Stromae – Ein Meister der Ambiguitäten

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XLVI

Andreas Mertin

Im letzten Heft 101 hatte ich im Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik eine lockere Folge von Totentänzen im Genre des Musikvideoclips vorgestellt. Gunnar Anger vom Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK) schrieb mir daraufhin, warum ich denn nicht „quand c'est?“ von Stromae in die Liste aufgenommen hätte. Ein schneller Blick auf das mir bis dahin unbekannte Musikvideo zeigte, dass dieses Versäumnis tatsächlich ein eklatanter Fehler war. Stromae bereichert meine kleine Geschichte des Totentanzes in den audiovisuellen Medien um ein wichtiges Moment. Deshalb hole ich die Vorstellung nun nach und erweitere sie um einen Blick auf das gesamte Oeuvre des Künstlers. 

Der Mann mit dem Künstlernamen Stromae wurde 1985 in der Nähe von Brüssel geboren. Er ist ein belgischer Musiker und Musikproduzent (New Beat, Hip-Hop- und Electro-Musik). Stromae ist ein so genannter Verlan (Umkehrung von Silben) des Wortes Maestro. Stromae ist der Sohn einer Belgierin und eines Tutsi, ein Architekt, der die Familie früh verließ und nach Ruanda zurückkehrte, wo er 1994 Opfer des Völkermordes wurde. Stromae ging auf ein Jesuiten-Internat. Nach der Schule begann er seine musikalische Karriere. Mit dem Lied „Alors on Danse“, der in mehreren europäischen Liedern auf Platz 1 landete, gelang ihm sein Durchbruch. Allen seinen Stücken ist eine grundlegende Ambiguität eingezeichnet: „He did not always feel that he was from Belgium, even though he was raised as a Belgian. He always saw himself more connected to his Rwandan side; some believe that is the source of his talent. This "outsider" image became part of his appeal.”[1]


2009 – Stromae – Alors on Danse

Beginnen wir also mit seinem ersten bedeutenden Stück “Alors on Danse” aus dem Jahr 2009. Schon der Liedtext setzt fulminant ein:

Qui dit étude       dit travail.
Qui dit taf te       dit les thunes.
Qui dit argent      dit dépenses
Qui dit crédit       dit créance.
Qui dit dette te    dit huissier.

Oui dit assis        dans la merde.
Qui dit Amour      dit les gosses,
dit toujours et     dit divorce.

Qui dit proches te dis deuils,
     car les problèmes ne viennent pas seul.

Qui dit crise te dis monde
    dit famine dit tiers-monde.

 Qui dit fatigue
     dit réveille encore sourd de la veille.

Alors on sort pour
     oublier tous les problèmes.[2]

Es geht m.a.W. um Konnotationen, um assoziative Verknüpfungen, um Implikationen und Folge-Wirkungen. Es gibt eine Assoziations-Kette von Lernen zur Arbeit = Malochen zum Zaster = Geld zu Ausgaben = Krediten zu Geldforderungen = Schulden zum Gerichtsvollzieher, ohne dass damit gesagt ist, dass Lernen zwangsweise zum Gerichtsvollzieher führt, der einen in die Patsche bringt. Denkbar ist es aber schon. Der Ereignisbaum, das macht den Charakter der Ambiguität aus, könnte auch ganz anders verlaufen.

-> Video: https://vimeo.com/12510419

Videoästhetisch wird das mit Hilfe eines horizontalen Split-Screens umgesetzt. Er zeigt aber nicht wirklich unterschiedliche Perspektiven, sondern nur akzentuierte Versionen desselben Geschehens.

Wir beobachten quasi 24 Stunden im Leben eines Büro-Angestellten. Er sitzt übermüdet im Büro, bekommt immer mehr Arbeit aufgehalst, verlässt das Büro, irrt durch die Straßen, besucht (s)ein Kind, wird in eine Kneipe gezerrt, trinkt dort einiges und wird schließlich zu einem Live-Musik-Auftritt verführt.

