Kriminaldauerdienst

Eine Spurensicherung zu Erzähltheorie und Theologie des Krimis
in sechsundvierzig Indizien

Wolfgang Vögele


1. Vorermittlung: DNA-Abgleich

Kein Genre wird im Fernsehen so häufig bedient wie der Krimi, egal ob im Vorabendprogramm, am Nachmittag oder zur besten Sendezeit nach den Abendnachrichten: Tatort, Polizeiruf 110, verschiedene SOKOs, der Fahnder und der Kriminalist, Bella Block, Rosa Roth, Sperling, Stubbe, der Bulle von Tölz, Kommissarin Heller, Kommissarin Lund, Kommissarin Lucas und viele andere Ermittler mehr suchen nach den Mördern dieser Republik. Wenn alle diese überführten Täter hinter Gittern säßen, die Gefängnisse wären überfüllt. Vergleichbar oft wird nur noch Fußball übertragen, und dieser genießt noch größere Popularität. Zwischen Fußballspielen und Krimis besteht eine Reihe von Ähnlichkeiten. Denn das Fußballspiel gewinnt seinen Reiz aus der Vermischung von Planung und Zufall. Es kann vorkommen, dass die athletisch und strategisch besser vorbereitete Mannschaft über neunzig Minuten das Spiel beherrscht, aber die andere Mannschaft das entscheidende Tor erzielt. Trainer trichtern ihren Spielern Statistik und Fußballtaktik ein, englisches kick and rush, Forechecking, 4-4-2, 4-2-4, 5-4-1 oder das spanischen Tiqui-taca. Auf dem Platz zählt das alles nicht mehr. Trainer, die Spiele durch Überlegung und Planung entscheiden wollen, werden daran verzweifeln. Irgendwann wird das auch der faszinierende Fußballstrategie Pep Guardiola einsehen müssen, während das Jürgen Klopp in Mainz, Dortmund und Liverpool ganz locker nimmt. Wie das Fußballspiel sind Verbrechen nicht berechenbar. Fußballspiel und Fernsehkrimi erhalten neunzig Minuten Sendezeit (manche Krimis auch nur eine Halbzeit von 45 Minuten). Aber weder das entscheidende Tor noch der Ermittlungserfolg lassen sich herbeizwingen oder planen. Und das Böse als solches hat noch kein Kommissar oder Detektiv ausrotten können. Im fatalistischen Akzeptieren dieser Tatsache verstecken sich Überlegungen von theologischer Tiefe. Morde kommen in der besten Familie, unter Freunden und Verwandten und in der besten Gesellschaft vor. Wie der Ermittler mit seinem Team den Mord aufklärt und den Täter entlarvt, das funktioniert nach bestimmten Regeln und Methoden, die sich stets von neuem wiederholen. Die Götter von Regie und Drehbuch hängen ihre Geschichten an die Schicksalsfäden strenger Regeln und Durchführungsbestimmungen. Aber das entscheidende Indiz zur Überführung des Täters spielt häufig der Zufall in die Geschichte ein. Krimis sind zufällige, überraschende Geschichten, die gleichzeitig nach bestimmten Regeln und Gesetzen funktionieren. Kontingenz und Kalkül beim Krimi: Dafür interessiere ich mich und will im Folgenden Indizien für solche Regeln sammeln, ohne das alles schon zu einer Theorie zu verdichten. Einen Seitenblick werfe ich auf die theologische Tiefendimension des Krimis. Der Zuschauer, der diesen Essay liest, soll wie der Spieler durch den Trainer vor dem Fußball-Match, auf den nächsten Mord um 20.17 Uhr vorbereitet sein. (Vielleicht führe ich das Ordnen der Indizien in einem weiteren Essay über die Erzähltheorie des Krimis weiter.)


2. Wasserleichen in der Rechtsmedizin

In den meisten Krimis werden Mörder entlarvt. Betrug, Diebstahl, Klein- oder Bandenkriminalität, das Verschwinden von Personen, sind für den Krimi bei weitem nicht so interessant. Das hat Gründe. Früher wurde der Tod im Krimi versteckt. Die Leiche, die am Anfang eines Krimis halb im Waldboden vergraben aufgefunden wurde, war, wenn überhaupt nur ganz kurz zu sehen. Im aktuellen Fernsehkrimi taucht sie jedoch mindestens zweimal auf: das erste Mal am Tatort, wenn ein Jogger, ein Dackel oder ein spielendes Kind sie zufällig findet, das zweite Mal im neonbeleuchteten Untersuchungsraum der Rechtsmedizin. Die junge Frau, die gerade noch in der Diskothek getanzt hat, liegt nun nackt, mit grob zugenähtem Brustkorb auf einer Metallbahre, während der Anatom über DNA-Analysen, Fussel unter den Fingerkuppen oder das im Mageninhalt aufgefundene Gift doziert. Der tote Körper soll erschrecken und schockieren. Blaue Flecken, Schusswunden, Blutlachen, Knochenbrüche, Verwesungserscheinungen, das alles soll den Tod in seiner Endgültigkeit vorführen. Das hat der Krimi vom Horrorfilm gelernt: Ein wenig Gruseln kann nicht schaden. Deswegen zeigt die Kamera immer mehr Blut, mehr innere Organe, mehr Verwesung, mehr Maden. Letztere benötigt der Rechtsmediziner, auf den ich noch zurückkomme, für seine anatomischen Erläuterungen, während der Kommissar, der genauso wenig davon versteht wie der Zuschauer, stets und pflichtschuldigst, nach der vereinfachten und verständlichen Erklärung fragen muss. Allerdings kann man Schockieren und Brutalität auch überreizen; an dieser Schraube lässt sich nicht dauernd drehen. Der Tod des Opfers liefert am Anfang die erste Markierung des Endgültigen, vor allem des Unumkehrbaren. Der Tote ist gewaltsam gestorben. Der Mord kann nicht rückgängig gemacht werden. Das Opfer erst setzt den Prozess der Ermittlungen in Gang.


3. Metaphysik des Mordopfers

Die Metaphysik des Mordopfers lebt von drei Momenten. Zum einen reduziert der ungeheuerliche Akt des Verbrechens einen bis dahin lebenden Menschen auf das Körperliche und Leblose einer Leiche. Der Blick auf die tödliche Wunde bereitet Schauder. Leben und Mord stehen zueinander in einem nicht zu ertragenden Kontrast. Zum zweiten stellen sich Fragen, die rational aufgeklärt werden können. Welche Tatwaffe wurde benutzt? Wer hat ein Motiv für die Tat? Wer profitiert vom Tod dieser Person? Mehr noch als der Rechtsmediziner ist der Kommissar einem Motiv rationaler Aufklärung verpflichtet. In der Regel beschränken sich beide auf Fragen des Offensichtlichen, die auch aufgeklärt werden können. Das tun sie deshalb, weil sie dem dritten Moment, der Gerechtigkeitsfrage, skeptisch bis ungläubig oder gar ablehnend gegenüber stehen. Warum musste gerade dieser junge Mensch sterben, der sein Leben noch vor sich hatte? Ein Mord stellt die Ermittler vor ein Problem, das rationale und irrationale Aspekte umgreift. Die Tat besitzt ein Moment des nicht zu Revidierenden, und gerade daraus ergibt sich der Wunsch, dieses Verbrechen unbedingt aufzuklären. Die Entlarvung des Täters lässt sich als rationaler Prozess darstellen: Indizien, Motive, Ermittlungsarbeit, Schlussfolgerungen. Aber was geschieht dann? Die Gerechtigkeitsfrage nach der Überführung des Täters lässt sich nicht so einfach beantworten. Deswegen klammern sie viele Regisseure und Autoren einfach aus und überlassen sie dem Zuschauer. Er darf sich ausmalen, was mit dem Täter geschieht. Das Opfer darf doch nicht umsonst gestorben sein. Oder doch? Die offene Gerechtigkeitsfrage wird wieder auftauchen. Sie begleitet jeden Krimi und jede Analyse von Krimis. Jeder Mord setzt einen Impuls zur Aufklärung, mit dem die Zuschauer auf dem Sofa stellvertretend einen Kommissar, einen Detektiv oder ein Team von Polizeibeamten beauftragen. Sie erledigen, was getan werden muss, finden den Täter und sorgen für seine Bestrafung. Der Mörder muss bestraft werden. Das Opfer aber wird davon nicht wieder lebendig. Hier fängt die Theologie des Krimis an.


4. Massaker und Serienmörder

Während viele Krimis handlungsökonomisch mit einem einzigen Opfer auskommen, das auf der Bahre der Anatomie und am Tatort drastisch vorgeführt werden, suchen andere Krimis ihr Heil in der Steigerung der Zahl der Opfer. Der mordet regelmäßig, alle drei Tage, oder es kommen mehrere Menschen auf einmal um. Der Mordfall wird zum Massaker und löst bei den Ermittlern sehr viel mehr Druck und Hektik aus. Bringen Sie mir verwertbare Beweise, schreit der Vorgesetzte den Kommissar an. Ist das alles, was wir bis jetzt haben? Sie wissen doch, dass mir die Presse im Nacken sitzt? Drehbuchautoren nutzen alle Möglichkeiten, um Druck auf den Kommissar zu erzeugen. Ähnlich verhält es sich bei Serienmördern, die Massaker sozusagen zeitlich strecken. Wenn alle drei Tage nachts im Tag eine Spaziergängerin im Park ermordet wird, dann sind für den Kommissar Überstunden angesagt. Vielleicht kann das nächste Opfer doch noch gerettet werden. Überstunden, Nervosität, Hektik – das sind die kleinen Beschleunigungs­momente von Spannung und Nervenkitzel.


5. Kleine Auferstehung des Opfers

Auch ermordete Tote sind tot und werden begraben, nachdem sie der Staatsanwalt freigegeben hat. Häufig feiern sie im Krimi aber eine kleine Auferstehung durch Rückblenden, oft in Schwarzweiß, um den Zuschauern die Unterscheidung der Zeitebenen zu erleichtern. Die Rückblenden zeigen vergangenes Leben, um Motive für den Mord deutlich zu machen oder diese Motive für den Zuschauer gerade zu verschleiern. Eine unklare, geheimnisvolle Geschichte soll aufgeklärt werden. Je häufiger das Opfer allerdings lebend in der Rückblende gezeigt wird, desto skandalöser wird der Mord, desto dringlicher die Aufklärung. Von meinem Sohn weiß ich, dass Rückblenden heute Flashbacks genannt werden. Rückblende klingt langatmiger und behäbiger, ein Flashback wirft ein Blitzlicht auf die Vergangenheit, und der Zuschauer kann sich wie der Ermittler nicht ganz sicher sein, ob es ihm bei der Aufklärung auch hilft.


