Ars bene moriendi

Assoziationen von Marilyn Monroe beim Gang durch die Ausstellungen in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen - „Der gute Weg zum Himmel“ und „American Pop Art“ sowie Jean Tinguelys „Mengele-Totentanz“ in der Ausstellung „Tinguely - Super Meta Maxi“ im Museum Kunstpalast, Düsseldorf.

Barbara Wucherer-Staar

Für den gläubigen Christen des Mittelalters war es von existenzieller Bedeutung und tief in seinem Bewusstsein verankert, dass das Ziel des Lebens ein guter Hinübergang ins Jenseits war. Reue und Vergebung der Sünden waren die Voraussetzung für den Weg ins himmlische Paradies. Darum war es wichtig, gut darauf vorbereitet zu sein. Der "helfende" und für dieses Anliegen „zuständige“ Heilige war Christophorus. Ihn anzublicken, bewahrte an diesem Tag den Gläubigen davor, einen unvorbereiteten Tod zu sterben. Zeugnis dafür sind die - nicht übersehbaren - überlebensgroßen Darstellungen des Heiligen im Eingangsbereich vieler Kirchen.

Diese Gedankenwelt ist dem modernen Menschen fremd geworden. An was denken heutige Zeitgenossen, wenn sie die beeindruckenden Zeugnisse mittelalterlicher Frömmigkeit sehen? Was würde eine Berühmtheit wie Marylin Monroe (1926-1962) empfinden, deren eigenes Todes-Schicksal im Mittelalter Furcht und Schrecken verbreitet hätte?

Den sündigen Menschen des Mittelalters waren die eindrucksvollen Bilder an Kirchenwänden und Altären so vertraut, dass sie sie auch in der Stunde ihres Todes vor Augen hatten. Sterbeszenen, Ermahnungen für ein gutes Leben und die Qualen der Hölle wurden eindringlich geschildert und oft mit Spruchbändern ergänzt. Die Leute konnten nicht lesen und schreiben, verstanden jedoch die einfache Bildsprache.

Marilyn beginnt ihren Rundgang in der Ludwiggalerie. Sie ist beeindruckt von dem Hauptstück der Einraum-Schau, der wenig bekannten „Ars bene Moriendi“ des Sinziger Meister des Kalvarienberges (um 1457, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen), deren Szenario erstmals decodiert wurde. Es finden sich Motive eines „guten Sterbens“ eines Bettlägerigen und der Interzessionsdarstellung (Maria und Christus bitten für die Menschen) im Vordergrund. Hinter dem gekreuzigten Christus breitet sich eine weite Landschaft aus, an deren Horizont eine Stadt einen Ausblick auf das „Heilige Jerusalem“ zeigen könnte.[1]

Der „schöne Tod“ kündigte sich an - sie sieht es in Gregoire Guérards? „Der Tod Mariens“ (Burgund und Frankreich, um 1520, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen). Der Sterbende fühlte, wenn seine Zeit gekommen war und fügte sich ins Unvermeidliche. Es blieb ihm noch Zeit, seine Dinge zu regeln und Abschied zu nehmen. Nach Schilderungen des Jacobus de Voragine in der „Legenda Aurea“ des 13. Jahrhunderts versammelten sich am Totenbett der bekleideten Maria die in aller Welt verstreuten Apostel. Es wird angenommen, dass Christus, der die Seele Marias in Empfang nimmt, in einer Wolkenfigur über den Aposteln dargestellt war.

An Bilder des Hieronymus Bosch erinnert sie die „Errettung der armen Seelen aus dem Fegefeuer“ (1425, Köln, Meister des Palanter Altars, Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen). Wo jedoch in Boschs geheimnisvollen, furchterregenden Bildern kein Ausblick auf Erlösung scheint, finden sich in der Kölner Tafel einerseits eine Allegorie auf den direkten Weg zum Himmel und den guten Lebensweg des Menschen, andererseits der Weg zur Hölle, aber auch eine mögliche Errettung daraus.

