Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XVII

Andreas Mertin

Galoppierende Rotverschiebungen        06.06.2017

Ein gewisser Helmut Müller schreibt auf kath.net einen Kommentar zur politischen und kirchlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte unter der Überschrift: „Rotverschiebung im gesellschaftlichen und kirchlichen Spektrum“. Dabei beobachtet er in der Sache eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems in die Extreme, einerseits einen „roten Linkspopulismus“, der sich vor allem in den Medien und in der offiziellen Politik zeige und einen „blauen Rechtspopulismus“, der sich insbesondere in der AfD inkarniert. Nun ist schon diese Gegenüberstellung höchst fragwürdig. Wissenschaftlich abgesichert ist der Gebrauch des Wortes „Populismus“ hier nicht, denn man kann den Regierungsparteien in Deutschland sicher keine Elitenverachtung und keine Polemik gegen die da oben unterstellen. Das aber ist der Markenkern des Populismus – des rechten wie des linken. Der „gesunde Menschenverstand“ ist sein liebstes Argument. Müller rekurriert auf den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Populismus, der diesen schon am Werk sieht, wenn jemand sich an Meinungsumfragen orientiert (so wie angeblich unsere Kanzlerin; als wenn Helmut Kohl und Elisabeth Nölle-Neumann das nicht Jahrzehnte vorher schon exerziert hätten). Kann man so machen, bringt aber – und das dürfte das Interesse des Autors sein – eine Unschärfe in den Begriff des Populismus. Aber geschenkt. Wenn man jedoch seriös den Linkspopulismus in Europa beim Namen nennen will, dann könnte man an die griechische Syriza oder die spanische Podemos denken. Aber ganz sicher nicht an CDU, SPD oder Grüne und auch nicht an ihre medialen Unterstützer.

Unser Autor möchte aber zugleich, das zeigen jedenfalls frühere Äußerungen aus seiner Feder, sprachlich besonders gewitzt sein. Es reicht ihm deshalb nicht, darauf hinzuweisen, dass die CDU heute Positionen vertritt, die früher die SPD oder die Grünen in die gesellschaftliche Debatte eingebracht haben. Nein, er konstatiert – einen Begriff aus der Naturwissenschaft als Metapher aufgreifend – eine Rotverschiebung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Nun ist das mit Metaphern immer so eine Sache. Wenn man zu ihnen greift, dann sollten sie auch stimmen. Eine Rotverschiebung im naturwissenschaftlichen Sinne bezeichnet zunächst einmal nicht die farbliche (hier = politische) Veränderung des jeweiligen Objektes, sondern die Veränderung der Wahrnehmung der Erscheinung dieses Objektes. Das aber hat der Autor gar nicht gemeint. Er meint vielmehr, dass unsere Gesellschaft bzw. die Regierungsparteien de facto röter geworden sind. Dann ist die Metapher aber falsch gewählt. Richtig gewählt wäre sie freilich, wenn der Autor etwas ganz anderes ausdrücken wollte: Wenn er sich nämlich – um im politischen Bild zu bleiben – rasend schnell in die rechte Ecke bewegt, dann muss ihm im Rückblick sehr viel von dem, wovon er sich entfernt, als röter erscheinen (ohne es de facto zu sein). Wäre es anders, müsste man meinen, sich schnell von uns entfernende astronomische Objekte würden de facto Rot. So dumm wird niemand sein.

Aber mit der Sprache hat der Autor auch sonst seine Probleme. Wie soll man denn diesen Satz beurteilen?

„Seit Jahren ist m. E. schon eine schleichende Rotverschiebung in Gang, die sogar seit 1998 mit dem Regierungsantritt Schröders galoppiert.“

„... eine schleichende Rotverschiebung ..., die ... galoppiert“. Wie muss ich mir wohl eine galoppierende Rotverschiebung vorstellen? Schon die schleichende Rotverschiebung entzieht sich meiner Imaginationskraft. Wir hören hier das rasende Gefasel der Gegenaufklärung.