6. Verbrechen und Strafe

Die Rückblende hat es schon angedeutet. Ein Krimi ist eine zweifache Geschichte, die Geschichte der Tat und die Geschichte der Ermittlung. „Dem Rätselroman“, schrieb der bulgarische Kulturwissenschaftler Tsvetan Todorov, „liegt eine Doppelstruktur zugrunde (…). Dieser Roman enthält nicht eine, sondern zwei Geschichten: die Geschichte des Verbrechens und die seiner Untersuchung.“ Daran hat sich bis heute wenig geändert, wenn auch die Gewichtung zwischen Tat und Ermittlung sehr stark variieren kann. Der alte Krimi, etwa im Stil der Detektivgeschichten von Arthur Conan Doyle (1859-1930), wusste noch nicht viel von Rückblenden, er konzentrierte sich auf die Ermittlung, aus der dann die Tatgeschichte langsam sichtbar wurde, meist in Form von Mosaiksteinchen, die sich erst am Ende zu einem kompletten Bild zusammensetzen ließen. Der Detektiv präsentierte dem lesenden Publikum am Ende das Puzzle der Indizien. Daraus ergab sich eine konsistente Tatgeschichte, die den Täter überführte. Der Täter (bei Conan Doyle mit Ausnahme des Erzschurken Professor Moriarty) wurde überführt und abgeführt. Die Bestrafung war nicht mehr Sache des Detektivs oder Kommissars. In dieser Konstellation ergänzten sich Tatgeschichte und Ermittlungsgeschichte perfekt, wie die beiden Seiten einer Münze. Im modernen Krimi löst sich diese enge Bindung auf. Es kann sein, dass der Fall nicht richtig gelöst wird. Es kann sein, dass der Täter seiner Strafe entgeht. Gerechtigkeit als Zielwert des Kriminalfalls verdünnt sich und kann oft nur noch als Spurenelement nachgewiesen werden. In der Regel haben sich durch die Lösung des Falls die Verhältnisse überhaupt nicht geändert. Die Entlarvung und Bestrafung des Täters ist kein Hochamt der Gerechtigkeit mehr, von Schuld und Sühne gar nicht zu reden. Narrativ wird im Gegenwartskrimi ganz anderes wichtig als die Überblendung von Tat und Ermittlung, mit einer wertstabilen Gerechtigkeit im Hintergrund.     


7. Kriminologie der Sterblichkeit

Die klassische Detektiv-Story war von einem geradezu geschichtsphilosophischen Fortschrittsoptimismus geprägt. Der Kommissar arbeitete danach an der Vertreibung des Bösen, aus dessen Griff er die Menschheit befreien wollte. Im Hintergrund stand das Ideal einer vernünftig organisierten Gesellschaft, in der Mord und andere Verbrechen à la longue verschwinden. Diese Hoffnung hat sich längst, schon im 19.Jahrhundert als Illusion erwiesen und aktuell geradezu umgekehrt. Der Krimi erscheint nicht mehr als Beleg für den Fortschritt zu einer gerechten Gesellschaft, sondern als Beweis für die Wirklichkeit des Bösen, das sich nicht ausrotten lässt. Der Kommissar, der in einer Serie Dutzende von Straftaten aufklärt, marschiert nicht mehr an der Speerspitze des Fortschritts. Vielmehr schiebt er wie Sisyphos einen schweren Stein auf einen steilen Berg. Er arbeitet sich vergeblich am Berg des Bösen ab. Hoffnung verwandelt sich in Fatalismus, und die Begeisterung am Intellektuellen, die Conan Doyles Sherlock Holmes auszeichnete, weicht der Melancholie all der skandinavischen Kommissare, allen voran im Moment Kurt Wallander. Diese Melancholie ist sozial und individuell zugleich: Nichts verändert sich. Und: Ich kann nichts verändern. Aber genügen für den Zuschauer nicht die Nachrichten, um die Wirklichkeit des Bösen in der Welt zu belegen? Die dort dargestellten Probleme wiegen so schwer, dass Politiker und Wissenschaftler hilflos davor stehen, während der Krimi dem Zuschauer immerhin noch die Gewissheit vermittelt, dass Einzelfälle zur Auflösung gebracht werden können. Der Kommissar kann eine Schlacht gewinnen, er kann eine ganze Serie von Schlachten gewinnen, aber keinesfalls den Krieg gegen das Verbrechen. Insofern belegt der Krimi die Wirklichkeit des Bösen und die Wirklichkeit des Todes: zuerst des Opfers, dann des (sterblichen) Kommissars. Denn auch Kurt Wallander wird älter, erkrankt an Alzheimer und muss deshalb seinen Dienst quittieren. Der melancholische Fatalismus des Krimis rührt auch an die Sterblichkeit des Zuschauers, an die er im Krimi mindestens indirekt erinnert wird. Aber in der Regel ignoriert er diesen Gedanken an die eigene Sterblichkeit, weil er sich nicht damit auseinandersetzen will, es sei denn in der harmlosen Form des unterhaltenden Krimis.


8. Denksportaufgabe

Den klassischen alteuropäischen Krimi prägte die Sehnsucht, allein mit Intellekt und Rationalität zunächst den „Fall“ und dann sein Leben bewältigen zu können. Sherlock Holmes, sein später Verwandter William von Baskerville (aus Ecos „Name der Rose“) und andere waren im Übermaß mit Intellekt und Wissen gesegnet. Um die Leser nicht zu verschrecken, brauchten sie Assistenten, die dem lesenden Publikum das allzu Komplizierte erklären konnten. Überlegene Intellektualität führt zu Lebensklugheit, gutem Auskommen und der allfälligen Bewahrung vor den Risiken des Lebens und den Zufällen des Schicksals. Der Leser sollte merken: Wenn ich mich meines eigenen Verstandes bediene, geben mir weder Morde noch das Leben als solches ein Rätsel auf. Mittlerweile hat sich gezeigt: Das Leben ist leider keine Denksportaufgabe. Die Vernunft kommt irgendwann an ihre Grenzen. Die Leser sind nicht zu dumm, sondern das Böse ist zu komplex und zu vielgestaltig, als dass es im Buch oder im Film und schon gar nicht im Leben selbst bewältigt werden könnte. Dem intellektuellen Detektiv bleibt angesichts dieser traurigen Erkenntnis nur die Resignation. William von Baskerville kommt nicht an gegen die Inquisition, auch Sherlock Holmes verzweifelt vor dem Erzschurken Moriarty. Heutige Kommissare wissen, dass sie gegen organisiertes Verbrechen, die Camorra, die ‘Ndrangheta, Yakuza und Russen-Mafia nichts ausrichten können. Das sind die – beliebtes Bild – Kraken, denen stets ein neues Tentakel wächst, wenn es dem Kommissar gelungen ist, eines abzuschlagen. Genau aus dieser Enttäuschung über das Rationale hat sich der moderne Krimi zu Recht von seinen optimistischen, aufgeklärten Präferenzen befreit. Bloße Intellektualität taugt nicht zur Lösung von Fällen – und auch nicht zur Bewältigung des Lebens.


9. Faszination des Kausalen

Trotzdem hat diese Idee lange nachgewirkt. Leser (und später Zuschauer) fanden im aufrechten Detektiv, der allein auf seine Vernunft vertraute, den Helden, der das Leben beherrschte, der jede Anomalie (und damit jedes Verbrechen) aufklärte. Seine Vernunft machte ihn unverwundbar. Sie war für ihn zugleich Schwert, Tarnkappe und Schutzschild. Er konnte allem trotzen, dem Bösen, dem Tod, dem Verbrechen. Er musste nur einräumen, dass er es nicht besiegen konnte. Die Idee, dass das Böse sich auflösen, erklären und herleiten lässt, wirkt noch heute im Fernsehkrimi nach, obwohl die These längst als Illusion durchschaut ist. Der Kommissar leistet noch immer stellvertretend, worin jeder Zuschauer in Wirklichkeit irgendwann versagt: Er behält einen kühlen Kopf, lässt sich nicht von seinen Emotionen überwältigen, handelt auch in gefährlichen und riskanten Situationen überlegt und verantwortungsvoll. Deswegen kennt er weder Müdigkeit noch Erschöpfung. Diese Grundidee der rationalen Bewältigung besteht weiter, auch wenn Kommissare und Detektive heute desillusioniert oder krank sind, unter Eheproblemen oder psychischen Störungen leiden. Der Mord muss Ursache, Motiv und Verursacher haben; im anderen Fall wäre die rationale Einheitlichkeit der Wirklichkeit aufgehoben. Kommissare neigten schon im 19.Jahrhundert nicht zum Spiritistischen. Nur dass heute die Melancholie den Optimismus ersetzt hat.


10. Clues und Requisiten

Der Kommissar muss in der Lage sein, die unübersichtliche Wirklichkeit zu deuten und zu lesen. Er ist aufmerksam für Details, die dem Zuschauer in seiner Unbedarftheit entgehen. Die Details sprechen eine besondere Sprache und geben dem Wissenden wichtige Aufschlüsse. Sie werden zu Clues, die den Mord erklären und den Täter überführen. Der Kommissar benötigt darum nicht nur seinen Intellekt, sondern auch eine geschärfte Wahrnehmung und vor allem Aufmerksamkeit. Das ist ein Kontrast zur Achtlosigkeit, mit der Leser und Zuschauer ihren Alltag bewältigen. Sie nehmen das Entscheidende gar nicht mehr wahr. Dabei vereinfachen die Krimis selbstverständlich. Schlechte Krimis zeichnen sich dadurch aus, dass sie den Zuschauer förmlich zwingen, den entscheidenden Clue lange vor den Ermittlern zu erkennen. Von den Clues zu unterscheiden sind die Requisiten. Sie tragen nicht zur Lösung des Falls bei, sondern schaffen Atmosphäre. Atmosphäre gibt dem Krimi ein Gerüst des Fühlens und der Emotion.


11. Qualm

An der Zigarette lässt sich das Alter des Krimis ablesen. Je mehr geraucht wird, desto früher ist der Krimi entstanden. Die Zigarette ist ein Zeichen der Coolness, aber auch der Nervosität. Nervös können die Verdächtigen sein, die merken, dass sich die Schlinge um sie zuzieht. Nervös kann aber auch der Kommissar werden, weil er merkt, dass er mit den Ermittlungen nicht vorankommt. Früher war das Rauchen eine Selbstverständlichkeit, heute ist es aus den Filmen fast ganz verschwunden. Man erschrickt manchmal beim Schauen von älteren Krimis über die Zahl der gerauchten Zigaretten und fragt sich dann, wie es wohl in Wohnzimmern, verrauchten Kneipen und Verhörräumen gerochen haben muss. In noch älteren Krimis rauchte der Delinquent vor der Hinrichtung eine letzte Zigarette. Diese sollte ihn im Angesicht des Todes beruhigen, wie das Vaterunser, das der Gefängnisseelsorger sprach. Dem Zuschauer zeigt sie das Gegenteil an, Nervosität und Spannung, bevorstehende Gefahr.


12. Pulverdampf

Früher gehörte die Pistole zu den bevorzugten Tatwaffen. Das ist heute nicht mehr so, die Täter gehen mit sehr viel mehr krimineller Phantasie vor. Die Pistole setzte aber nicht nur der Täter ein, sondern auch der Polizeidetektiv. Insofern herrschte zwischen Täter und Ermittler Waffengleichheit, die dann zum Showdown am Ende des Krimis führte, häufig mit einer Geisel, die als lebender Schutzschild diente. Den Showdown gewinnt grundsätzlich der Kommissar, nur gelegentlich muss er einen Streifschuss in Kauf nehmen. Der Täter kommt ums Leben, damit ist der Gerechtigkeit Genüge getan. Oder er wird nur verletzt, dann sieht man, wie er auf einer Krankenbahre weggetragen wird. Dass er danach ins Gefängnis wandert, muss dem Zuschauer nicht mehr eigens gezeigt werden. Schwierig wird es, wenn Kommissare ihre Dienstwaffe verlieren, dann droht ein Disziplinarverfahren. Solche bürokratischen Disziplinarverfahren nimmt kein Kommissar richtig ernst. Zum Krimi gehört konstitutiv die Verachtung von Regeln und Recht. Auch mit dem regelmäßigen Schießtraining nimmt es kein Kommissar so richtig genau. Die Kommissare, die erst schießen und dann reden wie der furchtbare Hamburger Tschiller, gespielt von Til Schweiger, sind seltener geworden. Die Pistole ist ein Instrument der Gegengewalt. Wer damit hantiert, begegnet dem Täter auf gleicher Ebene. Auf den groben Klotz gehört ein grober Keil. Im intellektuellen Krimi (à la Sherlock Holmes) stehen sich dagegen die boshafte Intelligenz des Schurken und die überlegene Intelligenz des Detektivs gegenüber. Die Waffe bleibt da nur als der letzte Ausweg, die Zweideutigkeiten ausräumen soll, wo der ermittelnde Intellekt nicht weiterkommt.