Das Publikum feiert ihn enthusiastisch, so lange bis er ermüdet in der Kneipe an einem Tisch zusammensinkt. Ein Mann / Freund zieht ihn aus der Kneipe und schleppt ihn zurück ins Büro, wo am nächsten Morgen der immer gleiche Ablauf (sozusagen ein biographischer Loop) auf ihn wartet:

Alors on sort pour oublier tous les problèmes ...

Es ist eine Mischung aus Depression und Leichtigkeit, die den Clip charakterisiert, eine Unausweichlichkeit der Lebenskrisen, der mit einer gewissen Apathie begegnet wird.


2010 – Stromae – House’llelujah

Als 1995 das Lied „One of us“ von Joan Osborne erschien, dauerte es nicht lange bis Religionspädagogen diesen Song als „Christushymnus ganz anderer Art“ feierten.[3] Wie viel mehr hätte dann allerdings das Lied „House’lleluja“ von Stromae aus dem Jahr 2010 Eingang in die religionspädagogische Literatur zur Gottesfrage finden müssen? Soweit ich es überblicke, ich das nicht geschehen.[4] Das Lied eröffnet mit den Worten: „Im Namen des Rhythmus und des Gesangs schreie ich House‘llelujah; gesegnet sei die Musik und House‘llelujah“.[5] Das nimmt direkt Bezug auf liturgische Forme(l)n und überträgt das biblische Halleluja[6] auf den zeitgenössischen Kontext der House-Musik. Er stellt – ganz im Stil der Psalmen – die Gottesfrage:

J'ai prié Dieu pendant des heures

On m'a dit qu'il était trop vieux pour tous nos pleurs
Qu'il est trop riche pour écouter nos pauvres cœurs

Qu'il est trop pris,

Qu'il est femme, qu'il est homme
Qu'il est hétéro, qu'il est gay
Qu'il est chanteur, qu'il est DJ

Qu'il est mort et qu'il est né
Qu'il est même musulman ou juif

Qu'il est bouddhiste et athée[7]

-> Video: https://vimeo.com/15012352

Nach einem anfänglichen Schattenspiel des Sängers vor einem gotischen Chorfenster tritt Stromae in einer Bibliothek auf einer Multivisionsleinwand wie ein amerikanischer TV-Prediger auf. Im Gegenüber zu den Anfangs erstarrten Zuschauern wirkt es wie eine (letztlich jedoch invertierte) Adaption von George Orwells Hass-Szene aus 1984. Eingeschoben sind etwas verkitschte und transformierte katholische Frömmigkeitsbilder:

Je länger Stromae singt, desto mehr geraten seine Zuhörerinnen und Zuhörer in Bewegung. Es ist fast so, wie Karl Marx in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt: "[…] man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!"[8] Nach und nach erfasst der „Geist des Herrn“ die Masse und sie singt das Lied von Stromae mit. Nach einiger Zeit (1:50) wechselt das Geschehen und wir befinden uns unmittelbar mit derselben Szenerie in einen Dance-Club. Stromae drängelt sich durch die ekstatisch tanzenden Menschen und singt seinen Song. Im Epilog tauchen noch einmal Motive aus der ersten Hälfte des Clips auf und Stromae schließt sein Liederbuch.

In einem bestimmten Sinn nimmt das Musikvideo viel von dem auf, was in der alttestamentlichen Wissenschaft zur Ekstatik der Propheten diskutiert wurde. Die Propheten der biblischen Tradition, sofern es sich nicht um die offiziell bestallten Amts- und Hofpropheten handelte, waren ja durchaus eine ver-rückte, ekstatische Gruppierung:

„In der Frühphase der Königszeit treten ganze Gruppen von Besessenheitspropheten in Israel auf. Unter Klängen von Pauke und Flöte, Zither und Harfe ziehen sie über Land und verkünden ungefragt die Zukunft, auch in Form von Gerichtsbotschaften. Männer wie Elisa ragen aus der Schar dieser Namenlosen hervor (2 Kön 2,5; 2 Kön 4,38), in denen der  ‚Geist Jahwes‘ wirkt.
     Die Begeisterung dieser Propheten kann ‚ansteckend’ wirken. 1 Sam 10,1-13 berichtet, wie der gerade von Samuel zum künftigen König gesalbte Saul in der Nähe Gibeas auf eine in Verzückung befindliche Prophetenschar stößt und der Geist Gottes in ihn ‚eindringt‘, so dass er selber in Verzückung gerät.“
[9]

Und selbst von der inhaltlichen Motivlage her gibt es Querverbindungen zu theologischen, religiösen und religionspädagogischen Fragestellungen. So wird ja im Lied durchaus die Frage nach der Gerechtigkeit (Gottes) gestellt. Ist Gott nur einer für die Reichen oder ein Gott der armen Leute? Ist er nur ein Gott für Heterosexuelle oder auch einer der Schwulen und Lesben? Ist Gott männlich oder ist sie eine Frau? Trifft für Gott zu: Qu'il est mort et qu'il est né? Und offenbart er/sie sich auch als Buddhist, Jude, Moslem oder Atheist?

Fragen über Fragen, die anhand dieses Musikvideos erörtert werden können. Dabei ist mir natürlich klar, dass die Assoziationskette zunächst einmal von der lautmalerischen Transformation von Halleluja zu House’llelujah ausgegangen ist. Ein spielerischer Zugang sozusagen, der aber über das trivial Spielerische hinausgeht. Denn die herausragende Stärke dieses Musikvideos ist seine Ambivalenz. Keinesfalls ist es eine bloße Feier der selbstbezüglichen Ekstatik der House-Musik (im Gegenüber etwa zu einer anfangs dargestellten formierten kirchlichen Religiosität). Indem es eingeordnet wird in den Kontext der grundsätzlichen Gefahr der Formierung einer Gesellschaft durch übergeordnete Instanzen und sich selbst von dieser Gefährdung ja gar nicht ausnimmt, fragt es nach Möglichkeiten und Grenzen des Ekstatischen, des Enthusiastischen, der Grenz-Überschreitung.


2013 – Stromae – Formidable

Ein Lied über die (gescheiterte und die scheiternde) Liebe und die Folgen für das Leben. Der Einfachheit halber fasse ich den Inhalt des Liedes „Formidable“ von Stromae aus dem Jahr 2009 mit der Wikipedia zusammen:

„Die Handlung dreht sich um einen kürzlich verlassenen Mann, der pessimistisch seiner Exfreundin nachtrauert und sich betrunken an verschiedene Leute wendet. Dabei wiederholt er ständig (jeweils im Refrain), wie großartig doch am Tag zuvor noch alles war und bringt so seine Verzweiflung über die aktuelle Misslage zum Ausdruck.

In der ersten Strophe spricht er eine fremde Frau an und möchte ihr von seinem Leid berichten. Sie ist abgeschreckt und wenig bereit, ihm Gesellschaft zu leisten, womöglich aus Angst, er könne aufgrund seiner Verzweiflung und seiner Trunkenheit aggressiv werden.

Die zweite Strophe ist an einen verheirateten Mann gerichtet. Der Sänger warnt ihn, er solle sich besser nichts auf den Bund der Ehe einbilden. Es sei schließlich nur ein Ring und seine Ehefrau werde ihn sowieso verlassen, wie Frauen es seiner Meinung nach immer tun. Außerdem fragt er ihn, ob er seiner Frau schon von ‚der anderen‘ erzählt hätte und bietet ihm an, es für ihn zu tun, um die Trennung (die - und das ist die Grundaussage - sowieso bevorsteht) zu vereinfachen.