Der Mensch musste sich zu Lebzeiten um ein gutes Sterben bemühen. Um das Unheimliche, Unerklärliche zu bannen, dafür gab es Sterbebüchlein, deren Motive von der Malerei adaptiert wurden. In den unsicheren Zeiten der Pestwellen seit Anfang des 15. Jahrhunderts dienten diese Traktate - wie das ars moriendi Blockbuch „Die Stunde des Todes“ (um 1475, Mainz, Gutenberg Museum) dazu, so Kuratorin Dagmar Preising, „den Menschen jederzeit „Ecce me domine – da bin ich, Herr, ich bin bereit zu sterben“ sagen zu können, um die göttliche Gnade zu empfangen.“ Der Bedarf an Bildern für Laien, die nicht lesen und nicht schreiben konnten, ist als Zeichnung in Handschriften, als Kupferstich, Holzschnitt in Blockbüchern oder als Einblattdruck, aber auch als Metallschnitt in Inkunabeln überliefert. In ursprünglich 24 Blättern wurde der Gläubige zum richtigen und guten Sterben angeleitet. In fünf Bilderpaaren (je eine Seite Bild, eine Seite entsprechender Text) werden die Versuchungen der Teufel den Ermahnungen der Engel gegenüber gestellt.“ Dazu zählen die Themen: Unglauben / Glaubensstärke, Verzweiflung über sündiges Leben / Hoffnung auf Vergebung, Sorge um Vergängliches / Absage vom Weltlichen. „Stets liegt ein Kranker im Bett und wird von himmlischen ( … ) Wesen und Dämonen umgeben, die sich um seine Seele bemühen. … Schlussbild ist die eigentliche Sterbeszene: ein Engel empfängt die Seele des Toten, Heilige umstehen das Kreuz Christi, die Teufel fliehen.“[2]

Marilyn in ihrer Zeit - memento mori und Kunst für jedermann

Marilyn - als Ikone und „Marke“ selbst ein Teil des american way of life, wie ihn die amerikanische Pop Art widerspiegelt - geht in der Ludwiggalerie vom Mittelalter in die 1960er / 70er Jahre. Hier finden sich auf drei Etagen „Meisterwerke massenhaft“ aus der Sammlung Heinz Beck (heute im Museum Ludwigshafen), wie sie in der Sammlung Peter und Irene Ludwig in Köln als Originalgemälde zu sehen sind. Was inzwischen auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt wird, wurde ursprünglich als demokratische, für alle erschwingliche Ware fabriziert - als „ars multiple“ in hoher Auflage in einfachen, preiswerten Verfahren, zum Beispiel Siebdruck und Collage. Einfache Alltagsgegenstände wurden Kunst, Original und Geniekult wurden zur Diskussion gestellt, etwa in der legendären „Factory“, dem Atelier des Pop Art Mitbegründers Andy Warhol (1928-1987). An wechselnden Orten eingerichtet wurde es zum Treffpunkt der New Yorker Szene, seiner „Superstars“ und Drehort der Filme.[3]

Marilyn entdeckt Variationen der „Campbells Soup Cans“ (1962) von Andy Warhol. Eine einfache, preiswerte Dosensuppe, die auf einer französischen Gourmetmesse zwar um 1900 ausgezeichnet, berühmt aber erst durch Warhols Abbildungen wurde. Sie wünscht, sich in Richard Estes aufgeräumte „Cafeteria“ (1970) zu setzen, schmunzelt über das Pin-up Girl hinter Zigaretten und „Coke“ von Mel Ramos. Der Nagellack auf dem Bild „Foot“ (1968) von Tom Wesselmann ist ihr zu knallig.

Die heile, dekorative Konsumwelt des Wirtschaftsbooms, der Promis, Fahnen und Autos ist auch die Zeit des Vietnamkrieges, den Künstler wie James Rosenquist vehement kritisieren. In einer Collage kombiniert er Zeichen der Airforce mit einem (verbrannten?) roten Kindergesicht und einer zerplatzten Glühirne.