13. Klick

Für den Torwart im Fußballspiel ist es am schlimmsten, wenn der gegnerische Stürmer ihn durch einen Einschuss überwindet. Für den Kommissar ist es das Schlimmste, wenn der Täter ihn mit seinen eigenen Handschellen fesselt. Der Zuschauer weiß: Wem Handschellen angelegt werden, der ist schon ein wenig mehr als verdächtig. Frauen als Kommissarinnen werden immer noch unterschätzt, aber auch sie überwältigen jeden Täter, dank ihrer Ausbildung beim Polizei-Kampfsport. Der kriminelle Machismo nimmt eine Frau als Kommissarin grundsätzlich nicht ernst. Der kriminelle Feminismus beweist stets, dass auch Frauen mittlerweile Schulterüberwurf und weitere komplizierte Techniken asiatischer Kampfkunst beherrschen. Wehrlose Täter in Handschellen sind für die Kommissare nicht mehr interessant. Die Kollegen von der Schutzpolizei geleiten sie zum wartenden Wagen. Dann folgt die stets gleich Geste, dass der Polizist den Kopf des Verdächtigen in den Wagen hereindrückt. Wegen der fixierten Arme hat er sein Gefühl des Gleichgewichts verloren. Wenn keine Handschellen vorhanden sind, wird Kabelbinder eingesetzt.


14. Gläserne Pinnwand

Die gläsernen Pinnwände haben die Kommissariate im Krimi von den Marketing-Seminaren zur Stärkung des Selbstbewusstseins übernommen. Fotos und komplizierte Pfeildiagramme fassen den aktuellen Fall zusammen. Die Fotos müssen deshalb sein, weil der Zuschauer sich so schnell so viele Namen nicht merken kann. Das Glas führt dann zu schönen Reflexen, die sich vor der Kamera gut ausnehmen. So richtig aber scheint kein Regisseur diesen Pinnwänden zu trauen. Es wirkt bürokratisch und langweilig, einen undurchsichtigen Fall zu ordnen oder zu systematisieren. Da hilft die Kombination mit optischen Effekten sehr weiter. Es bleibt ein Paradox, dass alle Kommissariate mit diesen Pinnwänden ausgerüstet sind, die Kamera aber selten länger darauf verharrt. Damit ist auch etwas Interessantes gesagt über die Komplexität der Fälle. So schwierig, dass man sich Notizen machen muss, ist es meistens gar nicht.


15. Handy-Ortung

Das Smartphone hat die Krimis enorm beschleunigt, denn nun können Kommissar und Täter von jedem beliebigen Ort aus telefonieren. Vorsprung durch digitale Technik. Der Täter telefoniert meistens anonym, der Kommissar muss nicht eigens in die Anatomie fahren, um wichtige Details aus der Obduktion zu erfahren. Viele Täter sind entlarvt worden, weil sie ihr Handy nicht ausgeschaltet haben. Sie konnten wegen des Handys geortet werden. Meistens ist es der zweite Kommissar, der Kollege, der wichtige Indizien oder Fahndungsfotos oder Phantombilder einfach fotografiert, um sie herumzeigen zu können. Und das Handy des vor drei Wochen ertrunkenen Opfers kann selbstverständlich noch ausgelesen werden, da strengt sich die Kriminaltechnik besonders an. Da könnt ihr doch noch was machen. Klar, können wir da was machen, dafür sind wir ja da. Handys bewirken einen Verlust an Bildern, denn die zweite Person, mit der jemand telefoniert, wird in der Regel nicht gezeigt, es sei denn, der Regisseur teilt den Bildschirm auf. Gleichzeitig sind sie aber gerade deswegen ein probates Mittel, Spannung zu verstärken, weil der Kommissar (oder ein Verdächtiger) mit jemandem telefonieren kann, den er kennt, während dem Zuschauer die Kenntnis des Gesprächspartners vorenthalten bleibt.


16. Hol den Wagen, Harry!

Das Auto ist ein sehr wichtiges Accessoire des Kommissars. Er fährt mit Unterstützung der Autoindustrie Oberklasse aus Ingolstadt, Zuffenhausen, München, dann weiß man nicht so richtig, was er für ein er Typ ist. Diese Autos definieren sich über den Kaufpreis und offenbaren wenig Individualität. Viele Kommissare fahren Autos, die sie sich weder von ihrem Gehalt noch aus dem Etat des Polizeipräsidenten leisten können. Dann gilt: Hier hat das Marketing (legal) oder die Mafia (illegal) bei der Automobilität nachgeholfen. Wer Understatement betreibt, fährt einen alten Käfer, wem die Gegenwart zuwider ist, verlegt sich auf einen Oldtimer, wer die Autoindustrie verachtet, fährt einen Mini-Cooper. Wer viel schießt (vgl. Abschnitt 12), der steigt gerne auf ein Motorrad. Wer Motorrad ohne Machogehabe präsentieren will, verlegt sich auf einen Roller. Der Tatort-Kommissar aus Saarbrücken, der Roller fährt, ist eine der lächerlichsten Figuren des deutschen Fernsehens. Insgesamt hat, nach meinem Eindruck, die Bedeutung des Autos zur Charakterisierung des Kommissars, in den letzten Jahren nachgelassen. Wichtiger als das Kraftfahrzeug sind elektronische Gadgets: Handy, Tablet, Notebook.


17. Nicht immer der Gärtner

Der Kommissar ist mit Hilfsmitteln ausgestattet, Smartphone, Auto, Handschellen, er ist – wie wir alle – nach Freuds berühmter Formulierung ein „Prothesengott“, der diese Prothesen benötigt, um den Täter zu überführen. Der Täter (oder die Täterin oder die Täter) ist der Gegenspieler des Kommissars. Der Täter muss identifiziert, überführt, entlarvt und bestraft werden. Zwischen beiden Protagonisten besteht ein kompliziertes Verhältnis. Der Täter darf nicht zu schwach, zu ungeschickt oder zu dumm sein, sonst wäre es allzu einfach, ihn zu entlarven. Auf der anderen Seite sind seiner Klugheit auch Grenzen gesetzt, denn wenn er zu geschickt wäre, könnte der Kommissar am Ende den Fall nicht lösen. Der Täter gibt zuerst einmal ein Rätsel auf. Am Anfang des Films sind seine Motive und Beweggründe noch nicht bekannt. Diese herauszufinden, ist Aufgabe des Kommissars. Er verhält sich zum Täter wie der Arzt zum Patienten. Gleichzeitig ist er Gegenspieler, Konkurrent, Rivale des Kommissars, undurchschaubar, ein Vertreter des Bösen. Der Täter verübt den Mord. Er hat sich entschieden, den Weg der Abkürzung über das Illegale zu gehen, er nimmt das Verbrechens, das moralisch Unangemessene in Kauf. Er ist für den Kommissar zum einen eine Denksportaufgabe, zum anderen ein psychologisches und moralisches Problem. Der Drehbuchautor (oder der Autor) kann dem Täter viel oder wenig Aufmerksamkeit zu wenden. Bei wenig Aufmerksamkeit gilt das Hauptaugenmerk der Ermittlung, bei viel Aufmerksamkeit den sozialen und psychologischen Beweggründen des Täters. Der Autor kann für den Täter Verständnis, Mitgefühl, sogar Mitleid erwecken. Dann gilt: Was er getan hat, war nicht richtig. Aber seine Gründe, das zu tun, erscheinen dem Zuschauer, nicht der Polizei, nicht dem Richter, verständlich. Verbrechen haben Ursachen, und der Kommissar wird darüber gelegentlich zum Sozialarbeiter.


18. Ausgeburt des Bösen

Früher war das ganz selbstverständlich: Die Tat wird aufgedeckt, entlarvt, der Täter wird bestraft. Das Böse ist enttarnt. In den Kriminalromanen der Britin Dorothy Leigh Sayers (1893-1957) bekam der entlarvte Täter bei Kapitalverbrechen vor der Verhaftung Gelegenheit, sich selbst zu richten, um „ehrenhaft“ der Todesstrafe zuvorzukommen. Der Täter zeigte sich als Gentleman, der sein Verbrechen eingesehen hat und sich selbst richtet. Das geschieht in heutigen Krimis in der Regel nicht mehr. Der Täter ist auch nicht mehr Repräsentant für DAS BÖSE. Die kriminalistische Theodizee des Bösen hat sich reduziert auf das bloße Faktum seiner Existenz. Verbrechen geschehen. Morde geschehen. Kommissare lösen sie auf. Die soziale, philosophische, theologische Konstellation, die zu Verbrechen führt, wird gar nicht mehr hinterfragt. Das Faktum steht für sich selbst, es benötigt keine Reflexion mehr. Das Böse und das Verbrechen sind allgegenwärtig. Man kann das als eine Bestätigung aller pessimistischen Anthropologien, der lutherischen Sünden- wie der augustinischen Erbsündenlehre lesen. Die Gegenwart des Bösen als Faktum zu akzeptieren, das bringt den Optimismus zum Einsturz und beschädigt die Gesellschaft, die sich nicht davon befreien kann. Sie beschädigt selbstverständlich auch den Helden des Krimis, den Kommissar. Er wird vom Mitarbeiter der guten Kraft, die an der Durchsetzung des Wahren, Guten, Schönen mitarbeitet, zum Sisyphos, der stets denselben Stein eines neuen Falls wieder den Berg hochrollt. Der Kommissar ist zum Fließbandarbeiter geworden, der Mord auf Mord aufklärt, aber gegen die grundlegende Boshaftigkeit oder Sündhaftigkeit des Menschen bleibt er machtlos. Nicht einmal in der Zukunft wird sich alles zum Guten wenden. Der Kommissar und seine Kollegen sind zu traurigen Theologen geworden, die um die Wirklichkeit des Bösen wissen, aber nicht mehr dagegen ankämpfen. Den Wiederholungstätern entsprechen Wiederholungsermittler. Das Verbrechen erfordert Opfer, die Täter vollbringen als Priester des Bösen die Tat, und die Kommissare holen sie aus der Sphäre der Heimlichkeit und Verborgenheit an die Öffentlichkeit. Das Böse bleibt rätselhaft, unerklärlich, keiner Reflexion zugänglich. Die Wut, die dem Täter entgegenschlägt, mündet in seiner Bestrafung. Aber diese Bestrafung ist nur eine harmlose Kompensation für die Verzweiflung darüber, dass sich das Böse nicht besiegen lässt.