     Adressat der dritten Strophe ist zunächst ein Junge, dem der Sänger erklärt, dass es im Leben kein ‚Gut und Böse‘ gäbe. Dann wendet er sich an die Menschen, die ihn herabwürdigend ansehen (als sei er ein Affe) und kritisiert diese dafür. Dabei betont er, dass auch sie keine Heiligen seien, sondern letztendlich auch nur eine Bande Affen.“[10]

Die Wikipedia hebt noch hervor, das „im Kontext des Musikvideos, in dem der Künstler betrunken an der Haltestelle von vielen wartenden und umherlaufenden Menschen angestarrt und gefilmt wird“, sein Lied eine noch größere Wirkung erzielt. Das ist sicher wahr.

-> Video: https://vimeo.com/67081182

Das Musikvideo, das ausschließlich mit versteckter Kamera gefilmt wurde, zeigt Stromae mit Kopfhörern [scheinar] betrunken an der [Brüsseler] Straßenbahnhaltestelle Louise. Dabei läuft er sichtlich niedergeschlagen umher und nuschelt oder schreit immer wieder einige Zeilen des Liedes, wodurch er die Aufmerksamkeit der Passanten und einiger Polizisten erregt. Letztere sprechen ihn an, bekennen sich als Fans seiner Musik und bieten ihm an, ihn nach Hause zu fahren.

Hier könnte man an Jesaja 28,7 denken: „Priester und Propheten sind toll von starkem Getränk, sind vom Wein verwirrt. Sie taumeln von starkem Getränk, sie sind toll beim Weissagen und wanken beim Rechtsprechen.“


2013 – Stromae – Papaoutai

Sehr persönlich wird es 2013 im Lied Papaoutai. Der Song handelt von Stromaes innerer Suche nach seinem eigenen Vater, der als Tutsi ein Opfer des Völkermords in Ruanda geworden war. Stromae hat gesagt, dass die Frage nach seinem Vater ihn bis weit in seine Musik-Karriere hinein verfolgte, ihn jedoch auch zum Schreiben vieler seiner Songs inspiriert hat. Für einen vaterlosen Jungen ist es schwer zu erkennen: Was macht einen Vater aus? Braucht man einen Vater? Wie wird man zu einem Vater – außerhalb des rein biologischen Prozesses?

Tout le monde sait comment on fait des bébés.
Mais personne sait comment on fait des papas.
[11]

Vermutlich werden Jungen, die mit einem Vater aufgewachsen sind, sich über ihn geärgert oder diesen aus beruflichen Gründen eher selten gesehen haben, ganz andere Fragen stellen. Eine vaterlose Gesellschaft (Alexander Mitscherlich) entsteht nicht nur aus der physischen Nicht-Präsenz des Vaters. Aber gerade beim tödlichen Verlust stellen sich die Fragen nach dem „Was wäre gewesen wenn ...?“ verschärft. Und noch einmal, wenn der Vater zuvor die Familie verlassen hat.

Denn da ist noch dieser überaus rätselhafte Satz:

Dites-nous qui donne naissance aux irresponsables.

-> Video: https://vimeo.com/68050922

Auf der videoästhetischen Ebene sehen wir einen kleinen Jungen, der sich danach sehnt, eine Beziehung zu seinem Vater analog zu der der anderen Jungen in seiner Straße zu haben (bzw. der dortigen Mädchen zu ihrer Mutter). Aber sein Vater – gespielt von Stromae – ist nur als Puppe präsent, quasi nur virtuell bzw. imaginär lebendig, kein wirklicher Ersatz.

Sobald der Junge aber auf die Straße seiner – erschreckend gleichförmigen – Vorstadtsiedlung geht, sieht er dort alle die anderen Familien, die scheinbar harmonisch mit ihren Kindern etwas unternehmen. Und der Junge sehnt sich nach dieser Gleichförmigkeit, auch wenn es nur eine Plastikwelt (a la Barbie) ist. Schließlich gelingt es ihm, den Vater in der Phantasie zum Erleben zu erwecken, er tanzt mit ihm und lebt mit ihm – allein es ist nur eine Imagination.

