Black and White

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XLVII

Andreas Mertin


Als visuelle Effekte bzw. englisch visual effects (VFX) werden Effekte in Filmen bezeichnet, die in der Postproduktion erzeugt werden, heutzutage meist digital mit Computern – im Gegensatz zu Spezialeffekten (SFX), die am Set gedreht werden.


Alle Welt redet vom Postfaktischen – nur weil ein Politiker in den USA mit wilden Behauptungen jenseits aller Wahrheiten eine Wahl gewonnen hat. Dabei sind wir schon seit langem im Postfaktischen angekommen. Keine Digitalkamera, die nicht explizit in die Aufnahme eingreift, sie filtert, verschönt, reduziert oder verschlimmbessert. Kein Foto eines „Stars“ in den Medien, an dem nicht vorab Veränderungen vorgenommen wurden. Wer will schon ernsthaft ungeschminkt die Wahrheit sehen? Und auch im Filmbereich sind Low-Budget-Produktionen nur etwas für jene, denen die glatte Hollywoodproduktion bereits zum Halse heraushängt. Alle anderen aber goutieren gerade jene Arbeiten, die sich durch eine möglichst große Anzahl von visuellen Effekten auszeichnen, die sich also auf der Ebene des Postfaktischen abspielen.

Auch im Bereich der populären Musik-Video-Kultur ist bereits seit Jahrzehnten, ja eigentlich von Anfang an, der Spezialeffekt das ausschlaggebende Moment. Ein Meister darin war Michael Jackson, schon in Zeiten, als er noch zu den Jackson 5 gehörte. Das Video zu „Triumph – Can you feel it“ ist legendär für seine Morphing-Effekte. Und auch später – man denke nur an Ghost – hat Jackson diese Kultur immer gepflegt.

Eine gewisse Zeit dominierten jedoch jene Regisseure die Musikvideo-Szene, die mehr für das Überraschende, das Psychoanalytische in ihren Werken legendär waren (Chris Cunningham, Jonathan Glazer, Mark Romanek, Michel Gondry, Samuel Bayer). Heute sind es vor allem die Handwerker des VFX. Aber es gibt immer noch die Mischung aus beidem, dem visuellen Effekt und der rätselhaften Erzählung. Die Video-Regisseurin Martyna Iwańska gehört dazu.


Rysy – Father (2016 – 4:48)

Die polnische Band Rysy pflegt den Stil des Elektropop. Sie wurde 2015 als Duo mit den beiden Künstler Luke Stachurko und Wojtek Urbanski gegründet. Ihr Debüt-Album „Traveller“ erschien im September 2015. Jüngst hat die Band nun ein neues Musikvideo mit dem Titel „Father“ vorgelegt, das unter der Regie von Martyna Iwańska entstanden ist. Es ist ein Clip Noir, der bei der Regisseurin den Titel „Black no. 1“ trägt und als VideoArt gekennzeichnet ist.

Ganz am Anfang des Clips blicken wir auf die langsamen Bewegungen einer schwarzen Mamba, die – das wird erkennbar, wenn die Kamera allmählich zurückfährt – über den Körper eines schwarzgekleideten, unbeweglich auf dem Boden liegenden jungen Mannes schlängelt.

In der nächsten Szene sehen wir einen schwarzen jungen Mann, der sich später als Tänzer erweisen wird, und dessen eine Gesichtshälfte mit schwarzen Steinen besetzt ist. Er blickt die Betrachter frontal an.

In der dritten Szene sehen wir dem schwarzen Hintergrund eine schwarz gekleidete junge Frau vor einer antik wirkenden weißen Marmorbüste, der sie sich langsam nähert und ihr einen Kuss aufdrückt.

Es folgt ein Übergang, der der Haut eines älteren Menschen folgt. Dann sehen wir in der vierten Szene eine schwarz gekleidete junge schwangere Frau, die sich mit einer weißen Flüssigkeit – vermutlich Milch – in Zeitlupe die Hände wäscht.

Und schließlich sehen wir in der fünften Szene eine schwarz gekleidete alte Frau, die starr in die Kamera blickt, während diese langsam auf sie zufährt.