19. Pyrrhussieg der Gerechtigkeit

Der Kommissar will Gerechtigkeit. Deswegen gewinnt er die Schlachten gelöster Fälle, aber den Krieg gegen das Böse kann er nicht gewinnen. Der Kommissar im Krimi entlarvt den Täter, und zwischen dem Klick der Handschellen und dem nächsten Mord eines anderen Täters in der nächsten Folge bleibt die schale Genugtuung darüber, dass ein weiterer Mörder entlarvt, dingfest gemacht, bestraft ist. Über die Bestrafung aber macht sich kein Kommissar mehr Illusionen. Gefängnis und Einzelzellen bleiben nutzlos und ausweglos, Sühne oder Resozialisierung machen keinen Sinn mehr. Neben der Tat und dem Auffinden des Opfers ist das die dritte Urszene des Krimis. Der Täter wird abgeführt, er ist entlarvt. Der Krimi endet mit dem Abspann. Der Zuschauer kann beruhigt sein, jedenfalls solange, bis er bei der nächsten Folge einschaltet. Der Unbesiegbarkeit des Bösen korrespondiert die Desillusionierung über jede Form der Gerechtigkeit. Das verstorbene Opfer kann nicht wiederbelebt werden. Die Bestrafung des Täters führt nicht zu dessen Resozialisierung. Die Vorstellung sozialer Ordnung kann nicht mehr gekittet werden. Der Riss ist nicht zu heilen. Der Kommissar verzichtet auf die Reflexion des großen Ganzen und konzentriert sich auf Einzelfälle. Der Kommissar ist ein Enkel von Sisyphos, aber er ist kein glücklicher Mensch mehr.


20. Kleine Münze der Entlarvung

Trotzdem bleibt ein Rest des Gerechtigkeitskonzepts erhalten. Es löst sich nicht völlig auf. Denn jeder Täter kann sich sicher sein, dass der Kommissar seinen Fall entlarvt. Auch wenn der Ermittler nicht mehr weiß, zu welchem Zweck er seine Arbeit verrichtet, welchem größeren Ganzen er dient, mindestens den Täter muss und wird er dingfest machen. Die Ermittlungen bestätigen jedenfalls die These: Verbrechen lohnt sich nicht. Jeder wird ertappt. Jeder Verbrecher, so die Binsenweisheit des Fernsehkrimis, macht irgendwann einen Fehler, aus der sich seine Überführung ergibt. Beliebt ist heute bei Drehbuchautoren die Lösung, dass einer der kleinen Fische ertappt wird, während die Großen, die „Hintermänner“ im Dunklen bleiben. Ihre Entlarvung wird dann auf die nächste Folge verschoben. Das gilt für die Mafia, die Drogenkartelle und die Seilschaften der Stasi oder des Geheimdienstes irgendeiner Bananenrepublik. Das Böse lässt sich nicht besiegen, aber jeder Kommissar kann ihm kleine Nadelstiche versetzen. Der Kommissar, dem das nicht reicht, wird sich gekränkt fühlen und eine Depression oder ein Burnout-Syndrom entwickeln.


21. Sabotage der Gerechtigkeit

Auf das Gerechtigkeitsproblem, den dauernden Sieg des Guten und die gerechte Bestrafung hat die Kriminalliteratur längst reagiert und das Schema umgedreht. Viele der Krimis von Patricia Highsmith (1921-1995) zeichnen sich dadurch aus. Spannung wird dadurch erzeugt, dass der Täter Tricks und Finten anwendet, um seine Entlarvung zu vermeiden. Und bei Highsmith gelingt das dem Täter zu wiederholten Malen. Wer das Gegenteil gewohnt ist, wird solche Krimis als irritierend empfinden. Genau das ist die Absicht, den Leser zum Nachdenken zu bringen. Highsmith erscheint allerdings nicht als Anwältin des Bösen. Highsmith geht es darum, jegliches (geschichtsphilosophische) Schema im Krimi (und im Alltag) als absurd zu erweisen. Es macht für sie keinen Sinn, an Gerechtigkeit, an das Gute oder an das Böse zu glauben. Der Zufall, nicht eine metaphysische Instanz bestimmt den Ausgang der Geschichte. Man kann sich nicht darauf verlassen, dass das Gute siegt: im Leben nicht und auch nicht im Kriminalroman. Deswegen geraten die Kategorien des Guten und des Bösen ins Schwanken, sie werden brüchig. Dann aber, so der Verdacht nicht nur der Zuschauer, wird das Moralische zur sinnlosen Kategorie. In der Kriminalliteratur konnte sich Highsmiths Konzept nicht durchsetzen, jedenfalls nicht im Fernsehen, dort herrscht weiter der Entlarvungskrimi, bei dem der Täter am Ende ins Gefängnis wandert. Wobei die Gerechtigkeitsfrage auch deshalb in den Hintergrund rückt, weil im heutigen Krimi die Entlarvung des Täters gar nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht.


22. Allerlei neben dem Mord

Der moderne Fernsehkrimi reicht weiter über das Doppel von Tatgeschichte und Entlarvungsgeschichte (siehe Abschnitt 6) hinaus. Heute werden Täter entlarvt, aber daneben noch dritte, vierte, fünfte Geschichten erzählt. Beliebt und naheliegend ist die konfliktreiche Beziehung des Ermittlerduos, das sich wegen unterschiedlicher Methoden, Lebensentwürfe oder einer amourösen Beziehung untereinander stets von neuem zusammenraufen muss. Andere erzählen die Geschichte missratener Söhne und Töchter des Kommissars. Fahnders Kinder, Müllers Vieh geraten selten oder nie. Denn die Ermittlungen haben stets Vorrang vor den Erziehungsmaßnahmen. Die schlimmste Rache der Kinder besteht darin, dass sie selbst eine Ausbildung zum Polizisten machen und dann sehr schnell zum Vorgesetzten der Kommissarin ernannt werden (Beispiel: Tatort Bremen). Das vergrößert die psychologischen Spannungen erheblich, vermindert aber auch die Glaubwürdigkeit. Andere Kommissare leiden unter Krankheiten, oder sie müssen sich um die kranke Ehefrau kümmern. Alle diese genannten Nebengeschichten machen den Kommissar zum menschelnden Ermittler, sie verleihen der Figur eine psychologische Note. Der Zuschauer kann sich leichter in ihn hineinversetzen, und er wird eher mit ihm mitfühlen. Im alten Krimi war der Kommissar nur eine Rationalitätsmaschine, ein unbestechlicher Ermittlungscomputer. Der Krimi zeigte, wie er seine Arbeit erledigte. Mit der Nebengeschichte gewinnt er Tiefe, und die Zuschauer interessieren sich brennend für sein Privatleben. Die Zuschauer bemitleiden den schwedischen Kommissar Wallander, der unter Alzheimer leidet, und auch die anderen Kommissare, die neben ihren Ermittlungen von allen denkbaren Schicksalsschlägen getroffen werden. Das ZDF hat vor einiger Zeit einen Kommissar im Rollstuhl ausprobiert. Dieser trägt den sprechenden Namen Major Peter Palfinger, ist seit einem Unfall beim Gleitschirmfliegen querschnittsgelähmt und ermittelt ausgerechnet im hügeligen Salzburg. Wer sieht, mit welchem Tempo er die steilen und kurvigen Fußgängerwege herunterrollt, der wird über den Realitätsgehalt solcher Filme nur müde lächeln.


23. Der müde Held

Der alte Kommissar war ein Held, der unbeirrbar seinen Weg bis zum Ermittlungsergebnis ging. Je intelligenter er war, desto wahrscheinlicher war es, dass er einen Assistenten beigesellt bekam, der mit dummen Fragen und inkompetenten Kommentaren die intellektuellen Ausführungen des intellektuellen Helden auf Zuschauerniveau brachte. Diese Rolle spielten Watson (für Sherlock Holmes) oder Adson von Melk (für Umberto Ecos William von Baskerville) gänzlich klaglos. Sie sorgten dafür, dass die Zuschauer auch die komplizierten Gedanken ihrer Chefs verstehen und den Ermittlungen folgen konnten. Sie betätigten sich als Stichwortgeber und Sidekicks. Der heutige Kommissar ist vom unbesiegbaren Halbgott zum menschelnden Normalbürger geworden. Er braucht keinen Sidekick mehr, der für Verständnis sorgt. Stattdessen pflegt er Marotten, Neurosen und Depressionen, damit er das Mitleid der Zuschauer nicht verliert. Die meisten Kommissare sind einsame Wölfe, kritisch eingestellt gegenüber allem Establishment, sie halten sich grundsätzlich nicht an Regeln und verachten ihre Vorgesetzten. Halbgötter sehen anders aus. Trotzdem bleibt der Kommissar die Schlüsselfigur des Krimis, selbst wenn er ein Alkoholiker sein sollte, der mit der Mafia paktiert. Alles ist ihm erlaubt, solange er nach neunzig Minuten den Täter entlarvt hat. Die Zuschauer folgen ihm überall hin, weil er so unverwechselbar ist. Seine vermeintlich schlechten Eigenschaften, Krisen und Niederlagen machen ihn nur noch populärer. Der depressive, melancholische Typ ist für den Zuschauer deshalb so attraktiv, weil er ihm vermittelt, dass er selbst Kommissar sein, für das Gute kämpfen, entlarven könnte. Schlechte Eigenschaften, peinliches Benehmen und unangenehme Gewohnheiten stellen in deutschen Fernsehkommissariaten kein Einstellungshindernis mehr dar – ein deutlicher Unterschied zur Wirklichkeit der Polizeireviere. Helden, die immer Erfolg haben, können nur aus Plastik sein, Wunschprojektionen. Kommissare mit schrägen Eigenschaften, Brüchen in ihrem Leben und Abgründen in ihrer Seele dagegen kommen dem Zuschauer entgegen. Besonders deutlich wird das an der ZDF-Kommissarin Winnie Heller. Sie verbringt viel Zeit bei der Schwester, die im Koma liegt, bei den Eltern, mit denen sie gebrochen hat, vor dem Aquarium, das sie ratlos anstarrt und bei der Therapeutin, die sie nach Anordnung ihres Chefs regelmäßig besuchen muss. Offensichtlich leidet sie unter mehreren psychischen Traumata. Für die Ermittlungen des Falls findet sie trotzdem Zeit, und gerade deshalb löst sie ihre Fälle besonders klar und einsichtig.


24. Bleiben Sie ein Mann, Madame!

Sportreporterinnen im Fernsehen bilden immer noch eine Ausnahme. Frauen im Krimi, Kommissarinnen haben sich durchgesetzt, von der schon ermüdend lange ermittelnden Lena Odenthal (Tatort Ludwigshafen) über Charlotte Lindholm (Tatort Hannover) bis zu Klara Blum (Tatort Konstanz). Das heißt aber nicht, dass die männlichen ihre weiblichen Kolleginnen nicht mit sexistischen Sprüchen bedenken. Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) hat von ihren Drehbuchautoren eine richtige biographische Geschichte zugeteilt bekommen. Sie beginnt gern Affären mit Zeugen und Verdächtigen. Ihren WG-Genossen, den pusseligen Krimiautor, hat sie dann doch nicht geheiratet. Dann bekam sie ein Kind von einem verheirateten spanischen Kriminalbeamten, mit dem sie bei einer Tagung eine kurze Affäre begann. Seitdem leidet sie unter einem schlechten Gewissen, weil sie lieber ermittelt als ihr Kind zu betreuen. Der Familienalltag der Bundesrepublik - Scheidung, Patchwork Familien, alleinerziehende Mütter, Multitasking, work-life-balance - ist auch im Krimi angekommen.