Am Ende entkommen wir den Realitäten nicht, es besteht die Gefahr, dass die Realitäten uns überwältigen und wir uns dann ihnen angleichen. Das erschreckende Schlussbild zeigt den Sohn neben dem Vater zur Puppe erstarrt auf dem Sofa sitzen. Die Annäherung ist perfekt.


2013 – Stromae – Tous Les Mêmes

Dieses Stück ist ein wunderbares Beispiel, um über Genderfragen zu diskutieren. Was ist „typisch“ männlich, was ist „typisch“ weiblich, was sagen „typischerweise“ Männer über Frauen, was sagen „typischerweise“ Frauen über Männer? Und sind diese Fragen überhaupt sinnvoll? Werden Geschlechterrollen gemacht (Doing Gender) oder sind sie durch die Biologie vorgegeben? Die Mehrzahl der populistischen Genderkritiker dürfte mit Stromaes Performance unzufrieden sein. Zu viel Ambivalenz, zu viel Spiel in der Rollenzuweisung. Was ist Ernst, und was ist Ironie? Nicht leicht zu beantworten.

Vous les hommes, s'êtes tous les mêmes / Macho mais cheap, bande de mauviettes infidèles / Si prévisibles, non je ne suis pas certaine / Que tu m'mérites, s'avez d'la chance qu'on vous aime / Dis-moi merci.[12]

-> Video: https://vimeo.com/110243620

Das Musikvideo verschärft diese Ambivalenz noch einmal. Auch hier greife ich zur Wiedergabe des Inhalts wieder auf die Wikipedia zurück, dieses Mal auf die englische:

“The music video, directed by Henry Scholfield, was released on YouTube on 18 December 2013 and features Stromae partly dressed as a woman. The track shows the life of female Stromae, annoyed as he is with the attitude of men and what they do. Throughout the video, Stromae depicts various stereotypical remarks women make about men, accompanied by the non-verbal cues the other characters in the video make. The lighting effects in the video (green light for male Stromae, pink light for female Stromae) aid the interpretation of the song. The video has received over 100 million views as of December 2015.”[13]

Nach 2 ½ Minuten taucht im Musikvideo eine Art Alter Ego des Künstlers auf, eine Tänzerin, die nun den analog ambivalenten Gegenpart als Frau (Frau / Mann) spielt.

Die Kamera fährt nach und nach zurück und offenbart uns die Welt als nach dem selben bipolaren Muster aufgebaut wie der Mikrokosmos den wir bis dahin betrachtet haben. Am Ende entwickelt sich daraus eine Variante des Musters, das Stromae auf dem Plattencover trägt. Voila!


2015 – Stromae – quand c'est?

In der Kurzgeschichtensammlung „Machine of Death“, die ich im letzten Heft des Magazins für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik vorgestellt habe, ging es darum, wie Menschen reagieren, wenn sie definitiv ihre Todesursache mitgeteilt bekommen. Etwa durch einen Zettel, auf dem steht „Hohes Alter“ oder eben auch „Krebs“. Wenn man dann „Krebs“ auf dem Zettel stehen hat, dieser also unvermeidlich erscheint, wie geht man damit um? Welche Fragen stellt man? Genau das ist das Thema von Stromaes Stück „Quand c’est?“ aus dem Jahr 2015. Der Liedtext geht aus von einer Person, in dessen Familienumkreis wiederholt Krebs aufgetreten ist (die Mutter hatte Brustkrebs, und der Vater Lungenkrebs), so dass er das Gefühl hat, dass die Wahrscheinlichkeit, selbst an Krebs zu erkranken, hoch ist.

Mais oui on se connait bien
T'as même voulu t'faire ma mère hein
T'as commencé par ses seins
Et puis du poumon à mon père
Tu t'en souviens?