Die Bilder sind nun zum ElektroPop-Rhythmus des Liedes etwa 80 Sekunden gelaufen und nun könnte es darum gehen, die Szenen miteinander zu verbinden. Stattdessen setzt die Szenenfolge sich schlicht fort.


Die nächste Szene zeigt uns die alte Frau als imaginierte Tänzerin im Kopf des jungen Mannes, fast übergangslos blicken wir dann auf ein im Takt der Musik schlagendes schwarzes menschliches Herz, das – wie der weitere Verlauf zeigt – von schwarzen Mambas nur so umringt ist.

Dann sehen wir den schwarzen Tänzer in knappen tänzerischen Konvulsionen, bis die Kamera zurückschwenkt auf das schwarze Herz, das nun im Stil eines antiken Medusenhauptes mindestens neun züngelnde Schlangenköpfe hat.

Eine variierte Synthese der bisherigen Motive bildet die folgende Szene, in der der junge Mann, dessen Gesicht nun mit Schmucksteinen übersäht ist, eine schwarze Schlange um den Hals trägt.

Daran abschließend sehen wir die alte Frau im Spagat auf dem Boden sitzen.

In der Fortsetzung dieser Kaskade psychoanalytischer Bilder sehen wir dann die junge Frau in schwarzer Kleidung mit entblößter Brust sich auf einem Sockel räkeln. Es ist eine merkwürdig entrückte Szene, die entfernt an Berninis „Verzückung der Heiligen Theresa von Avila“ in Rom aus dem Jahr 1650 erinnert. Die Musik erinnert nun an das Pochen von Venen in Extremsituationen.

Über die Hälfte des Clips ist nun um und noch einmal tritt eine neue(?) Figur auf, ein Tänzer mit einem überdimensionierten schwarzen Blitz oder etwas Ähnlichem auf dem Kopf, das zumindest die Schwerpunktbildung des Körpers dramatisch verändert.

Erneuter Szenenwechsel – dieses Mal der junge Mann mit dem Straß im Gesicht als Dirigent eines Ensembles spärlich bekleideter Frauenkörper, die in engen Regalen klemmen (etwas erinnert das wiederum an Madonnas Performance in Human Nature).

Im nächsten Bild dirigiert der junge Mann mit bloßen Händen eine Gruppe von alten weiblichen Säulenfiguren (fast im Stil von Stefan Balkenhol), die aber nicht stillstehen, sondern ihre Hände und Arme bewegen.

Und noch ein neues Motiv in dieser rätselhaften Kaskade psychoanalytischer Bilder tritt auf: ein Fechter mit erhobenem Degen vor dem Helm.

Es ist, als ob dieser die symbolische Funktion des Weltenrichters einnähme, denn nun nähert sich alles rasend schnell dem Ende.

Nun ist es die alte Frau, deren Lippen sich von dem Mund der Marmorbüste lösen und wie in einer Geste eines endgültigen Abschieds über die Wangen des antiken versteinerten Jünglings streichen. Das scheint auf eine Verbindung / Identität der jungen und der alten Frau zu deuten.

Und auch der schwarze Tänzer taucht abschließend wieder auf, sein Gesicht ist nun zu dreiviertel mit schwarzen Steinen übersäht, während drei weiße Hände langsam und wie begehrend über seinen Körper fahren.


Und als vorletztes Bild sehen wir wieder den jungen, am Boden liegenden Mann mit der schwarzen Mamba, nur das dieses Mal eine weiße Flüssigkeit wie eine Blutlache sich von seinem Kopf über den Boden verteilt.


Das abschließende Bild (vor dem cineastischen Abspann) ist das medusenhafte schwarze Herz, das plötzlich aufhört zu schlagen, worauf die Medusenschlangen in sich zusammensinken.

ENDE – ABSPANN ...

In einem Interview hat sich die Regisseurin Martyna Iwańska zur Konzeption und zum Zustandekommen des Clips geäußert. Zum einen, dass der Dreh der Szenen zeitlich ziemlich limitiert war, nur einen Tag habe man für den Dreh vor Ort gehabt / gebraucht. Unendlich viel aufwendiger sei aber die Postproduktion gewesen, die Spezialeffekte, die in den Clip eingebaut worden seien.

