werden also etwa 3 Millionen Italiener Muslime sein. Und nicht 19 Millionen. Ich kann nachvollziehen, dass jemand, der sich für die Realitäten einer Gesellschaft nicht interessiert, Gefühl und Wirklichkeit verwechselt und zu falschen Schlussfolgerungen kommt. Aber ein Erzbischof sollte doch so viel Schmalz in der Birne haben, dass er nicht das rasende Gefasel der Ausländerfeinde nachplappert, sondern sich erst einmal sachkundig macht. Wenn man schon seine Islamophobie pflegen möchte, dann doch wenigstens mit Argumenten und nicht so billig.


18.01.2017 – Gewaltphantasien

Ein Mensch, der nicht im Ruhrgebiet wohnt, empfiehlt unserem scheidenden Bundespräsidenten, einmal mit der Straßenbahn durchs Ruhrgebiet zu fahren, damit dieser richtig Angst vor Ausländern bekomme. Ich finde das durch und durch rassistisch. Ich weiß nicht, woher dieser Demagoge seine Kenntnisse bezieht, aber solide können sie kaum sein. In seinem Wohnort im Regierungsbezirk Düsseldorf gibt es gerade mal 18,9% Mitbürger mit einem Migrationshintergrund, das ist im Bundesdurchschnitt unterdurchschnittlich, im Berlin des Bundespräsidenten sind es fast 30%, in meiner Heimatstadt Hagen über 33%. In Hagen, das tatsächlich zum Ruhrgebiet gehört, habe ich mich in den 58 Jahren meines Lebens nur einmal durch Andere bedroht gefühlt und das waren Biodeutsche durch und durch, die sich an einem Jugendlichen ihr Mütchen kühlen wollten. Ich wohne in einen Viertel, das sicher noch einen deutlich höheren Anteil mit Menschen mit Migrationshintergrund hat, aber gefährlich lebt es sich dort nicht. Wir haben einen wunderbaren Halal-Supermarkt (neben anderen), seit vielen Jahren leben hier Türken und Deutsch-Türken und es gibt eine gut funktionierende Kommunikation und Integration. Wir haben sogar eine muslimische Abgeordnete der CDU im Bundestag. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Aber wir sind ja auch eine Großstadt und leben nicht hinter dem Mond. Nun gut, das ist etwas unfair, den Hagen ist berühmt für seine niedrige Kriminalitätsrate unter den Städten mit mehr als 200.000 Einwohnern, aber zumindest ist es doch für die bürgerlichen Rassisten erklärungsbedürftig, warum ausgerechnet in einer Stadt mit hohem Ausländeranteil die Kriminalitätsrate so gering ist. Ich finde das nicht verwunderlich, aber es zerstört die demagogische Rede von der besonderen Kriminalitätsbedrohung in Gegenden mit erhöhtem Ausländeranteil.


19.01.2017 – Fake News

Der ostwestfälische Katholik hat schon wieder eine Meinung. Er ist dagegen, dass gegen Fake News vorgegangen wird. Das leuchtet ein, müsste er angesichts der Willkürlichkeit seiner Argumente selbst damit rechnen, zumindest unter Verdacht zu geraten. Sein Argument gegen die Verfolgung von Fake News ist, dass diese von jenen betrieben wird, die selbst Fake News verbreiten. Und sein Beispiel ist die Falschmeldung einiger Online-Portale, dass die NPD verboten würde. Aber wie immer, wenn der Ostwestfale meinungsstark tönt, liegt er nicht nur haarscharf, sondern vollständig daneben. Eine Falschmeldung ist eben gerade keine Fake News, dazu fehlt ihr der Wille zur Fälschung. Aus Versehen haben Redakteure die Verlesung des Antrags für die Verkündung des Urteils gehalten. Das ist bedauerlich, wurde aber innerhalb von Minuten geändert. Auch das unterscheidet den Vorgang von Fake News. Ich vermute, dass weiß auch der ostwestfälische Wahrheitskämpfer. Wenn er trotzdem so tut, als hätten die deutschen Zeitungsredakteure Fake News verbreitet, dann verbreitet er selber eine. Aber was soll man schon von einem erzkatholischen Blogger halten, der Fake News für ein verteidigungswertes Recht im Rahmen der Meinungsfreiheit hält. Man wird doch noch mal sagen dürfen ... Vielleicht sollte er einfach noch mal Falschmeldungen von gefälschten Meldungen zu unterscheiden lernen. Das ist Stoff der Sekundarstufe I.


20.01.2017 – Nachtrag: Fake News und Zehn Gebote

Seine Gedanken zu den Fake News trug unser meinungsstarker Ostwestfale übrigens unter folgender Überschrift vor: „Das neue achte Gebot: Du sollst keine Fake News verbreiten“. Und darunter hatte die Redaktion das obenstehende wunderbare Bild gesetzt. Worauf die Redaktion hinauswill ist klar: auf die ‚Zeitungsente‘. Der Begriff kommt dem Autor insoweit entgegen, als dass „Zeitungsente“ sowohl die Falschmeldung wie die gefälschte Meldung umfasst. Der Begriff ist in der Sache, um die es geht, also nicht trennscharf. Nun ist die zur Illustration herangezogene Ente selbst eine „Ente“, denn sie zeigt keinesfalls einen echten Erpel im Wasser, sondern eine schwimmende Holzente! Diese Ente soll andere Enten täuschen oder Menschen, die auf Enten hoffen, den Anblick einer Ente ermöglichen. Aber so oder so ist es eine Täuschung. Dass die Redaktion die Bilddatei schlicht mit Ente bezeichnet, deutet darauf hin, dass sie es für eine gehalten hat. Die Agentur Pixabay, von der sie das Bild hat, bezeichnet das Bild korrekt als „Wood-Duck“.