Um 1962 beginnt Warhols Auseinandersetzung mit Tod, Katastrophen, sozialen und persönlichen Tragödien in der eindringlichen, zuerst umstrittenen Werkreihe „Death and Desasters“. Bilder aus der Tagespresse vervielfältigt er mit kleinen Retuschen kommentarlos: Autounfälle, Flugzeugabsturz, „Electric Chair“. Etwa zur gleichen Zeit beginnt seine Serie der „Marilyns“. Ihre „Images“ nach einem Foto aus dem Film „Niagara“ (1953) produziert er in den folgenden Jahren in vielen schrill-bunten Varianten als satirischen Comic zum Thema Starkult und Vergänglichkeit.

Marilyn in Jean Tinguelys absurdem Theater

Jean Tinguely (1925 - 1991) gilt mit seinen spielerisch-poetischen, ironischen und provozierenden Skulpturen, die den Betrachter aktiv ins Geschehen einbeziehen, als einer der originellsten Impulsgeber der internationalen Kunst um 1960. Wie damals als Kind steigt die Monroe auf das Karussell-Pferd der eine Ausstellungshalle füllenden, ratternden „Super-Méta-Maxi-Maxi-Utopia“ - Installation (1987, 810 x 1683 x 887 cm). Aus einem Lautsprecher klingt Musik. Solch eine mechanisch exakt konstruierte Riesenmaschine aus sich bewegenden Eisenteilen, Alutreppen, Holzrädern, Gartenzwerg und anderem Zeug erinnert sie an Charlie Chaplins Film „Modern Times“. Ebenso wie in Tinguelys ironischer Kritik am Maschinenzeitalter werden Menschen in technische Mechanismen grotesk hineingezogen - gerne hätte sie damit einen Film gedreht. Sie schlendert neugierig durch die kinetischen, exakt konstruierten, teils mechanischen Objekte des Schweizers.

Beklemmend still wird sie vor Tinguelys Altarensemble „Mengele Totentanz“ (1986) in einem schwach erleuchteten Kabinett. An den Wänden finden sich große Schattenrisse - erschreckender als die von Harry Limes, gespielt von Orson Welles, in Carols Reeds Thriller „Der dritte Mann“ (1949). Per Knopfdruck in Bewegung gesetzt erinnern sie an tanzende Skelette. Sie stammen von angekokelten und verrosteten Geräten aus der Landwirtschaft, von verendeten Tieren, die nach dem Brand in einer Scheune übrig blieben. Aus Teilen der „Mengele Landmaschinen“, deren Name Assoziationen an Konzentrationslager auslöst, baut er im Zentrum der mehrteiligen Installation den Hochaltar als ein unheimliches großes Flügelwesen. Weitere 13 Skulpturen montiert er aus verkohlten Holz-Balken, Pflugscharen, Tierskeletten, Haushaltsgeräten, Eisenteilen, Ketten, Sägen und Elektromotor: „Die Mutter“ (eine Viehtränke mit Eisenteilen, -ketten), „Targa-Florio, alias die Gottesanbeterin“, „Aggression“, „Des Rammbocks Fee“, „Transmission de la mort“ (ein Strohballentransportband mit Tier- und Menschenschädel).

Einen seiner wichtigsten Werkstoffe - stabiles, unverwüstliches Eisen - nutzt er hier als verrostetes Material für seine zentralen Themen: Vergänglichkeit und Bewegung. Man könne den Eindruck gewinnen, so Museumsleiter Beat Wismer in einem Interview, dass „… Gedanken wie Memento Mori oder Sinnlosigkeit des menschlichen Tuns eigentlich von Anbeginn in diesen Maschinen drinstecken … Er ist auch ein Zeitgenosse von Beckett … das Leben ist ein absurdes Theater.“ Die in seinem Werk perfekt konstruierte Verbindung von Mensch und Maschine wird - in anderer Weise als in Andy Warhols „Death and Desaster“ Serien - zum eindringlichen „Memento Mori“, von Schrecken, Leid und gesellschaftspolitischer Kritik. Er verweist auf den „Basler Totentanz“. In dem mittelalterlichen Reigen lädt der Tod Menschen allen Standes, Alters und Geschlechts zum Hinübertanzen ins Jenseits: König, Mönch, Maler und Herzogin.