Als Stärke und Schwäche zugleich sehe ich die assoziative Verknüpfung der einzelnen Szenen. Hier lastet die Regisseurin nahezu die gesamte Arbeit dem Betrachter auf. Ob diese Bilderfolge eine Story ergeben oder ob sie eventuell nur eine Kaskade von alp-traumartig verbundenen Einzelbildern ist, muss der Betrachter entscheiden. Während die Geschichten der klassischen Videoclip-Regisseure sich in aller Regel zu einer bestimmten, durchaus aber weiter ausdeutbaren Geschichte formten, ist das hier nicht so offensichtlich. Das muss man aber nicht notwendig kritisch sehen. Es gibt einige rahmende Elemente: der Titel „Vater“, den das Stück trägt, obwohl kein alter Mann, vielleicht aber der Vater eines Kindes vorkommt. Ein weiterer Rahmen ist die Farbe Schwarz, die zumindest im europäischen Kontext mit Trauer, Verlust, Schatten und Negativität verbunden ist. An einigen Stellen taucht als Gegenfarbe Weiß auf, die weiße Statue, die Milch, mit der sich die Schwangere wäscht. Das schwarze Herz, von dem ich vermutet hatte, es wäre zumindest literarisch häufiger vertreten, taucht in der Weltliteratur zumindest in Dostojewskis Der Idiot auf (den die Regisseurin als Lieblingsautor angibt):

„er hörte als sicher, Nastasja Filippowna wisse ganz genau, daß Ganja sie nur des Geldes wegen heiraten wolle; daß Ganja ein schwarzes, habgieriges, unverträgliches, neidisches und grenzenlos egoistisches Herz habe“. Und an anderer Stelle: „ Einmal war mir furchtbar schwarz ums Herz“.

Im „Diwan des Hafis“ (1315-1390) kommt folgende schöne Stelle vor:

Meinen Augenstern muss ich beloben,
Denn, besitzt er gleich ein schwarzes Herz,
Weint er doch, aus Mitleid, tausend Thränen:
Wenn ich rechne mit des Herzens Schmerz.

Und noch schöner:

Weil mir nur in Schenken
Wunscherfüllung lacht,
Hat mir Schul' und Kloster
Schwarz das Herz gemacht.

Würde man mich fragen, welchen narrativen Mythos die Regisseurin ihrem Video zugrunde gelegt hat, würde ich auf Verse aus dem Schöpfungsmythos des finnischen Nationalepos Kalevala tippen, auf das ich im Zuge der Recherche gestoßen bin. Das zweifach vorkommende Syöjätär scheint dabei eine Art alte Hexe zu sein.

Diese Rede hört der Schöpfer,
Läßt sich solcherart vernehmen:
Schlechtes kommt nur von dem Schlechten,
Böses von der Bösen Auswurf,
Wenn ich ihm das Leben gäbe,
Wenn ich Augen ihm verliehe.

Diese Worte hörte Hiisi,
Der zu böser Tat Bereite,
Machte selber sich zum Schöpfer,
Hiisi gab dem Speichel Leben,
Diesem Geifer einer Garst'gen,
Den Syöjätär ausgeworfen;

Daraus wurde eine Schlange,
Wurde eine schwarze Natter.

Woher kam ihr wohl das Leben?
 Aus dem Kohlenhaufen Hiisis.
 Woraus ward das Herz geschaffen?
 Aus dem Herzen der Syöjätär.
 Woher kam das Hirn der Schlechten?
 Aus dem Schaum des heft'gen Stromes.
 Woher kam der Sinn dem Untier?
 Aus dem Gischt des Wasserfalles.
 Woher kam der Kopf der Schlimmen?
 Aus dem Samen einer Bohne.