Nun aber zum achten Gebot. Ich stelle mich mal dumm und frage, ob nun das Stehlen erlaubt ist. Denn das achte Gebot lautet in der hebräischen Bibel, bei Orthodoxen und Reformierten immer noch: Du sollst nicht stehlen. Wenn es durch „Du sollst keine Fake News anfertigen“ ersetzt wird, dann würde doch etwas fehlen, oder? Vielleicht ist das ein etwas billiger Witz, denn Katholiken und Lutheraner haben das zweite Gebot für überflüssig erklärt (weil sie so oft dagegen verstoßen) und lassen es wegfallen, weshalb das neunte Gebot bei ihnen das achte ist. Nicht verhehlen will ich aber, wie der Reformator Martin Luther im Kleinen Katechismus dieses Gebot übersetzt und auslegt:

Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Was ist das? Wir sollen Gott fürchten und lieben, daß wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, afterreden oder bösen Leumund machen, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum besten kehren.

Und der Heidelberger Katechismus der Reformierten erläutert:

Was will Gott im neunten Gebot?
Ich soll gegen niemanden falsches Zeugnis geben, niemandem seine Worte verdrehen, nicht hinter seinem Rücken reden und ihn nicht verleumden. Ich soll niemanden ungehört und leichtfertig verurteilen helfen und alles Lügen und Betrügen als Werke des Teufels bei Gottes schwerem Zorn vermeiden. Vor Gericht und in all meinem Tun soll ich die Wahrheit lieben, sie aufrichtig sagen und bekennen und auch meines Nächsten Ehre und guten Ruf nach Kräften retten und fördern.

So soll es sein.


28.01.2017 – Folter, Geißelung, Hinrichtung

Ich lerne jeden Tag etwas Neues. Etwa, dass ein Staatenlenker scheinbar zu Recht und unter Beifall der angeblich frömmsten Kreise beider Konfessionen Folter, Geißelung und Hinrichtung befürworten darf. Dient ja nur der guten Sache – also der Verfolgung Andersdenkender und Andersglaubender. Und es hat ja schon einmal erfolgreich geklappt. Und fast 2000 Jahre später hat Mel Gibson einen Film daraus gemacht: Die Passion Christi. [Wird jetzt Mel Gibson eigentlich amerikanischer Botschafter am Vatikan?] Und hatte der römische Statthalter nicht Recht, als er den Aufrührer Jesus Christus, der doch die Souveränität des römischen Rechtssystems in Israel durch Subversion bedrohte, mit Folter, Geißelung und Hinrichtung belegte? Denn was heute den frommen Eiferern für Trump recht und billig ist, muss es doch auch damals gewesen sein? Sicher, Pilatus hätte Jesus Christus abschieben können und ihm die Wiedereinreise nach Palästina verweigern können – aber das war damals noch nicht in Mode. Man lernt eben dazu.

Konkreten Lebensschutz nannten vermutlich auch die Folterer auf Alessandro Magnascos Bild von der peinlichen Befragung im Gefängnis ihr Vorgehen. Diente es doch dazu, die Geheimnisse des Kriegsgegners zu erkunden und so das Leben der eigenen Bevölkerung zu schützen.

An Bilder wie diese werden wir uns nun auch wieder in sich demokratisch nennenden Staaten gewöhnen müssen.

Wie auch an den schrecklichen Gedanken, dass die Bundesregierung in Deutschland plant, Menschen, die (noch) kein Verbrechen begangen haben, dennoch als sogenannte Gefährder einzusperren oder mit Fußfesseln zu versehen. Dass der Rechtsstaat, in dem ich lebe, ernsthaft darüber nachdenkt, Menschen, die nur eines künftigen Verbrechens verdächtigt werden, zu diskriminieren, ist ein erschreckender Gedanke. Wie es im Subtitel von Spielbergs Minority Report heißt, lautet das Endergebnis dieser Entwicklungen: Everybody Runs. Jeder muss flüchten. Auch die, die jetzt laut die vor/für-sorgliche Einkerkerung der Verdächtigen ebenso fordern wie feiern, können jederzeit(!) auf der anderen Seite stehen. Das ist bloss eine Frage des staatlichen Willens. Chief John Anderton ist ein gutes Beispiel dafür. Und es gibt keine Garantie dafür, dass es dieses Mal gut ausgeht. Eine Gesellschaft, die beginnt, Menschen, die sich bisher nichts zuschulden haben kommen lassen, einzusperren, begibt sich – um es populärkulturell auszudrücken – auf die dunkle Seite der Macht.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/105/am571.htm
© Andreas Mertin, 2017