25. Pistolero

Heute ist der Kommissar, ob Mann oder Frau, kein Held mehr, sondern eine traurige, gebrochene Figur, deren Leben – neben den Fällen – ausführlich in den Serienfolgen ausgebreitet wird. Er arbeitet nicht mehr an der Gerechtigkeit, er löst nur noch (die meisten) Fälle, eher mit Verstand und Kombinieren als mit bloßer Gewalt. Der Versuch des Schauspielers Til Schweiger, mit dem Kommissar Nick Tschiller eine Figur zu etablieren, die erst schießt und dann nachdenkt, hat dem gesamten Genre nicht gut getan. Die Tschiller-Folgen des Tatorts sind der Versuch, jegliches erreichte Reflexionsniveau durch Ballerei, Detonation und Feuerwerk zu unterbieten. Das Böse wird nicht mehr entlarvt oder besiegt, sondern zerstört und vernichtet. Die Folgen leben von der Wut und von simplen Lösungen. Tschiller ist der Donald Trump unter den Tatort-Kommissaren, ohne die blondierten Haare. Er setzt Brutalität gegen Brutalität und Dummheit gegen Dummheit. Damit aber bleibt er ein Einzelfall. Der Hamburger Kommissar ist einfach gestrickter Charakter, der mehr schießt als denkt. Manche Kommissare bleiben sich stets treu, sie verändern sich nicht (Commissario Brunetti aus den Donna-Leon-Krimis, die Kommissare Batic und Leitmayr vom Tatort München und im Grunde viele andere). Sie werden durch eine psychologische Disposition, nicht durch eine Lebensgeschichte charakterisiert. Die interessanteren Kommissare verändern sich durch die Fälle, die sie lösen mussten. Um erzählten Geschichten zu folgen, muss der Zuschauer die Vorfolgen kennen. Das Erzählen wird horizontal (siehe Abschnitt 42). Diese Entwicklung sorgt dafür, dass die Psychologie des Kommissars und manchmal auch des Täters an Tiefe gewinnen.


26. Zwanzig Prozent Albernheiten

Offensichtlich brauchen Härte und Unwiderruflichkeit von Tat und Ermittlung ein Gegengewicht. Dieses kann in der Menschlichkeit des Kommissars liegen, der Auslotung von Psychologie und Biographie. Ein anderes Gegenmittel heißt Humor. Dafür stehen exemplarisch die „Tatorte“ aus Münster: Dieses Ermittlerduo, der Rechtsmediziner Karl-Friedrich Börne und der Kommissar Frank Thiel haben die Humorisierung des Krimis derart auf die Spitze getrieben, dass in manchen Folgen die Leiche und die Aufklärung des Falls hinter Klamauk und Albernheiten treten. Vom ersten bis zum fünften Mal findet man das lustig. Danach nervt es. Denn der Humor belustigt nur das Publikum, er schafft das Verbrechen nicht ab. Auf die Dauer wird sich der Krimi als Comedy-Sendung nicht halten können. Humor kann zwar die Tragik des Lebens auffangen, aber als Dauereinstellung kann er die Tragik von Verbrechen nicht bewältigen. Wie bei vielem anderen macht die Dosis den dramaturgischen Gewinn. Zu viel an Humor versenkt den Krimi im Comedy Genre. Bei Börne und Thiel geschieht das auf ganz hohem Niveau. Das Gegenteil muss man leider von den vielen humoristisch-kriminalistischen Vorabendserien sagen.


27. Brücke zur Wirklichkeit

In der Regel sind Krimis in der Gegenwart angesiedelt, auch wenn der historische Krimi (Umberto Ecos „Name der Rose“, Robert van Guliks Richter Di-Romane und andere) zu einem eigenen Genre ausgebildet wurde. Der Hinweis, dass ein Kriminalfilm auf einer „realen Begebenheit“ beruhe, aber trotzdem alles erfunden sei, beruht schon lange nicht mehr auf rechtlicher Notwendigkeit. Er hat einzig und allein die Funktion, den Grusel beim Zuschauer zu erhöhen: Dieser Mordfall ist nicht erfunden, er hat sich so oder ähnlich in Wirklichkeit zugetragen. Diese Realitätsnähe des Krimis, den Verweis auf eigene Recherchen kann ein Autor wie Don Winslow ausnutzen, der einige seiner Fälle im Milieu der mexikanischen Drogenmafia angesiedelt hat. Der Zuschauer spürt, dass die Ähnlichkeit mit lebenden Personen gerade nicht zufällig ist. Er arbeitet mit der Suggestion, dass das Wirkliche noch viel schlimmer ist als der erfundene Fall – was das Schaudern beim Leser oder Seher noch verstärkt. Das Spiel mit den formalen Mitteln der Dokumentation erhöht diese Verblendung von Wirklichkeit und Fiktion zusätzlich. Was „wirklich“ so geschehen ist, das könnte ja auch dem Zuschauer selbst passieren, auch wenn das auf der anderen Seite noch so unwahrscheinlich sein mag. Wirklichkeit ist vor allem die Furcht vor dem Verbrechen, mit der sich trefflich spielen lässt. Die Dokumentation von realen Fällen, die im Krimi nachgespielt werden, zum Beispiel die Entführung des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler erhält so einen zusätzlichen Kick, auch wenn die Dramaturgie dafür sorgt, dass der Fall in das Gerüst der neunzig Minuten eingebettet wird – und gerade nicht umgekehrt. Der „Fall“ wird filmreif gemacht. Erst dadurch kann ihn der Zuschauer begreifen, weil er bereits ins dramaturgische Schema des Krimis hineingepresst wurde.


28. Springer zwischen den Milieus

Die Berufung auf wirkliche Fälle kann die Glaubwürdigkeit von Krimis steigern und die Spannung zusätzlich erhöhen. Wirklichkeit und Krimi können sich aber auch auf andere Weise mischen. Der Krimi zeigt Milieus, die dem normalen Zuschauer nicht ohne weiteres zugänglich sind: die Bundeswehr in Afghanistan, Rockerbanden, syrische Flüchtlinge, Burschenschaften, Krankenstationen, Fluggesellschaften, Drückerkolonnen, Fluchthelfer, die russische, die neapolitanische und die sizilianische Mafia, Tattoostudios, Fußballclubs, alle Arten von telegenem Leistungssport (inkl. Doping) Neonazigruppen, die Volksmusikszene, Tennisclubs, Künstler. Die Kamera im Krimi schleicht sich mit Vorliebe in unbekannte geschlossene Milieus, nur um darüber aufzuklären, dass auch dort Verbrechen und vor allem Morde geschehen. Vor dem gewaltsamen Tod ist kein Milieu gefeit – und auch nicht vor Liebe, Tragik und Drama. Am Ende werden nicht die Unterschiede zwischen den Milieus sichtbar, sondern Gemeinsamkeiten. Demgegenüber ist der Kommissar der klassische Springer zwischen den verschiedenen Milieus und Szenen. Egal ob Drogenabhängige, Fußballprofis oder die Mitglieder von Rotary Clubs, er findet immer den gesuchten einen Täter. Oberflächlich erscheint der Kommissar als sozialer Spion im Dienste des Zuschauers. Unter der Oberfläche sind ihm die sozialen Milieus egal, denn er dringt einzig mit dem Zweck in sie ein, den Täter zu entlarven. Ist das geschehen, so kann er das untersuchte Milieu beruhigten Gewissens wieder verlassen.


29. Lokalkolorit

Die Duisburger haben sich einst sehr darüber mokiert, dass ausgerechnet zwischen Hafenbecken, Schmutzwasser und verrotteten Lagerhallen Kommissar Schimanski mit dreckigem Anorak, Schimpfworten, Ruhrpottslang und Alkoholexzessen ermittelte. Das hat sich sehr geändert. Die Duisburger verehren den jüngst verstorbenen Götz George, und mittlerweile buhlen die Städte darum, zum Ort eines Ermittlungsteams im Tatort, Polizeiruf oder wenigstens einer Soko zu werden. Schaut man aber genauer hin, so bleibt von der urbanen Eigenheit dieser Städte nicht mehr viel übrig. Wer den Dom sieht, der ist in Kölle, das Brandenburger Tor zeigt ein Berliner Ermittlungsteam an, und wenn die Stadt völlig unerkennbar bleibt, dann handelt es sich um einen „Tatort“ aus Ludwigshafen. Übrigens: Wer die lokalen Verhältnisse kennt, der staunt, wie viele Szenen des Ludwigshafener Tatorts in Karlsruhe gedreht werden. Man hat die Vielfalt der Ermittlungsstädte als Loblied auf den deutschen Föderalismus gepriesen. Aber im Licht der Fernsehscheinwerfer schmilzt jede urbane Besonderheit: Bahnhofsviertel, Imbissbuden, zugige Ecken unter Brücken gibt es überall. Und gemordet wird überall. Am schlimmsten ist es, wenn dieser urbane Ornat unter der Hand in Tourismuswerbung umgemünzt wird, wie in den Bozen-, Istanbul-, Tel Aviv-, Salzburg- und Venedigkrimis, jedenfalls denen, die im Fernsehen gezeigt werden. All die Sonnenaufgänge, Panoramen, Berg- und Strandbilder verwandeln den Krimi kurzzeitig in einen Reisekatalog, der dem Zuschauer suggeriert: Du musst hier keine Angst haben. Lichtstimmungen, malerische Landschaften und Polizeipräsenz werden garantiert. Böses kann dir nicht geschehen.


30. Mord in der Provinz

Manche Ermittlerteams weichen darum in die Provinz aus, besonders wenn es lustig werden soll. Aber in Hintertupfing oder Klein-Wuselshausen sind die Menschen nicht anders als in der Hauptstadt. Ob der furchtbare Kommissar Bienzle mit seinem gestelzten künstlichen Schwäbisch ein Viertele schlotzt oder die Sekretärinnen der vielen Berliner Kommissare fröhlich berlinern oder der Polizeimeister am Königssee jeden gelösten Fall mit Maß und Weißwürsten feiert – es macht letztlich keinen Unterschied mehr. Wenn sich alles unterscheidet, unterscheidet sich nichts mehr. Beim dauernden Krimimorden nivellieren sich soziale und geographische Unterschiede. Die regionalen und milieuhaften Differenzen sind in Wirklichkeit gar nicht relevant, sie dienen nur der Illustration. Sie sind Ornat in einer endlosen Wiederholungsschleife von Morden.


31. Alltag der Metropolen

Die Stadt im Hintergrund der Tat und ihrer Aufklärung ist Moloch, Chaos, Labyrinth. Eine Reihe von wiederkehrenden Aufnahmen schafft hier visuelle Aufklärung. Die Sonne geht auf, ein neuer Tag beginnt im Zeitraffer, Autoschlangen springen von Ampel zu Ampel. Das alles wird als Luftaufnahme von oben präsentiert. Die Welt wird sehr klein aus der Perspektive einer Kameradrohne. Der Moloch Stadt aus der Luftperspektive benötigt keine geographische Zuordnung, auch wenn der Zuschauer am Alexanderplatz, am Dom oder an der Frauenkirche eine solche vornehmen könnte. Beliebt sind auch Aufnahmen von Fußgängerzonen: Anonyme Menschen gehen einkaufen oder zur Arbeit. Aus der Anonymität der Menge löst sich dann langsam eine Kommissarin, ein Verdächtiger oder ein Polizist heraus. Am Ende wiederholt sich dieser Vorgang: Der Täter wird abgeführt, der Kommissar, die falschen Verdächtigen, die Zeugen und die Hilfspolizisten verschwinden wieder in der Menge. Der Fall ist gelöst, die Normalität ist neu hergestellt. Manchmal geht dann die Sonne unter. Sonnenaufgang, Verkehr und Fußgängerzonen zeigen den Alltag, die Routine, das Immergleiche. Die Stadt verändert sich nicht, sie bleibt unübersichtlich, unberechenbar, gefährlich. Das gilt für Hengasch im Landkreis Liebernich (Eifel) wie auch für die selbstgefällige Hauptstadt dieser Republik.