Ansonsten ist die klassische Psychoanalyse wohl das beste Hilfsmittel, um der Motivik des Clips nachzuspüren. Die schwarze Schlange, die junge und die alte Frau in ihrer Liebe zur weißen Statue, das Herz, die Milch, der Jüngling als Statue (also der umgekehrte Pygmalion-Mythos), das Begehren und Verwehren, das Entstehen und Vergehen, das Neue und das Alte, die Sehnsucht und der Hass – all das schreit förmlich nach psychoanalytischer Deutung. Das soll an dieser Stelle den Leserinnen und Lesern überlassen bleiben. Ich wende mich einem weiteren Musikvideo von Martyna Iwańska zu:


Rebeka – Unconscious (2014 – 4:57)

Auch dieses Video von Martyna Iwańska ist eine Metapher, aber sehr viel narrativer als der gerade vorgestellte Clip. Aber auch dieser Clip bleibt letztlich überaus rätselhaft. Die polnische Band Rebeka kommt ebenfalls aus dem Bereich der Elektronik-Musik, nur dass der Gesang und der Text hier eine größere Rolle spielen. [Für einen kurzen Augenblick dachte ich, dass der eben vorgestellte Videoclip zu Father von Rysy noch viel besser zu dieser Lyrik passen würde.]

Die Lyrik erzählt vom Verlassen eines Menschen, von der Unerfahrenheit gegenüber dem Trennungsprozess: I left you / Unconscious / Not ready / Not ready / Unversed in / In leaving / Left handed / Still breathing ... Diese Zeilen werden aber von einer Sängerin gesungen. Und sie fährt fort: The hunger / The leaving / My heart is still bleeding / I need your Forgiveness / Unpolished / Unmeasured

Der Clip erzählt eine Beziehungsgeschichte, aber dem Betrachter wird es nicht gerade einfach gemacht, diese zu verstehen. Ein Mann stellt in einer Loft Blumen in eine Vase und geht dann zu einer Futonliege, wo sich seine Freundin befindet. Die Musik setzt ein und wir sehen in einem Schnelldurchlauf die Bewegungen der beiden während ihres Schlafes (in der vergangenen Nacht?), ein somnambuler Pas des deux. Nach einem Schnitt sehen wir, wie der nun angekleidete Mann seine noch schlafende Freundin hochhebt und durch die Wohnung ins Bad trägt und dort in eine Badewanne mit Milch setzt und sie dann untertaucht. Spätestens mit der nächsten Szene stürzt das ganze ins Groteske ab: die Frau erweist sich als bewusstlos / besinnungslos / vollständig passiv. Der folgende Schnitt zeigt das Paar auf dem Sofa sitzend, während die Band vor ihnen spielt. Während der junge Mann auf den Rhythmus der Musik reagiert, ist seine Begleiterin völlig unbeteiligt in sich zusammengesunken. Wiederum ein Schnitt, wir sehen die junge Frau nun auf einem Sessel kauernd, während lauter Bekannte / Freunde vorbeikommen und Geschenke mitbringen und vor ihr und auf ihr ablegen. Der letzte bringt einen Strauß weißer Lilien und vergräbt seinen Kopf darin. Der folgende Schnitt zeigt die Freundesschar, die der jungen Frau (deren Position nun von der Kamera eingenommen ist), eine Torte mit brennenden Kerzen überreichen. Das wirkt aber fasst eher bedrohlich als freundlich.

Es folgt eine Szene, in der der Mann mit der Frau tanzt. Er macht dies vor einer Wand, an der nur ein Bild hängt. Es zeigt einen jungen Mann, der die Hände vor seinem Gesicht zusammenschlägt – nur dass das Gesicht weder Haut noch Sinnesorgane zeigt. Es ist das blanke Entsetzen.

Der Tanz erweist sich nach und nach als überaus bizarre Szene: zunächst könnte man an einen Moment der Intimität denken, aber dann spürt man, dass die Frau nur wie eine Puppe geführt wird und die Emotionalität des Mannes doch nur um sich und seinen Verlust dreht. Als die Kamera langsam nach unten schwenkt sieht man, dass die Frau keinen Bodenkontakt hat, sondern durch die Luft getragen wird. Sie hat keine Schuhe an, ihre Füße sind nackt, während der Mann derbe Stiefel trägt. So bekommt die Szenerie einen Gestus der Gewalt und der elementaren Fremdbestimmung.