Cancer, cancer, dis-moi quand c'est?
Cancer, cancer, qui est le prochain?
Cancer, cancer, oh dis-moi quand c'est?
Cancer, cancer, qui est le prochain?
[14]

Das Stück und der gleich vorzustellende Videoclip handelt also nicht davon, dass jemand Krebs hat und mit seinem Schicksal handert, sondern davon, dass die Allgegenwärtigkeit der Furcht vor der Krebserkrankung das Leben bestimmt.

-> Video: https://vimeo.com/139317784

Im Musikvideo wird das nun so umgesetzt, dass zunächst der Sänger allein auf der Bühne steht und die Erkrankungen seiner Verwandten imaginiert und gestisch mit seinen Händen umsetzt. Dann ist er aber von außerhalb mit den ausgreifenden Wucherungen des Krebses konfrontiert, die von allen Seiten auf ihn eindringen. Wie in einem Alien-Film scheinen diese Strukturen Bewusstsein zu haben und gezielt nach dem Sänger zu greifen. Kaum entkommt er der einen Gefahr, lauert auf der anderen Seite schon wieder die nächste: Quand c'est, quand c'est  / Que tu cesses tes avances?

Der Blick öffnet sich dann in den Zuschauerraum der Theaterbühne und wir sehen einen Raum voller Wucherungen und Zellbildungen. Eine karzinome Welt, deren einziges Ziel der Bühnenraum zu sein scheint, indem der Sänger sich aufhält. Und irgendwann ‚erwischt‘ es den Sänger und er sinkt zu Boden. An dieser Stelle, es sind gut 2 Minuten des Musikvideos vorbei, könnte das Ganze sein Ende (im wortwörtlichen Sinne) haben, denn die karzinome Welt hat triumphieret. Tatsächlich geht es aber in einem überraschend deutungsbedürftigen Sinn weiter.

Analog zu mittelalterlichen christlichen Vorstellungen ‚holt‘ der Krebs so etwas wie eine Seele oder eine virtù informativa (Dante) aus dem Leib des Verstorbenen und befördert sie in eine höhere Sphäre. Es ist unklar, woraus sich diese Sphäre generiert. Wenn ich es recht sehe, ist sie die Fortsetzung der karzinomen Welt (unter Einverleibung ihrer Opfer). Wenn der Sänger hier in einen größeren Kontext eingebettet sein sollte, ist es der Kontext des perennierenden Unheils. Am Ende steht nicht die Auferstehung, steht nicht irgendeine Form der Hoffnung, sondern eine unentrinnbares Totenreich, das anders als etwa in Jesaja 14 nicht tief in der Erde, sondern hoch im Himmel platziert ist.

Es gibt nun eine kleine Besonderheit, die noch klärungsbedürftig ist. Wenn die Kamera die schier unendliche karzinome Vernetzung nach oben abfährt, kommt sie (bei 02:29) an etwas vorbei, das plötzlich ein Auge aufschlägt. Das Auge, das wir sehen, kommt aus einem der Wucherungsklumpen und es verfolgt die Fahrt der Kamera. Es könnte ein Gimmick der Programmierer sein, es könnte aber auch darauf hindeuten, dass der Angriff des Krebses personal interpretiert wird. Ein wenig erinnert die Konstruktion dieses Details an die Folge 28 der Serie „Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert“ die unter dem Titel „Illusion oder Wirklichkeit? - Where Silence Has Lease“ steht. Dort wird die Enterprise von einer inhalts- und dimensionslosen Lebensform namens Nagilum im All gefangengenommen. Diese möchte die Reaktionen der Menschen auf den Tod studieren und will dazu zahlreiche Besatzungsmitglieder sterben lassen. Ihren Abschluss findet diese Episode, indem Captain Picard dem Wesen das Lebens- und Todesprinzip der Menschen erläutert. Ihre Erscheinungsform ähnelt jedenfalls etwas den Augen aus dem Video von Stromae.