32. Blaue Stunde

Im Krimi darf die Normalität nicht allzu normal und die Wirklichkeit nicht allzu wirklich sein. Denn wenn auf dem Bildschirm alles so normal und selbstverständlich wäre wie vor dem Bildschirm, dann gäbe es keinen Grund mehr, sich den Krimi anzuschauen. Deswegen haben viele Regisseure begonnen, die Filmwirklichkeit einzufärben. Besonders beliebt ist die Blaufärbung: Blau ist kalt, tief, undurchdringlich, melancholisch. Wer den Blues hat, neigt zu Melancholie und Depression. Das kann man sichtbar machen: mit Farbe. Die Blaufärbung des Krimis verändert die Stimmung des Zuschauers genauso wie die Fototapete die Atmosphäre des Raumes beeinflusst. Beliebt ist die Blaufärbung auch in Bürokomplexen, das macht alles schön kühl. Blau wie das Meer, blau wie die Melancholie, blau wie die Preußen oder blau wie Schalke 04. Blau wie die eisgekühlte, gefrorene Welt, welcher der Sonnenschein verlorengegangen ist. Eingefärbte Bilder nutzen sich schnell ab, der Effekt geht durch Gewöhnung allzu schnell wieder verloren. An die Stelle der erwünschten Assoziationen tritt das Gefühl, dass der Regisseur seine Zuschauer durch Kitsch und Banalität betrügt. Das Blau ist stumpfgeworden – es wirkt mittlerweile wie eine altmodische Tapete.


33. Kriminaltango

Musik im Hintergrund sollte misstrauisch machen, sie täuscht in der Regel über die Banalitäten von Stimmungsbildern, die Atmosphäre erzeugen, hinweg. Trommelschläge suggerieren Gefahr, schräge Akkorde deuten Katastrophen an. Auch diese Effekte haben sich abgenutzt, sie sind wie die Blaufärbung viel zu selbstverständlich geworden. Manchmal greifen die Kommissare selbst zum Musikinstrument. Mit Grauen erinnert man sich an die Hamburger Kommissare Stoever und Brockmöller, die als Gesangsduett so etwas Ähnliches wie Jazz erzeugten. Das erinnert an Politiker, die aus Popularitätsgründen singen oder zum Musikinstrument greifen. Der verstorbene Alt-Bundespräsident Scheel reihte sich in einen Männerchor ein, Bill Clinton spielte gar nicht so schlecht Saxophon, und auch Barack Obama stimmte bei einer Trauerfeier in Charleston „Amazing Grace“ an. Im Krimi bleiben solche Musikanlagen Ausnahmen, allerdings sehr beliebte. Ansonsten rückt Musik in den Hintergrund, sie ist ein Instrument für das Halbbewusste, das der Zuschauer gar nicht mehr richtig registriert. Insofern lenkt sie gelegentlich von der Dürftigkeit der Bilder ab. Im Mittelpunkt steht die Musik nicht. Fernsehkrimis sind Seh-Ereignisse.


34. Gestehen Sie endlich!

Farbe und Musik gehören in den Hintergrund eines Krimis, im Vordergrund stehen Personen (Täter, Opfer, Ermittler) und Orte. In den meisten Krimis darf ein Verhörraum nicht fehlen. Diesem fehlen in der Regel die Fenster nach draußen. Er ist einfarbig weiß oder schwarz gestrichen. Darin ist ein Tisch mit drei oder vier Stühlen aufgebaut. Weitere Möblierung fehlt. Das einzige Fenster füllt eine Spiegelglasscheibe aus, durch die Verdächtige nicht nach draußen, aber die anderen Ermittler von draußen auf dem Gang nach drinnen blicken können. Auf dem Tisch steht eher eine Videokamera als ein Aufnahmegerät. Die Ausstatter wählen grundsätzlich eine sehr kühle Neonbeleuchtung. Hier findet regelmäßig der Showdown zwischen einem Verdächtigen und einem Ermittler statt. Die Spiegelglasscheibe oder die Videokamera ermöglichen es, dass die anderen Ermittler von draußen das Verhör kommentieren können. Oder sie holen den verhörenden Kommissar für einen Moment aus dem Raum heraus, um neue Ermittlungsergebnisse einzuspielen, die der Gerichtsmediziner gerade eben in höchster Eile per SMS geschickt hat. Verhöre sollen den Verdächtigen zermürben. In der Regel kann der Regisseur aber heutzutage nicht mehr warten, bis der Verdächtige auch richtig zerknirscht oder zermürbt ist. Meistens genügt es, seine Falschaussage durch neu eingespielte Fakten zu widerlegen oder ihn zu entlasten. Eine zentrale Rolle spielt das Verhör in heutigen Krimis nicht mehr. Der Verhörraum gehört noch zu den klassischen Orten des Krimis, aber er hat viel von seiner früheren Funktionalität eingebüßt. Und mittlerweile (siehe Abschnitt 11) wurde er zur rauchfreien Zone erklärt.


35. Der väterliche Vorgesetzte

Geradezu zwanghaft stören sich deutsche Fernsehkommissare an Regeln, Dienstwegen und Vorschriften. Sie werden einfach nicht beachtet. Dafür besitzt jedes Kommissariat einen Vorgesetzten (den Chef der Dienststelle, die Staatsanwältin, den Abteilungschef, den Polizeipräsidenten), der regelmäßig – vergeblich! – auf die Einhaltung der Regeln pocht. Im Fall der Verletzung von Regeln hält der Vorgesetzte aber auch seinen Kopf hin, unter der Voraussetzung, dass es gelingt, den Täter zu ermitteln. Genauso empfiehlt der Vorgesetzte dem Kommissar regelmäßig, doch ein paar Tage Urlaub zu nehmen, um sich vom Stress der letzten Wochen zu erholen. Diesen Urlaub hat noch kein deutscher Kommissar angetreten, es sei denn, der Kommissar fährt in den Urlaub, um in der Sommerfrische den nächsten Fall zu lösen. Der Vorgesetzte nähert sich regelmäßig dem Nervenzusammenbruch, dann brüllt er herum, aber am Ende, wenn der Täter ermittelt ist, raufen sich alle wieder zusammen und man geht – trotz Suspendierungen, Dienstaufsichtsbeschwerden und Disziplinarverfahren – gemeinsam ein Bier trinken. Im Krimi nehmen die Vorgesetzten oft die Funktion des Buhmanns wahr. Man kann das nicht anders als psychologisch erklären. Der Verdacht besteht: Deutsche Fernsehzuschauer haben ein Vaterproblem, leiden unter einem unaufgeklärten Ödipuskomplex. Deswegen sympathisieren sie mit den Kommissaren, die ihr Über-Ich in Gestalt eines Vorgesetzten ignorieren, provozieren oder bis zur Weißglut treiben. Die Zuschauer auf dem Sofa lächeln und fühlen sich bestätigt.


36. Liebe Kollegen

Der Urtyp des Kollegen ist Sherlock Holmes‘ Dr. Watson, der beflissene Stichwortgeber, der dauernd nachfragen muss. Das hat sich heute geändert. Kommissare leisten Teamarbeit, und manche Teams wie die Münchener Batic und Leitmayr oder die Kölner Ballauf und Schenk wirken wie alte Ehepaare, die den richtigen Termin für die Scheidung verpasst haben. Deren Beziehung wirkt mittlerweile so versteinert, dass nicht einmal mehr eine längerfristige Paarberatung helfen würde. Zoff zwischen Kollegen unterschiedlichen Charakters bildet ein beliebtes Sujet von Nebengeschichten, die mit der Hauptermittlung kontrastieren. Gelegentlich können sich auch ganz unterschiedlich veranlagte Naturen gegen die Strenge des Vorgesetzten verbinden. Mann und Frau als Ermittlerin können eine Beziehung anfangen und sich wieder trennen, oder – am beliebtesten, da ständig zu erneuern – eine – wie man das heute sagt – On/Off-Beziehung pflegen. Diese Paare klicken beim Beziehungsstatus von Facebook an: „Es ist kompliziert.“ Bei der Paarbildung sind den Castingagenturen wenige Grenzen gesetzt, sofern man nur mit Kontrasten spielen kann. Es ermitteln geschiedene Ehepaare, Behinderte/Nicht-Behinderte, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund, Mann/Frau, Schwul/Hetero, Dick/Dünn, Bayern/Norddeutschland usw. Der Kontrast zwischen den Ermittlern, alle Konflikte, die sich daraus ergeben, werden nur so lange akzeptiert, wie sie das Ergebnis am Ende, die Ermittlung des Täters nicht behindern. Es klappt also immer.


37. Misanthrop und Anatom

Zu den Kollegen gehört neben dem zweiten Kommissar und dem vorgesetzten Kriminalrat auch der Rechtsmediziner. Er herrscht über die bereits vorgestellte Anatomie, neben dem Verhörzimmer ein weiteres Ensemble fensterloser Räume. Der Rechtsmediziner ist ständig schlecht gelaunt, grundsätzlich überarbeitet, ein Misanthrop, weil er täglich mit dem Tod konfrontiert wird und weil sich noch kein einziger Kriminalkommissar, weder im Fernsehen noch im Kino noch in Büchern, bei ihm bedankt hat, dass er so exzellente Spuren sichern konnte, die bei der Lösung des Falls sehr, sehr hilfreich sein können. In der Figur des Rechtsmediziners Professor Börne haben die Macher des Münsteraner Tatorts eine Person erfunden, die sämtliche bestehenden Klischees über Rechtsmediziner ins Absurde steigert und bis ins hinterhältig Komische überbietet. Börne begegnet dem schluffigen Kommissar Thiel selbstverständlich auf Augenhöhe, und er lässt ihn seine intellektuelle Überlegenheit spüren, und er bringt sich gleichzeitig durch seine Schusseligkeit immer wieder in diejenige Gefahr, aus der ihn der Kommissar retten muss. Börne im Übrigen ist die Karikatur des einstigen intellektuellen Ermittlers, der alles besser weiß, im Stile von Sherlock Holmes. Andere Rechtsmediziner als der beliebte Börne fristen ein Schattendasein als Nebenfiguren. Die meisten Krimis kommen ohne sie nicht aus, sie sind gut für ein paar billige Witzchen, aber in den Mittelpunkt rücken sie nicht. Diese Stelle im Krimi ist auch schon besetzt.