Es folgt eine Szene eines Bandauftritts mit tanzenden Veranstaltungsbesuchern – nur dass wieder die junge Frau unbeteiligt unter den Besuchern sitzt. Surreal fliegt plötzlich ein Pferdekopf durch die Szene, weiße Lilien werden heftig gegeneinander geschwenkt.

Aus dem Hintergrund löst sich eine andere junge Frau (die Sängerin der Band) und kommt in den Vordergrund. Als sie nahe genug herangekommen ist, löst sich die junge Schläferin etwas aus ihrer Erstarrung und greift nach der Hand der Frau, die nun die junge Frau intensiv anblickt. ENDE des Clips.

Die Deutung des Videos hängt davon ab, ob man es insgesamt als Metapher versteht über die Beziehung zweier Menschen oder ob man davon ausgeht, dass es sich um eine konkrete Story einer erkrankten jungen Frau handelt, die akut unter Somnolenz oder Sopor leidet und von ihrem Freundeskreis mit Sinnesreizen versorgt wird. Auch letzteres wäre ja eine mögliche Lesart des Geschehens.

Wahrscheinlicher ist aber die andere Lesart. Der Liedtext lässt sich konkret als die innere Emigration einer Frau aus einer noch bestehenden Beziehung lesen: I left you unconscious ... Unversed in leaving ... Still breathing ... Es ist sozusagen die Somnolenz einer Beziehung, die Trennung ist nicht aktiv vollzogen (I left you unconscious - Unversed in leaving). Noch atmet man / frau, aber man ist innerlich schon weit weg.

Das allein erklärt aber nicht die latente / fürsorgliche Gewalt, die in den Bildern des Clips zum Ausdruck kommt. Sie ist aber überaus ambivalent gestaltet, jede Geste, die man als Gewalt deuten könnte, wäre auch gegenteilig zu interpretieren.

Das ist vielleicht die Stärke der Videos von Martyna Iwańska, dass sie sich den Ambivalenzen so voll ausliefert, keine Lösung bietet, sondern nur (Lebens-)Pfade, die beschritten werden könnten und die deutungsabhängig sind.


White no. 1 – Video Art [2015 – 6:25]

Abschließend sei noch auf eine künstlerische Videoarbeit von Martyna Iwańska hingewiesen. Im Video „Passion White“ zitieren die Darsteller eine Sentenz aus einem berühmten Gedicht von T.S. Eliot, “The Hollow Men / Die hohlen Männer”:


"shape without form, shade without colour,
paralysed force, gesture without motion..."

„Gestalt formlos, Schatten farblos,
Gelähmte Kraft, reglose Geste“

Elliots Gedicht aus dem Jahr 1925 ist ein Gedicht über die Moderne und die zunehmende Perspektivlosigkeit. Der Schlusssatz „Auf diese Art geht die Welt zugrund - Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“ wurde zu einem häufig zitierten Fazit.

Die im Kunstvideo deklamierten Zeilen von T.S. Eliot rekurrieren implizit auf Dantes Göttliche Komödie und zwar auf einige Verse im Dritten Gesang des Inferno, in dem der Dichter die Vorhölle schildert. Diese ist ein Ort für die lauen Seelen, die im Leben weder gut noch böse waren. Sie laufen rastlos in Scharen umher und werden von Ungeziefer gepeinigt.

Solch' jammervolle Weise
Verführen die unwürd'gen Geister deren,
Die ohne Lob gelebt und ohne Schande. ....
Die, ohne gegen Gott sich zu empören,
Ihm treu nicht, sondern unparteiisch waren.
Der Himmel Schönheit hätten sie getrübt,
Auch nimmt die tiefre Hölle sie nicht auf ...

Diese Seelen gehören jenen, die im Leben nicht kenntlich und schon dort bloße Schatten ihrer selbst waren. Sie verdienen weder den Himmel noch die Hölle. Ihre Gestalt war schon immer formlos, ihr Schatten schon immer farblos, ihre Kraft gelähmt, ihre Geste reglos.

