Mit Kunst aufklären!

Das ‚Evangeliar‘ des Bazon Brock

Andreas Mertin

Brock, Bazon (2016):
Theoreme. Er lebte, liebte, lehrte und starb.
Was hat er sich dabei gedacht?
Hg. v. Marina Sawall. Köln: König, Walther.


Als ich Ende der 70er, Anfang der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts damit begann, mich nicht nur mit historischer, sondern auch mit zeitgenössischer Kunst zu beschäftigen, war Bazon Brock eine unverzichtbare Lektüre. Ich beschäftigte mich Anfang der 80er-Jahr mit dem Bilderstreit, mit seiner Bedeutung und vor allem seiner - wenn möglich - nicht nur pejorativen Deutung.

Neben Horst Bredekamps „Kunst als Medium sozialer Konflikte“[1] und Martin Warnkes „Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks“[2] war Bazon Brocks damals gerade erschienener Sammelband „Ästhetik als Vermittlung“[3] erkenntnisreich. Darin befand sich ein Abschnitt, der den Titel trug „Der Wirklichkeitsanspruch der Bilder. Vom Bilderkrieg zur Besucherschulung“[4] und wiederum darin ein Text mit dem Titel „Zur Geschichte des Bilderkriegs um das Realismusproblem“[5], der für mich erkenntnisleitend wurde.

Während mir bei Horst Bredekamp deutlich wurde, dass Bildersturm nicht nur negativ betrachtet zu werden braucht, sondern eine Auseinandersetzung auf der Höhe der Zeit sein kann, wurde mit Bazon Brock deutlich, dass der historische Bilderstreit nicht mit seinem historischen Ablauf zu Ende war, sondern dass wir uns heute immer noch im Bilderstreit befinden. Und dass wir ihm manchmal schon beim bloßen Betrachten der Waschmittel-Werbung im abendlichen Fernsehen begegnen. Das war und ist inspirierend. Es waren Teile der früheren Besucherschulung zur documenta, die man nachlesen konnte. Ebenso inspirierend sein Modell, wie man mit Hilfe der Evangelistenfiguren des Münnerstädter Altars von Tilman Riemenschneider Erkenntnisprozesse beschreiben und reflektieren kann. Das war die hohe Kunst der ästhetischen Vermittlung.

1986 erschien dann als weiterer Band der Ouevre-Dokumentation „Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande“[6]. Und auch hier gab es viel Lesenswertes. Der erste Text eröffnete mit dem wunderbaren Zwischentitel: „Direkte Wege zu Gott und Kunst sind Sackgassen“. Es war die Zeit, in der ich mich mit der Theorie der Ruinen beschäftigte und zu diesem Thema auch im Buch von Brock fündig wurde: „Die Ruine als Modell der Differenz“.[7] Neben die theoretischen Texte traten natürlich bei Brock zahlreiche Beiträge zu konkreten einzelnen Künstlerinnen und Künstlern. Eine Fundgrube für das Studium der aktuellen Kunstszene. Später kam dann noch der Sammelband „Der Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens; Kritik der Wahrheit; wie man wird, der man nicht ist.“[8]

Und selbstverständlich gibt es noch vieles mehr von Bazon Brock, das hier im Einzelnen nicht aufgezählt zu werden braucht, da es eine Webseite von Brock gibt, auf der man unendlich stöbern kann: http://www.bazonbrock.de/ Der Besuch dieser Seite lohnt allein schon wegen der fantastischen anklickbaren(!) Überblicksgrafik „Textgenetik: Die Arbeitsbiographie auf einen Blick“. Das ist wirklich vorbildlich!

Nun also das neueste Buch „Theoreme“ mit dem selbstironischen Untertitel „Er lebte, liebte, lehrte und starb. Was hat er sich dabei gedacht?“ Dieses Buch ist dann doch etwas anderes als die bisherigen Arbeitsbiographie-Bände. Zum einen ist es schwergewichtiger: stolze 5,1 kg bringt es auf die Waage und lässt somit nicht mehr zu, schnell mal darin zu blättern. Denn zum zweiten hat das Buch ein Format von 29x39 cm (also knapp DIN A 3) und sprengt damit auch den normalen Freiraum auf jedem Schreibtisch. Es hat vielmehr etwas von den XXL- bzw. Sumo-Formaten, die der Taschen-Verlag so gerne vertreibt, nur dass dieses Buch bei Walther König erschienen ist. Zum dritten werden hier nicht nur neue Texte und Aktionen von Bazon Brock der Werkübersicht hinzugefügt, sondern es wird ein gesamtes Oeuvre vergegenwärtigt und assoziativ und zugleich logisch miteinander verknüpft. Denn dieses Opus Summum bilanziert die künstlerische Existenz des Kunst-Vermittlers und Aktionisten Bazon Brock. Natürlich – das wird bei dieser Person auch niemanden überraschen – spielt dabei eine gehörige Portion Narzissmus eine Rolle.

