Vita brevis ars longa

Zum 75. Geburtstag von Hans-Jürgen Benedict

Christoph Störmer

Es begann 1968.

Die erste Begegnung mit Hans-Jürgen Benedict war einseitig, sie fand für mich über das geschriebene Wort statt. Die Studentenbewegung, der Vietnamkrieg und die amerikanische Bürgerrechtsbewegung waren gegen Ende meiner Schulzeit auch in der Evangelischen Schülerarbeit Schleswig-Holsteins angekommen. So kam es, dass zu Weihnachten 68 – ich war im Abiturjahrgang – das Buch „Kirchen als Träger der Revolution“, herausgegeben von Hans-Jürgen Benedict und Hans-Eckehard Bahr aus Bochum, zu mir fand. Jahrzehnte später blättere ich in dem Buch und lese die Zeilen Benedicts, die ich damals fett unterstrichen hatte:

„Nicht dadurch wird Christus vertreten, daß er erwähnt wird, sondern so, daß sein konkreter politischer Einsatz für den Frieden fortgesetzt wird.“ Am Schluss seines engagierten Plädoyers für gewaltfreie Veränderungen – das Buch erschien ein paar Wochen vor der Ermordung Martin Luther Kings! – resümiert der Autor:

„Die Revolution ist nötig, das ist auch das Fazit von Kings Analyse. Aber sie ist nur möglich, so sagt er zum Schluss seiner Rede, wenn das ‚Prinzip der Liebe’ hinzukommt. Nur dann, wenn der Standpunkt des Gegners einbezogen wird, wenn die revolutionären Handlungen so dosiert werden, daß er nicht panisch reagieren muß – nur dann können die verhärteten Verhältnisse ohne die Gefahr einer Katastrophe aufgebrochen werden. Am Ende darf nicht der Sieg stehen, sondern nur die Versöhnung.“

Ein Jahrzehnt später, irgendwann 1977/78.

Ich war nach dem 1. Theologischen Examen von Kiel nach Hamburg gewechselt, um dort mein Studium der Erziehungswissenschaften abzuschließen. Da stieß ich im Vorlesungsverzeichnis der Theologischen Fakultät auf den Namen Hans-Jürgen Benedict, der gerade eine Vertretungsprofessur wahrnahm. Ich sah einen smarten, dynamischen jungen Mann, über der Schulter trug er ein schmales Ledertäschchen, seine üppigen Haarlocken erinnerten mich von ferne an Bob Dylan. Der ersten Begegnung im Hörsaal folgten viele weitere in Räumen des „Rauhen Hauses“ im Stadtteil Horn – übrigens einer späteren Wirkungsstätte von Benedict. Hier traf sich regelmäßig die Gruppe mit dem sperrigen Namen „Hamburger Initiative Kirchliche Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion“, kurz „HIKMuGA“ genannt, die er mitgegründet hatte. Zielscheibe der dort geplanten Aktionen waren die Hamburger Elektrizitätswerke (HEW) wegen deren Beteiligung am Bau des Atomkraftwerks in Brokdorf. Für Hans-Jürgen Benedict wurde dies zum Praxistest – zu einer Nagelprobe darauf, ob die Prinzipien der Gewaltfreiheit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung übertragbar sein würden. Es galt, im eskalierenden Konflikt um den Bau von AKWs „revolutionäre Handlungen“ so zu dosieren, dass sie geeignet sein würden, „verhärtete Verhältnisse aufzubrechen“. Ein Mittel der Wahl wurde dabei der „Stromzahlungsboykott“: Immerhin ein paar Tausend Hamburger Haushalte schlossen sich dieser Form des Protestes an und bekundeten die eigene Entschlossenheit, keinen Atomstrom beziehen zu wollen, indem sie 10 % der monatlichen Stromkosten nicht an das städtische Unternehmen, sondern auf ein Treuhandkonto überwiesen – Teil einer Nadelstichtaktik, um die Verantwortlichen zum Ausstieg aus Brokdorf zu bewegen. Doch nicht die Hansestadt wurde in die Knie gezwungen, sondern eher die Teilnehmenden, die es mit juristischen Auseinandersetzungen bis zum Abschalten des Stroms zu tun bekamen. Und doch wurde in der Öffentlichkeit sichtbar: Es gibt einen dritten Weg zwischen Gewalt und Resignation. Man kann mit offenem Visier zivilen Ungehorsam praktizieren und widerstehen, wenn man bereit ist, für seine Überzeugung auch Nachteile in Kauf zu nehmen.