Martyna Iwańska interessiert sich nun für den formalen Charakter des so beschriebenen Zustands der Austerität, der eelementaren Zurückhaltung von allem. Wie kann man das denken, darstellen, wahrnehmen? Die Künstlerin schreibt selbst zu den Intentionen ihres Videos:

“Passion White” strives to achieve austerity, simplification of form and mathematical precision. It is an attempt at finding out if it is possible to create realistic tension in a sterile, minimalistic space resembling a white canvas. Each frame represents separate micro world, which carries primary, raw emotions. Unhurried pictures and perverse repetition of sounds are set out to engage the viewer in a specific, dreamy state of hypnosis.

Im Prinzip geht es also um Grundsätze, die schon die Künstlergruppe ZERO vor 60 Jahren umtrieben: Zero ist die Stille – Zero ist der Anfang – Zero ist weiss – Zero ist Zero. Wenn einem die Welt zu bunt, zu gestisch, zu aktionistisch wird, dann hilft nur die radikale Reduktion, der Rückzug auf elementare Grundformen. Das beobachten wir auch bei diesem Video.

Wir sehen also vor allem auf eine gleißend weiße Wand, vor der nahezu weiß gehaltene Figuren und Elemente agieren – bis dahin, dass einige Details nahezu vollständig im Weiß-in-Weiß zu verschwinden drohen. Anfangs erblicken wir zwei Frauen, zwischen denen ein schwarzes Rechteck und ein schwarzes Dreieck aufragen, diese Gruppe erweitert sich später in Zahl und Formen, so dass auch vier Frauen vor einem Ensemble von weiß-grauen Rechtecken platziert werden. Ein weiteres Sinnbild ist eine Frau, deren Haare so vor ihrem Gesicht zu Zöpfen verknüpft sind, dass sie nichts mehr sehen und erkennen kann, so dass sie das vor ihr liegende Braille-Buch nur sehr vorsichtig ertasten kann, wobei ihre Hände über die Hälfte in einen schwarzen Farblack getaucht sind.

Durchbrochen wird diese Szenenfolge durch eine quasi invertierte Bilderreihe, in der vor schwarzem Hintergrund Menschen von oben nach unten ins Bodenlose fallen (aber nicht in irgendeiner Art aufgefangen werden: „Auf diese Art geht die Welt zugrund - Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer“).

Es folgt eine Frau, die – den Betrachter unmittelbar anblickend – die Anfangszüge des weltweit verbreiteten Fadenspiels zieht. Daraus entwickelt sich ein Bild, in dem vier weiß gekleidete und weiß-behaarte Frauen langsam Schritt-für-Schritt durch ein Fadenlabyrinth laufen. Abgeschlossen wird die Szenenfolge von einer Art Remix der Pillen-Szene aus dem Kinofilm Matrix. Wir sehen zwei Frauen, eine sitzend, eine stehend, und eine weiß-gefärbte Ficus benjamina. Die stehende gibt der sitzenden Frau eine dunkle Tablette, woraufhin diese in sich zusammensinkt.

ENDE – ABSPANN ...

Auch hier bleibt es dem Betrachter überlassen, aus der Vielzahl der Deutungsmöglichkeiten die für ihn plausible und nachvollziehbare herauszufinden. Und auch in diesem Falle hilft einem vermutlich ein psychoanalytischer Zugang am besten, um dem Clip auf die Spur zu kommen. Es geht um Beziehungsdramatik, um Existentielles, um das aus dem Rahmen Fallen und um die Verstrickungen, in die man geraten kann. Es geht um die Herausforderungen, denen man sich stellen muss. Oder um zum Abschluss noch einmal aus dem finnischen Nationalepos Kalevala zu zitieren:

Klüglich antwortet das Mädchen,
Redet Worte solcher Weise:
Möchte dann für einen Helden,
Dann für einen Mann dich achten,
Wenn du mir ein Haar gespalten
Mit dem Messer ohne Spitze,
Wenn ein Ei du eingeknotet,
Ohne daß die Schling' zu merken.


[Alle Bilder dieses Artikels sind Screenshots der vorgestellten Videoclips bzw. Kurzfilme.]

Martyna Iwańska

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/104/am561.htm
© Andreas Mertin, 2016