„Theoreme", so schreibt die Herausgeberin Marina Sawall einleitend, „kommt ganz ohne Inhaltsverzeichnis aus, wobei ein umfassendes Register die schnelle Auffindbarkeit des Gesuchten erleichtert. Die Leser können sich die Person Bazon Brock und ihre Aussagen Seite für Seite erblättern. Insgesamt gibt es drei größere Unterteilungen: erstens einen biografischen Rahmen; zweitens einen methodischen Teil zu Bazon Brocks Selbstverständnis als ‚Künstler ohne Werk‘ und seiner Erfindung des Action Teaching; drittens ein über 200 Seiten starkes ‚Arbeitsheft‘, das sich direkt an die Leser wendet indem es das Konzept der Brockschen Bürger- und Besucherschulen in Buchform weiterführt.“

Das mit dem Arbeits-„Heft“ ist natürlich etwas übertrieben, denn niemand arbeitet ernsthaft mit einem 5,1 kg schweren Heft im DIN A 3 Format. Die Bezeichnung Nach-Denk-Buch trifft es wohl am besten. In einem gewissen Sinne ist es aber auch wie ein Lektionar in der Kirche, das aufgelegt und (Sonn-)Tag für (Sonn-)Tag umgeblättert wird, um den geistlichen / geistigen Impuls für den (Sonn-)Tag zu vermitteln. In diesem Sinne kann auch Bazon Brocks Opus Magnum / Summum genutzt werden. Ironisch könnte man es auch „Das Evangeliar des Bazon Brock“ nennen.

Wenn man versucht, eine Gewichtung im Rahmen der gesellschaftlichen Diskurse der letzten 40 Jahre vorzunehmen, dann überrascht es schon, wie ‚schwergewichtig‘ die Interventionen der Kunst und der Kunsttheoretiker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren, wie selbstbewusst und auch hellsichtig. Mit den aktuellen Diskussionen ist das kaum zu vergleichen. Man kann nur noch mit Be- und Verwunderung zurückblicken. Selbstverständlich ist Kunst – gerade auch zeitgenössische Kunst – viel zugänglicher als damals, aber auch viel bedeutungsloser und mit Verlaub gesagt: nichtssagender. Bei der nächsten documenta 14 in Kassel 2017 werden vielleicht 700.000 Besucher kommen, aber dieser gesteigerten Wahrnehmung entspricht keine gesteigerte gesellschaftliche Relevanz der Kunst. Es ist eben fast nur noch Event und nicht mehr die Inszenierung und das Erleben von Erkenntnis.

Was Kunst als Indikator gesellschaftlicher Prozesse bedeuten kann und könnte, wird dagegen im Buch von Brock überaus deutlich. Es bleiben zwei kleine kritische Einwände. Da ist zum einen das etwas kokett wirkende Spiel mit dem eigenen Tod im letzten Teil des Buches. Zwar hat das eine sehr, sehr lange Tradition, den Tod als Teil der eigenen Inszenierung zu begreifen, aber es bleibt doch etwas ambivalent. Und jede Wiederholung macht es fragwürdiger. Man hat immer das Gefühl, hier versuche jemand, seine Nachgeschichte unter Kontrolle zu bekommen. Das ist und bleibt hybrid.

Und schließlich lässt sich über weite Strecken des Buches der Eindruck nicht ganz vermeiden, dass das alles doch etwas sehr Zirkelhaftes hat. Wie in der mittelalterlichen Klosterkultur gibt es einige Herausgehobene, die sich immer und immer wieder in denselben Gruppen treffen und sich gegenseitig zitieren und bestätigen. Sloterdijk hin oder her. Etwas mehr gegenseitiger Dissenz wäre da schon angebracht gewesen. Auch bei Umberto Ecos „Der Name der Rose“ geht es schließlich beim Streit der Weltanschauungen nicht zimperlich zu. Streitkultur wäre auch im Zirkel der Kunstwissenschaftler gut. Sonst bleibt man irgendwie auf der Insel der Kunstseligen. Und ob das wirklich Spaß macht?

Trotz dieser kleinen Einschränkungen: Es ist ein gelungenes, inspirierendes Buch. Machen Sie es vielleicht wie der Heilige Hieronymus auf einem Bild von Marinus von Reymerswaele: Zünden Sie eine Kerze an, platzieren Sie einen Totenschädel auf Ihrem Schreibtisch, drehen Sie das Stundenglas um, legen Sie das Opus Summum von Bazon Brock vor sich auf ein Pult und beginnen Sie zu blättern und über „die Kunst und das Leben“ zu meditieren.

Anmerkungen

[1]    Bredekamp, Horst (1975): Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 763).

[2]    Warnke, Martin (Hg.) (1973): Bildersturm. Die Zerstörung des Kunstwerks. Frankfurt am Main: Syndikat (Syndikat-Reprise).

[3]    Brock, Bazon; Fohrbeck, Karla (Hg.) (1977): Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten. Köln: DuMont.

[4]    Ebd., S. 264-334.

[5]    Ebd., S. 317-334.

[6]    Brock, Bazon (1986): Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit. Die Gottsucherbande. Schriften 1978-1986. Unter Mitarbeit von Nicola von Velsen. Köln: DuMont.

[7]    Ebd., S. 176-187.

[8]    Brock, Bazon; Zika, Anna (2005): Der Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens; Kritik der Wahrheit; wie man wird, der man nicht ist. 3. Aufl. Köln: DuMont (Gesammelte Schriften 1991 - 2002).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/104/am565.htm
© Andreas Mertin, 2016