Das Jahr 1980 markiert einen wichtigen Übergang:

Hans-Jürgen Benedict wurde vom Gast zum Rückkehrer in seine Heimatstadt. Zugleich wechselte er den Arbeitsplatz von der Uni in ein Praxisfeld, das passender nicht sein konnte. Nun galt es, „Kirche als Trägerin der Revolution“ in einer evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde zu gestalten, deren Name zugleich Programm und Marke war: Martin Luther King (MLK).

Bei seiner Amtseinführung im Erntedank-Gottesdienst 1980 offenbarte sich Benedict als der, der er zeitlebens auch war und ist: als Dichter und Poet. Er inszenierte das Kinderbuch „Frederick“ von Leo Lionni und spielte sich damit in die Herzen von Groß und Klein. Manche in der Gemeinde nannten ihn fortan „Freddy“. Als Träumer und Geschichtenerzähler übersetzte er die Bergpredigt in neue Kontexte. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Nicht irdische Vorräte gilt es zu sammeln, sondern Geschichten, Farben, Klänge, Gerüche – all das, was die Seele ernährt in dunklen und kalten Zeiten. Heute sprechen wir von Resilienz.

Es sollte 31 Jahre dauern, bis Benedict dies Konzept mit der Publikation des Buches „Was Gott den Dichtern verdankt“ auf einen schönen Begriff brachte. Vita brevis ars longa – ja, Hans-Jürgen Benedict hat Anteil am „ewigen Brunnen“, er schöpft reichlich aus den schönen Künsten, aus zahllosen literarischen und musikalischen Quellen. Und teilt ebenso reichlich und freigiebig und gerne seine Schätze aus Literatur und Musik mit anderen.

Als Gemeindepastor wurde Benedict für sieben Jahre mein geschätzter Kollege im Team-Pfarramt in Steilshoop, einem Hamburger Neubau-Stadtteil, der zu den sozialen Brennpunkten der Hansestadt zählte. Hier konnte Benedict seine Träume mit dem Traum Martin Luther Kings verbinden und ihm viele Farben und Gesichter geben. Chilenische Flüchtlinge bereicherten mit ihrer Musik das multikulturelle Zusammenleben in Kirche und Stadtteil, Kinderbibelwochen und Kriegsspielzeugtausch-Aktionen im Einkaufszentrum mobilisierten die Jüngsten zu einem friedvollen Zusammenspiel, „Menschenteppiche“ vor dem HEW-Verwaltungsgebäude wurden zu Übungen gewaltfreier Aktion ebenso wie unsere Teilnahme an Blockade-Aktionen in Brokdorf und Kellinghusen, wo damals taktische Atomwaffen gelagert werden sollten. Immer waren Teile der Kirchengemeinde einbezogen. Öfters saßen wir zwischen den Fronten der Polizei und gewaltbereiter Demonstranten, manchmal wurden wir mit Wasserwerfern nassgespritzt und zur erkennungsdienstlichen Behandlung festgenommen. Das führte auch zu sehr kontroversen Diskussionen im Kirchenvorstand und mit pröpstlichen und bischöflichen Vorgesetzten. Damals erklärte sich nicht nur die MLK-Kirchengemeinde symbolisch zur „atomwaffenfreien Zone“.