38. Morde und Tore

Krimis sind Tatgeschichte und Ermittlung zugleich. Sie leben von einem fixierten Schema, das in Umrissen in den bisher betrachteten Indizien sichtbar geworden ist. Die meisten folgen demselben Muster. Gleichzeitig versuchen alle Drehbuchautoren und Serienschreiber sehr, sehr angestrengt, dieses Schema zu durchbrechen. Sonst ist der Krimi nicht interessant. Dieser lebt von einem Paradox: Das Muster muss eingehalten werden. Gleichzeitig werden die Regeln des Musters (kontrolliert) gebrochen. Das erklärt die Beliebtheit von Krimis und macht sie vergleichbar mit Fußballspielen und Gottesdiensten. Fußballspiele kann ein Trainer detailliert planen und seine Mannschaft taktisch und strategisch genau vorbereiten. Die Mannschaft kann im Spiel selbst die Taktik des Trainers perfekt umsetzen, und dennoch ist es möglich, dass die taktisch besser eingestellte Mannschaft das Spiel verliert. Dieser Mechanismus ist einfach zu verstehen, und er macht das Fußballspiel für Fans und Zuschauer so ungeheuer attraktiv. Ähnliches gilt auch für den Krimi. Der Zuschauer weiß um das Muster, das ihn in dem Film (oder Buch) erwartet. Er kennt im Grunde die Vorüberlegungen des Autors oder Regisseurs (=Trainers). Ohne Morde (=Tore) bleibt jeder Krimi vergeblich. Im Krimi kann alles gezeigt werden, wenn nur am Anfang ein Mord geschieht, der am Ende aufgeklärt ist. Genau wegen dieser ritualhaften Wiederholung hofft der Zuschauer aber darauf, überrascht zu werden von Szenen (=Spielzügen, Angriffen, Toren), die das Muster durchbrechen, weil sie gar nicht vorgesehen sind. Offenbar können Autoren in Krimis das Verhältnis von Erwartbarem und Ungewöhnlichen sowie von Zufälligem und Neuem so leicht einjustieren, dass die Zuschauer immer mehr Krimis – als Fernsehfilm, als Lesestoff, als Kino – konsumieren. Um es vom Fußball auf die philosophische Ebene zu heben: Krimis sind Kontingenzdarstellung, deren stellvertretende Bewältigung durch einen Ermittler den Zuschauer zufrieden zurücklässt. Aha!


39. Spannung betäubt Langeweile

Der Krimi ist ein geschützter Raum. Ulrich Suerbaum: „Alle Detektivromane sind Variationen; wir können den gesamten Literaturzweig geradezu als Variationsgattung definieren.“ Das Kontingente breitet sich in Form von Morden aus, gleichzeitig wird es durch Spurensicherung, Ermittlung und Entlarvung begrenzt. Das Böse ist gegenwärtig, aber im Einzelfall (wirklich nur im Einzelfall) besiegbar. Wer einen Krimi anschaut oder liest, wird in seinen Erwartungen nicht enttäuscht. Der Zuschauer weiß aus seinem Alltag, dass das Chaos existiert, und er tut alles dafür, sich durch Regeln, Ordnungen und Gewohnheiten davor zu schützen. In seiner Freizeit benötigt er kompensatorisch den Kitzel des Unvorhergesehen, der Katastrophe, der nicht erwartbaren Kontingenz. Aber dieses Chaos trifft den Zuschauer nicht selbst. Andere (die Ermordeten) werden davon getroffen, und wieder andere (die Ermittler) sorgen dafür, dass die Kontingenz bewältigt wird. Das Chaos darf den Zuschauer ein wenig kitzeln, aber es darf ihn nicht aus der Ruhe bringen. Selbst der anspruchsvollste Krimi gibt dem Leser/Zuschauer nicht die volle Dröhnung, davor schreckt er zurück. Ein Häppchen Chaos darf es sein, aber ein Abgrund von Schicksalsschlägen wäre zu viel. Der Krimi beschäftigt sich mit der Gegenwart des Bösen – und trotzdem bleibt er ein geschützter Raum. Der Zuschauer/Leser weiß, was er zu erwarten hat.


40. Trostlosigkeit statt Fortschritt

Der Zuschauer weiß, dass am Ende des Krimis der Fall gelöst sein wird. Durchaus offen ist, wie man diese Lösung interpretieren kann. Im alten, rationalistischen Lösungskrimi, der der Aufklärung (im philosophischen wie im kriminalistischen Sinn) verpflichtet ist, bestätigte die Lösung des Einzelfalls eine optimistische Fortschrittsphilosophie, die damit rechnete, irgendwann das Verbrechen abgeschafft und das Böse besiegt zu haben. Diese Fortschrittsphilosophie ist auch im Krimi zusammengebrochen. An ihre Stelle tritt ein melancholisches Gefühl der Vergeblichkeit aller Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit. Der Kommissar weiß gar nicht mehr richtig, weshalb er Mordfälle aufklärt. Er fühlt sich heimatlos in einer Welt, die seiner Aufklärungsarbeit gleichgültig bis feindlich gegenübersteht. Und das lässt ihn verzweifeln – nicht so sehr, dass er seinen Dienst quittieren würde, aber doch so sehr, dass er nach jedem gelösten Fall mit gequältem Gesichtsausdruck in einer Stehkneipe ein schal gewordenes Bier trinkt und dann wortlos auf seinem Barhocker erstarrt. Wehe wenn der Barkeeper ihn in seiner schlechten Laune anspricht. An dieser melancholischen Haltung haftet etwas Fatalistisches, Resignatives. Die Welt kann nicht verändert werden. Das Böse kann nicht besiegt werden. Der einzelne, für den exemplarisch der von Vorgesetzten, Kollegen und Verdächtigen gehasste Kommissar steht, kann durch seinen Beruf in dieser bösen Welt nichts mehr verändern. Wieso ist diese Trostlosigkeit in Krimis so beliebt? Ich habe keine andere Erklärung als diejenige, dass die Zuschauer sich in dieser Trostlosigkeit wiederfinden. Sie haben die Hoffnung aufgegeben. Sie können nichts verändern. Die Welt und das Böse werden immer gewinnen. Der vermittelte Trost im einen kleinen gelösten Fall bleibt marginal. Darum muss er jeden Sonntagabend nach der Tagesschau erneuert werden.


41. Erklärverbot und Bildersehnsucht

Die Kritik an Fernsehkrimis, die vor allem in den Tageszeitungen und Onlinemedien in den letzten Jahren immer ausführlicher geworden ist, bemängelt solche Krimis, in denen viel erklärt wird. Die Zuschauer, so der Vorwurf, werden mit Wissen überschüttet, das sie gar nicht verarbeiten können und nach dem Film nicht mehr benötigen. Der Krimiregisseur, der sich oder seinen Kommentar erklärt oder schlimmer noch: gerechtfertigt hat, kann von vornherein abdanken. Das ergibt eine interessante Parallele zur Kanzel, denn auch der Pfarrer soll ja in seinen Predigten nicht mehr erklären und rechtfertigen, sondern Emotionen vermitteln, Stimmungen erzeugen, möglichst in leichter Sprache. Im Krimi werden keine langen Dialoge (Verhöre!) mehr verlangt. Die Geschichte soll durch Bilder statt durch Gespräche, durch Gesten und Mienenspiel statt durch Bekenntnisse und Ermittlungen erzählt werden. Ein Gespräch oder Telefonat oder eine Gerichtsverhandlung thematisieren das Geschehene nur indirekt. Jede Art solcher Vermittlung kompliziert aber das Spiel mit den Erzählebenen. Das erfordert beim Zuschauer größere Abstraktionsleistungen, die kein Regisseur – penetranter Gedanke an die Einschaltquote! – dem Zuschauer im Übermaß abverlangen will.


42. Horizontales Erzählen

Kommissare waren schon immer Serientäter: Miss Marple, Hercule Poirot, Kommissar Maigret, Sherlock Holmes und viele andere ermittelten in immer neuen Büchern und Filmen, in denen sich das beschriebene Muster wiederholte. Was man nicht wahrnahm, waren Entwicklungen. In jedem Fall begannen die Kommissare und Detektive stets gleich frisch, entspannt und erholt. Man merkte ihnen ihre Lebensgeschichte nicht an. Sie waren eben so, und daran gab es nichts zu ändern. Das ist in heutigen Krimis anders geworden. Die Aufmerksamkeit richtet sich plötzlich auf Entwicklungen und psychologische Veränderungen. Wie beeinflusst die Krankheit des Vaters, die Schwester, die im Koma liegt, die anstehende Scheidung, der Tod der Ehefrau oder des Partners die Ermittlungen des Kommissars? Inwiefern hilft ihm das, den anstehenden Mord aufzuklären? Inwiefern behindert es ihn dabei? Ist ihm der mysteriöse Tod der Ehefrau und der Tochter bei einem Verkehrsunfall vielleicht sogar wichtiger als der gegenwärtig anstehende Fall? Man hat deshalb vom „horizontalen“ Erzählen im Krimi gesprochen. Der Zuschauer soll an die Krimiserie gebunden werden, weil er sich für die Hintergrundgeschichte viel mehr interessiert als für den aktuellen Mord der Episode. Deswegen erzählt der Autor in jeder Folge ein wenig mehr von dieser Hintergrundgeschichte und entwickelt so langsam die Figur des Kommissars weiter. Manchmal übernimmt auch der (Serien-)Täter diesen durchlaufenden Erzählstrang im Hintergrund.


43. Sofarituale

Wer Krimis in Serien schaut, setzt sich zum Ausstrahlungsdatum vor den Bildschirm. Besonders bei den Sonntagabendkrimis Tatort und Polizeiruf 110 ist das zum Ritual geworden, obwohl es sich bei beiden nicht um Serien handelt, sondern um Reihen, in denen ganz verschiedene, sehr heterogene Ermittlerteams miteinander konkurrieren. Unterschiede der Qualität und der Popularität sind an der Tagesordnung. Für deutsche Schauspieler gilt es als Auszeichnung, zum Tatort-Kommissar befördert zu werden. Bei manchen Kommissaren erkennt man, wenn sie anderen Filmen (Komödien, Kitsch-und Liebesfilme) mitspielen, als erstes den Kommissar wieder. Die Schauspieler können der dem Zuschauer vertrauten Rolle nicht mehr entkommen. Sie sind festgelegt. Der Zuschauer behandelt die Kommissare wie alte Kumpel und beste Freundinnen. Der Sonntagabend auf dem Sofa wird zum Ritual. Das Vorspiel ist die wirkliche Welt, die Nachrichten der Tagesschau, bei der Katastrophenmeldungen und politische Verlautbarungen am Ende in Sportberichterstattung und Wetterbericht münden. Der Wetterbericht ist die harmlose Überleitung zur uralten Erkennungsmelodie und zum Vorspann des Krimis. Spätestens dann sollten Wein- oder Bierflaschen sowie Chipstüten geöffnet sein. Der stets neunzigminütige Film ist das Hauptereignis des Abends. Danach folgt, gleichsam als Abspann, die politische Talkshow, die in ihrer harmlosen bis ärgerlichen Diskussionsdramaturgie die Zuschauer wieder auf den schnöden Boden der Wirklichkeit zurückholt. Das Ritual besteht also aus einer Abfolge von Politik – (kriminelles) Drama – Gespräch. Viele Zuschauer schauen sich den Sonntagkrimi als eine von wenigen Sendungen gemeinsam an, mit Nachbarn, Freunden, mit der Clique – was sonst beim Fernsehen sehr viel seltener vorkommt. Fernsehen ist mit der Einführung der Mediatheken im Internet weniger denn je an bestimmte Sendezeiten gebunden. Der Sonntagabendkrimi macht eine Ausnahme. Außerdem schauen sich viele den Film am, um am Montag danach mit den Kollegen und Nachbarn über den Film reden zu können. Hat dir das gefallen? Fandest du das nicht auch unglaubwürdig? Es besteht auch die Möglichkeit, seine Kommentare schon während des Films via Twitter oder Facebook zu verbreiten. Der Sonntagkrimi als Ritual sorgt für Gesprächsstoff, nicht für die großen Fragen des Lebens, mindestens aber für gefälligen Smalltalk.