Die Menschen des Mittelalters würden erschrecken vor dem „schlechten Sterben“ in der Moderne. Den von einem „hässlichen“, unvorbereiteten Tod plötzlich überraschten Menschen wurde damals oft die Begräbniszeremonie verweigert. Nach 1945 – so erläutert der Philosoph Philippe Ariès - wird der Tod tabuisiert und damit unheimlich: er wird „medikalisiert“. Dieses „anonyme Sterben“ ist nicht gesellschaftsfähig, muss im Verborgenen bleiben: in einem Krankenhaus, in einem Apartment oder Lager. Marilyn - und vielleicht auch Warhol und Tinguely - fragen sich: hat der Mensch heute noch eine menschliche Beziehung zum Tod?[4]

Literatur / Ausstellungen:
  • Dagmar Preising, Michael Rief, Christine Vogt (Hrsg.), Der gute Weg zum Himmel. Spätmittelalterliche Bilder zum richtigen Sterben. Das Gemälde ars bene moriendi aus der Sammlung Peter und Irene Ludwig, herausgegeben von Dagmar Preising, Michael Rief und Christine Vogt, Bielefeld: Kerber-Verlag, 2016, Ausst.-Kat. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen (bis Mai 2016, http://www.ludwiggalerie.de); Suermondt-Ludwig-Museum Aachen, 30.6. - 25.9.2016 / http://www.suermondt-ludwig-museum.de
  • Christine Vogt (Hrsg.), American Pop Art. Meisterwerke massenhaft von Robert Rauschenberg bis Andy Warhol aus der Sammlung Heinz Beck, Booklet zur gleichnamigen Ausstellung in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, 24.1. - 16.5.2016
  • Margriet Schavemaker, Barbara Til, Beat Wismer (Hrsg.), Jean TINGUELY. Super Meta Maxi, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2016, Ausst.-Kat. Museum Kunstpalast, Düsseldorf, 23.4 - 14.8.2016, www.smkp.de; Jean Tinguely. Maschinenspektakel, Stedelijk Museum, Amsterdam, 1.10.2016 - 5.3.2017
  • Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1997
Anmerkungen

[1]    Die erläuternden Spruchbänder solcher mittelalterlichen Tafeln, so Museumsleiterin Christine Vogt, seien Vorläufer der für den Comic so typischen Sprechblasen, zum Beispiel in Roy Liechtensteins Umsetzungen von Comics.

[2]    Dagmar Preisig, „Brille des Todes“, in: Der gute Weg zum Himmel. Spätmittelalterliche Bilder zum richtigen Sterben, Bielefeld: Kerber-Verlag, 2016, S. 15 ff.

[3]    Die Schau gibt Einblick in künstlerische und wirtschaftliche Strategien, zeigt ein Netzwerk von Künstlerkollegen, Freunden und Kunstmarkt - von Roy Lichtenstein, Robert Rauschenberg, Jasper Jones, Richard Hamilton, Arman, Jim Dine, Jasper Johns bis zu Alex Katz, Edward Kienhoz und Tom Wesselmann. Viele Künstler beziehen sich auf die Readymades von Marcel Duchamp (1887-1968). Er erklärte von ihm signierte Gebrauchsgegenstände zum Kunstwerk (z. B. „Fontaine“, 1917, ein Urinal oder eine überarbeitete Reproduktion der Mona Lisa von Leonardo da Vinci „(L.H.O.O.Q“, 1919). Andy Warhol drehte 1966 den Kurzfilm „Screentest for Marcel Duchamp“).

[4]    Der Holzschneider HAP Grieshaber griff mit seiner eigenen Version des „Totentanz von Basel“ (1959 - 1969) ebenso aktiv ins politische, gesellschaftliche und religiöse-sakrale Leben ein (s. u.a.: https://www.theomag.de/70/bws1.htm).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/bws14.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2016