Die andere – positive – Möglichkeit, dieses Auge zu deuten, wäre der Rekurs auf Walter Benjamins Engel der Geschichte:

„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muss so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[15]

In jedem Falle haben wir mit Stromaes „Quand c'est?“ einen beeindruckenden Totentanz der Gegenwart vor uns.


Es mag angesichts des Themas des Clips vielleicht unangemessen erscheinen, sich mit produktionstechnischen Details abzugeben, aber im Internet findet sich ein höchst interessantes “Making of” des Musikvideos. Wer sich vor der dadurch bedingten Desillusionierung nicht scheut, kann hier der technischen Konstruktion des Videos nachgehen.

https://vimeo.com/144597663

http://www.iamag.co/features/stromae-quand-cest-vfx-breakdown/


Anmerkungen

[2]    Wer von Lernen spricht, meint Arbeit / Wer von Malochen spricht, meint Zaster / Wer von Geld spricht, meint Ausgaben / Wer von Krediten spricht, meint Geldforderungen / Wer von Schulden spricht, meint Gerichtsvollzieher / Wer von einer gesicherten Stellung spricht, sitzt in der Patsche / Wer von Liebe spricht, meint auch Kinder / Wer von ewigwährender Liebe spricht, meint auch Scheidung / Wer von der nächsten Verwandtschaft spricht, meint auch Trauer, denn Probleme entstehen nie von selbst. / Wer von Krise spricht, meint die Welt, die Hungersnot, die Dritte Welt / Wer von Müdigkeit spricht, meint das Aufwachen, wenn man noch wie betäubt vom Vorabend ist. /
Also gehen wir aus, um all die Probleme zu vergessen ...

[3]    Michael Wermke, Joan Osborne: One of us, Pelikan, Heft 2, 1996, S. 80f.

[4]    Lediglich das Lied Papaoutai aus dem Jahr 2013 findet sich im Themenbereich “Vater-Sohn-Begegnungen” in der religionspädagogischen Literatur. Das ist eine verpasste Chance.

[5]    Au nom du rythme, et du chant / Je crie House'llelujah, House'llelujah / Bénie soit la musique et House'llelujah / House'llelujah

[7]    Stundenlang bete ich zu Gott / Man hat mir gesagt er sei zu alt für alle unsere Tränen / Dass er zu reich ist um unsere armen Herzen zu erhören / Er ist zu beschäftigt / Er ist eine Frau, er ist ein Mann / Er ist Hetero, er ist schwul / Er ist ein Sänger , er ist ein DJ / Er ist gestorben, er ist geboren / Er ist ein Moslem, er ist ein Jude / Er ist Buddhist, er ist ein Atheist ...

[8]    Marl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. MEW 1, S. 381.

[10]   Wikipedia, Art. Formidable_(Lied): https://de.wikipedia.org/wiki/Formidable_(Lied)

[11]   Jeder weiß, wie Babies zustande kommen / Aber niemand weiß, wie man Väter macht

[12]   Ihr Männer, ihr seid doch alle gleich, / Ihr seid Machos, aber trotzdem billig / Ihr seid eine Bande treuloser Feiglinge / So voraussehbar, dass ich mir nicht sicher bin, ob ihr es verdient / das Glück zu haben, dass man euch liebt / Sagt doch mal "Danke" ...

[13]   Wikipedia, Art. Tous Les Mêmes: https://en.wikipedia.org/wiki/Tous_les_m%C3%AAmes

[14]   Aber ja, wir kennen uns gut / Wolltest sogar meine Mutter kriegen / Beginnend mit ihren Brüsten / Und meines Vaters Lungen / Erinnerst du dich an sie? / Krebs, Krebs, sag mir wann? / Krebs, Krebs, wer ist der Nächste? / Krebs, Krebs, oh sag mir wann? / Krebs, Krebs, wer ist der Nächste?

[15]   Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/am548.htm
© Andreas Mertin, 2016