44. Andacht im Wohnzimmer

Um am Sonntagabend einen spannenden Krimi anzuschauen, brauchen Zuschauer Sicherheit, und diese spüren sie am ehesten im eigenen Wohnzimmer und in Gemeinschaft. Dort wo es am bequemsten und gemütlichsten ist, kann man auch die größte Spannung und den meisten Nervenkitzel ertragen. Die modernen Flachbildschirme sind zwar sehr groß, aber ihnen fehlt trotzdem noch die Dimension einer Kinoleinwand. Wer auf den Krimi am Bildschirm starrt, dessen Blickfeld ist nicht ausgefüllt. Der Blick des Zuschauers reicht über den Bildschirm hinaus in die gemütlich und angenehm dekorierten Zonen des heimeligen Wohnzimmers. Nur dort kann man jede Brutalität und jedes noch so schlimme Grauen ertragen. Im Notfall, beim Blick auf das in der Anatomie liegende Mordopfer, dessen Brustkorb gerade geöffnet wurde, kann der Zuschauer kurz neben Bildschirm blicken, auf den Gummibaum oder Tante Ernas beruhigende Obstschale aus Kristall. Das Ritual des Sonntagabends lebt vom Kontrast zwischen Rotwein und geronnenem Blut, zwischen Bequemlichkeit und Suspense, zwischen salzigen Chips und Linien von Kokain, zwischen gemütlichem Wohnzimmer und Fundort. Mit Abstand zum und durch den Bildschirm wirkt selbst das größte Grauen gleich viel harmloser. Der Kommissar/Detektiv/Ermittler handelt stellvertretend für den Zuschauer, längst nicht mehr ausschließlich in seinen überlegenen intellektuellen Eigenschaften, sondern auch mit allen Krisen, welche das Leben diesseits und jenseits des Bildschirms mit sich bringt: Scheidung, pubertierende Kinder, Einsamkeit, Versetzung, Depression, Alkoholismus, psychische Krankheit. Dem Gottesdienst am Sonntagmorgen entspricht der Fernsehkrimi am Abend. Beide Rituale verhalten sich komplementär zueinander. Gottesdienst und Krimi sind durch gleichbleibende, wiederkehrende Elemente bestimmt, in die das Heterogene, Zufällige eingegliedert wird. So entsteht liturgisch wie dramaturgisch eine erwartbare, beruhigende Ordnung. Der Gottesdienst endet mit dem Segen, der Krimi mit einer Verhaftung. Die Sünde und das Böse werden doppelt besiegt.


45. Ermitteln und predigen

Man kann diesen Vergleich zwischen (evangelischem) Gottesdienst und Krimi noch weiter treiben. So wie die dominierende Rolle des Pfarrers sich in den letzten Jahrzehnten aufgelöst hat in ein liturgisches Geflecht von Haupt- und Ehrenamtlichen, so arbeitet auch der Kommissar nicht mehr so häufig allein, sondern im Team, die Kollegen spielen eine wichtigere Rolle, die Frage, ob man den anderen vertrauen kann oder ob sie nicht heimlich für die andere Seite der organisierten Kriminalität arbeiten (Tatort Dortmund, Polizeiruf Rostock). Die Bedeutung der Predigt im Gottesdienst ist zurückgetreten – so wie der Kommissar nicht mehr seine überlegenen Verstandesgaben demonstriert. Ein wichtiger Unterschied jedoch bleibt bestehen: Trotz aller Fernseh- und Radiogottesdienste gehen die meisten Christen zum Gottesdienst selbstverständlich in die Kirche oder ins Gemeindehaus. Sie begeben sich an einen anderen, besonderen Ort, der im Kontrast steht zu den häuslichen Verhältnissen und des Alltags. Dagegen findet der Krimiabend des Zuschauers im Wohnzimmer statt – oder im Schlafzimmer, wenn dort der Fernseher steht. Und bekanntlich liest die berühmte Mimi ihre Krimis im Bett vor dem Schlafengehen. Beides – Predigt wie die Aufklärung eines Mordfalls – lassen sich als Deutungs- und Interpretationsaufgabe verstehen: Die Predigt legt eine biblische Passage aus, während die kriminalistische Aufklärung sich daran macht, Ursachen, Täter und Motive von Tötungsdelikten zu ermitteln. Beide, Predigt wie (Fernseh-)Krimi sind in der Regel auf Gegenwart und Aktualität bezogen. Wer einen Tatort sieht, der ein paar Jahre alt ist, der stöhnt schnell über die karierten Krawatten und die merkwürdig geschnittenen, farblich nicht zusammenpassenden Blusen und Hemden. Auch alte Predigten verlieren schnell von ihrem Glanz. Dieser Essay sollte gerade für den Krimi zeigen, dass es – unabhängig von Moden und zeitgenössischen Accessoires ein dauerhaft gleichbleibendes Muster gibt, das sich durch Filme wie Bücher zieht. Predigt und Krimi haben weiter ein sinnstiftendes Element gemeinsam. Die Predigt deutet das biblische Wort als gegenwärtig relevant für das alltägliche Leben der Menschen in der Gemeinde. Sie führt hin zum Trost des Segens, mit dem Gemeinde nach dem Gottesdienst wieder entlassen wird, wobei dieser Segen nicht im magischen Sinne gutes und gelingendes Leben garantieren kann. Im Krimi wird in der Regel mindestens ein Fall gelöst. Dabei mag noch so klar, dass das (organisierte) Verbrechen damit nicht besiegt ist. Ein Fall ist gelöst. Der Zuschauer soll sich vor dem Bösen fürchten, aber mindestens wegen einer Kleinigkeit, der Entlarvung eines einzigen Täters, auch wieder beruhigen. Man hat deshalb behauptet, die Tatort-Kommissare seien die „Priester der Industriegesellschaft“ (Martin Thau). So einfach ist es aber nach meiner Überzeugung nicht, dafür schillert der Begriff des Priesters zu sehr. Eher sind die Kommissare und Detektive unter die „neuen Geistlichen“ (Pierre Bourdieu) zu zählen. Sie ersetzen immer mehr die kirchlichen Gemeindepfarrer und vermitteln Trost, wo sich die Fernsehzuschauer vor der Allgegenwart und Allmacht des Bösen fürchten. In Wahrheit besteht hier aber kein Gegensatz, sondern ein Verhältnis der Ergänzung und Verschiebung. Mit dem Segen verlassen die Gemeindeglieder getröstet und hoffentlich hoffnungsvoll die Kirche, um sich den alltäglichen Anforderungen der nächsten Woche zu stellen. Mit dem gelösten Fall im Hintergrund, dem getrunkenen Rotwein und den gegessenen Chips, können sich die Zuschauer wieder getrost auf die Leerläufe und Hilflosigkeiten des Politikbetriebs in der anschließenden Polit-Talkshow einlassen.


47. Verbotsliste der kriminologischen Fragen und Aussagen
  • Wo waren Sie gestern Abend zwischen 21.00 und 23.00 Uhr?
  • Besitzen Sie eine Schusswaffe? Haben Sie einen Waffenschein?
  • Hol den Wagen, Harry!
  • Die Spurensicherung soll sofort kommen?
  • Können Sie schon etwas über die Mordwaffe sagen?
  • Können wir bitte hereinkommen?
  • Haben Sie dafür einen Zeugen?
  • Genaueres kann ich erst nach der Obduktion sagen.
  • Ich erwarte Ihren Bericht um 10 Uhr auf meinem Schreibtisch.
  • Halten Sie mich auf dem Laufenden.
  • Hatte der Ermordete Feinde?
  • Sie sind vom Dienst suspendiert. Bitte übergeben Sie mir Ihre Schusswaffe!
  • Haben Sie etwas dagegen, wenn wir das Gespräch mit Ihnen aufzeichnen?
  • Die Vorschriften sehen etwas anderes vor. Aber ich nehme das auf meine Kappe.
  • Für den Fall, dass eine Wohnung gewaltsam geöffnet werden muss und es zu lange dauern würde, einen Haftbefehl zu beschaffen: Gefahr im Verzug!

48. Vorläufige Ermittlungsergebnisse

Der Krimi funktioniert mit wenigen schematischen Bewegungen

  1. Der Ermittler klärt einen Mord auf.
  2. Das Böse, das Verbrechen, der Mord lauern überall.
  3. Der (Einzel-)Fall wird aufgeklärt, aber das Böse, die Wirklichkeit des gewaltsamen Todes bleibt.
  4. Die alte optimistische Fortschrittsidee der Aufklärung (Vernunft kann das Böse besiegen) hat sich besiegen. An ihre Stelle ist weithin ein melancholisches und depressives Weltbild getreten. Der Krimi hat von Sherlock Holmes zu Kurt Wallander gewechselt.
  5. Der Krimi ist ein Vertrag zwischen Ermittler, Täter und Zuschauer.
  6. Der Krimi stiftet Sinn, weil er die durch einen Mord zerstörte verlässliche Ordnung des Lebens wieder herstellt. Weil sich das Böse nicht besiegen lässt, muss der Zuschauer immer von neuem Krimis schauen.
  7. Der Krimi gewinnt seine Spannung auch daraus, dass dieses Schema durchbrochen wird.


49. Literatur (unvollständige Aktenlage)

Für diesen Essay habe ich auf Anmerkungen verzichtet. Ich nenne auch nicht alle Titel der Krimischriftsteller, die ich konsultiert habe, sondern begnüge mich mit den Namen und gelegentlich der wichtigsten Ermittlerfigur. Die einzelnen Titel lassen sich ohne weiteres mit Hilfe von Wikipedia und Suchmaschinen finden. Dass wichtige Schriftsteller nicht genannt wurden, dass auf der Liste auch Namen stehen, die eher populär als anspruchsvoll schreiben, liegt an der willkürlichen Auswahl, die ich getroffen habe. Selbstverständlich ist es möglich, mit Hilfe von diesen oder anderen Krimiautoren das Gegenteil dessen zu beweisen, was ich mit diesem Essay sagen wollte. Indizien sind und bleiben vieldeutig.

  • Andrea Camilleri (Commissario Montalbano)
  • Agatha Christie (Hercule Poirot, Miss Marple)
  • Gilbert Keith Chesterton (Father Brown)
  • Umberto Eco, Der Name der Rose, München 1986
  • James Ellroy
  • Robert van Gulik (Richter Di)
  • Patricia Highsmith
  • Donna Leon (Commissario Brunetti)
  • Henning Mankell (Kurt Wallander)
  • Dorothy Leigh Sayers (Lord Peter Wimsey)
  • Dies., Das größte Drama aller Zeiten, Zürich 1982
  • George Simenon (Kommissar Maigret)
  • Barbara Vine
  • Don Winslow
  • Jochen Vogt (Hg.), Der Kriminalroman. Poetik Theorie Geschichte, München 1998

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/104/wv27.htm
© Wolfgang Vögele, 2016