Die gemeinsamen Steilshooper Jahre begründeten und festigten unsere Freundschaft – vertieft wurde sie durch familiäre Bande: meine Tochter wurde von „Bene“, wie ihn manche liebevoll nennen, getauft (und als ihr Taufpastor und Pate gestaltet er nun Ende Juli 2016 ihre kirchliche Hochzeit). Umgekehrt war auch ich der Amtshandelnde bei ihm und bin Pate bei einem seiner Söhne. Sportlich grätschten wir einander – ob dieser besonderen Konfrontation oft von Gelächter begleitet - in diesen Jahren allwöchentlich in die Parade: Der Samstagvormittag war ein fester Termin zum Fußballspielen im Stadtpark. Auch in den 15 Jahren nach Steilshoop, als ich als Gemeindepastor an der Kieler Förde lebte und noch einmal intensiv in den letzten 14 Jahren, als ich Hauptpastor an der Petrikirche war, blieben wir einander Weggefährten, auch in unserer ganz persönlichen Vita. 

Bevor diese kleine Hommage auf den Freund sich ins allzu Private verliert: In den 80er Jahren kam der für Hans-Jürgen Benedict wohl wichtigste und meistzitierte Bruder im Geiste nach Hamburg zurück: Heinrich Heine, von den Nazis verbannt und bücherverbrannt, erstand als Standbild neu. Seit 1982 befindet sich zwischen Rathaus und Petrikirche eine Bronzefigur.

Es ist eine schöne Koinzidenz, dass wir auch diesen „Neubürger“ mit einem besonderen Jahrestag feiern können: Heinrich Heine kam als junger Mann 1816, also vor 200 Jahren, ins Bankhaus seines wohlhabenden Onkels nach Hamburg. Salomon nahm sich des Neffen an. Bis zu seinem eigenen Tod im Jahr 1844 unterstützte er ihn finanziell, obwohl er wenig Verständnis für dessen literarische Interessen hatte. Überliefert ist Salomons Ausspruch: „Hätt’ er gelernt was Rechtes, müsst er nicht schreiben Bücher.“

Dieser Ausspruch könnte als Selbstaussage auch aus dem Mund unseres in dieser Festschrift Geehrten stammen. Mal humorvoll-ironisch, manchmal auch mit einem Anflug von Verzweiflung, nimmt sich Benedict gelegentlich selbst auf die Schippe.  Schreibend hält er sich über Wasser – wenn auch nicht im ökonomischen Sinn. Zur Selbstvergewisserung, aber auch in Momenten des Selbstzweifels, greift unser Poet und Dichter „Bene“ zur Feder bzw. in die Tastatur und rettet sich mithilfe der schönen Künste und bringt dabei immer wieder sich und andere zum Lachen – frei nach dem Motto: Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe.

Wenn ich mir den Heinrich Heine vorm Hamburger Rathaus anschaue und die Gestalt umwandere: seine Körperhaltung ist der von Hans-Jürgen Benedict nicht unähnlich. Sie hat etwas Nachdenkliches, Zögerndes, Grübelndes, Versonnenes, In-sich-Gekehrtes. Die alte augustinisch-lutherische Formel vom „homo incurvatus in se“, die Rede vom in sich selbst verkrümmten Menschen, kann einem in den Sinn kommen. Aber auch die politische Sentenz von Heine fällt mir ein bei der Betrachtung des Dichters:

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht.“

Was bringt ihn, Hans-Jürgen, alles um den Schlaf? Nicht nur Deutschland und all die politischen und sozialen Konflikte, die er Zeit seines Lebens als Theologe und Pastor, als Sozialwissenschaftler und Hochschullehrer, kritisch begleitet hat, nicht in der Distanz teilnehmender Beobachtung, sondern sich leidenschaftlich einmischend und auch querstellend, wohl wissend, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt ist (I. Kant), aber dennoch berufen zum aufrechten Gang (E. Bloch). Ungelöst bleiben so viele Probleme, nicht nur die der Endlagerung von Atommüll. Ungelöstes gibt es auch in privaten Kontexten. Paul McCartneys „Hope of Deliverance from the Darkness that surrounds us“ ist die Sehnsucht, die ihm den Schlaf raubt und umtreibt.

Eines scheint empirische Wahrheit zu sein: Vorläufige Erlösung findet Benedict immer wieder in der Literatur und bei Theater-, Konzert- und Kinobesuchen. Dort, auf den Bühnen und in den Traumwerkstätten des Kulturbetriebes, kann er mal erschöpft, mal beseelt in den Schlaf fallen.

Vor knapp 10 Jahren veröffentlichte HJB im „Theomag“ einen Aufsatz unter dem Titel „Sonnen­aufgang und Versöhnung“ (2007). In diesem Artikel beschreibt er, kurz nach Eintritt in den Ruhestand, ein eigenes Lebensthema, festgemacht an der unerwarteten Begegnung mit Sequenzen eines Films aus den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die Schwarzweiß-Szenen des Streifens konfrontieren den Protagonisten mit unerledigten Geschichten und biographischen Wunden. Und er fragt sich: „Die Welt kann sich doch erneuern, wenn du dich versöhnst. Warum ist es nur in der Kunst möglich?“ Den Film meditierend – später stellt sich heraus, dass es sich um „Sunrise“ von Murnau handelt -, heißt es weiter in dem Theomag-Beitrag: „Muss man in die Kirche gehen um sich zu versöhnen? Muss man die alten Worte hören? Wo sind die Kirchenglocken, die des Gewissens und die des Rituals? Muss man zu der alten Form des Gebets greifen: Herr, wir sind elend, wir wissen nicht weiter, warum ist es so gekommen, hilf uns doch in unsrer Hilflosigkeit. Wir haben uns entfremdet. Die Liebe ist verschwunden. Wir leben nebeneinander her. Keiner kann dem andern verzeihen. Alles regt uns auf am andern. Wir wissen nicht, ob du uns helfen kannst. Aber wir rufen zu dir, aus der Tiefe unseres Unglücks rufen wir zu dir.“

Das „De Profundis“ aus Psalm 130 klingt an. Hier wird deutlich, wie sehr die Kunst, ob cineastisch, literarisch oder musikalisch, für unseren Geburtstagsjubilar letztendlich zur Anrufung wird und eine Brücke schlägt zu Theologie und persönlicher Frömmigkeit.

Hans-Jürgen Benedict wird 75 und wirkt jünger und keineswegs so gebrechlich wie einst Laotse, zumindest aus Brecht’scher Perspektive in der „Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Wege des Laotse in die Emigration“. Vom Zöllner an der Grenze festgehalten mit der Frage, was er denn rausbekommen habe in seinem Leben, gibt der Philosoph zu Protokoll:

„Dass das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst: Das Harte unterliegt.“

Dass er sich in dieser Erkenntnisspur des Laotse noch viele Jahre bewegen möge, ist mein Geburtstagswunsch für unseren Jubilar. Und dass er, anders als Laotse, nicht emigrieren möge, auf welche Weise auch immer, selbst wenn Laotses Motiv zur Auswanderung auch heute virulent sein mag: „Die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich / und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“.

Also, lass uns der Güte im Lande aufhelfen und uns dem „weichen Wasser“ anvertrauen, es selber werden! Dazu will ich Hans-Jürgen Benedict ein Lied mit auf den Weg geben. Vor wenigen Tagen brachte er es zu mir – mit dem neuen Album „Fallen Angels“ des ebenfalls 75jährigen Jubilars Bob Dylan. Auch wenn wir „gefallene Engel“ sind, so hat doch Gültigkeit und Perspektive, was im ersten Titel „Young at heart“ so klingt: 

Fairy tales can come true
It can happen to you if you're young at heart
For it's hard, you will find
To be narrow of mind if you're young at heart.

You can go to extremes with impossible schemes
You can laugh when your dreams fall apart at the seams
And life gets more exciting with each passing day
And love is either in your heart or on it's way.

Das ist mein Refrain, mit dem ich schließe:

Love is either in your heart or on it's way.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/chst01.htm
© Christoph Störmer, 2016