In der Astrophysik zeigt die Stärke der Rotverschiebung im Spektrum des Lichts eines Objekts sein Alter und seine Entfernung. In der gesellschaftlichen und kirchlichen Wirklichkeit der Bundesrepublik zeigt die Rotverschiebung offenbar die Entfernung politischen und kirchlichen Handelns von sachorientierten Erfordernissen.

Natürlich ist diese Übertragung Unsinn. Die Rotverschiebung in der Astrophysik ist keine Bewertung, sondern ein naturwissenschaftliches Phänomen. Was dagegen „sachorientierte Erfordernis“ ist, dürfte stark von subjektiven politischen Einstellungen abhängen. Aber formulieren wir den Vergleich einmal um, um seinen Implikationen auf die Spur zu kommen:

Mit der Entfernung des politischen und kirchlichen Handelns von sachorientierten Erfordernissen verhält es sich wie mit dem Spektrum des Lichts eines Objektes im Verhältnis zu seiner Entfernung. Je mehr es sich davon entfernt, desto röter, je näher es ihm kommt, desto blauer.

Da der Autor zuvor Blau mit der AfD assoziiert hatte, liegt hier eine unverhohlene Apologie der völkischen AfD vor. Das ist die Implikation wenn man Rotverschiebung als Entfernung zu politischen Realitäten definiert. Dann muss man Blau als radikale Annäherung preisen.

Der Autor konkretisiert seine reaktionären politischen Urteile auch in verschiedenen Kontexten. So schreibt er:

am schmerzlichsten ist die Preisgabe einer christlichen Familienpolitik. Eine siebenfache Mutter, die eigentlich wissen müsste, was Kindern gut tut, agierte als trojanisches Pferd in der einstigen Familienpartei CDU und förderte wie kein anderer in der Republik die Verstaatlichung der Kindheit und machte Mütter vielfach zur Aschenputtel der Industriegesellschaft.

Daran ist so viel verkehrt, dass man nicht weiß, womit man beginnen soll. Was immer der Autor unter „christlicher“ Familienpolitik verstehen möchte, ich bin mir sicher, er meint nur „katholische Familienpolitik“ (und auch hier dürften aufrechte Katholiken protestieren). Ob es „christliche Familienpolitik“ überhaupt gibt, ist mir ebenso zweifelhaft wie die „christliche Seefahrt“. Dass jemand viele Kinder bekommen hat, wurde m.W. noch nie als Nachweis familienpolitischer Fachkompetenz anerkannt. Wollen wir das jetzt einführen? Künftig keine Beteiligung katholischer Priester, Bischöfe oder Päpste an Diskussionen über Familienpolitik, weil die ja keine Kinder haben? Ach, ich vergaß ...

Das mit dem trojanischen Pferd ist eine Frechheit, eine Beleidigung der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen. Das trojanische Pferd ist ein Mittel der Kriegsgegner, die eigenen Soldaten in den belagerten Stadtraum zu bekommen, um diesen zu erobern. Wenn Ursula von der Leyen als trojanisches Pferd agierte (kann man überhaupt als trojanisches Pferd agieren?), welche Subjekte / Krieger kamen dann mit ihrer Hilfe zum Sieg? Ich vermute einmal, die Antwort lautet LGBT. Oder kann es nicht einfach auch nur sein, dass Ursula von der Leyen und mit ihr die damalige Koalition andere und durchaus auch ‚christliche‘, zumindest aber politisch verantwortete Familienkonzepte hatten? Es müssen doch nicht immer die des Autors sein, oder?

Kommen wir zu den Müttern als Aschenputteln der Industriegesellschaft. Auch das ist etwas kurz gedacht. Es ist klar, was der Autor meint. Die Frauen werden von der Industriegesellschaft zur Gewinnmaximierung ausgenutzt und unterdrückt. Aber damit ist das Märchen ja nicht zu Ende. Die erste Assoziation ist eben nicht immer gleich die beste. Denn der Witz der Erzählung vom Aschenputtel ist ja, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, dass Aschenputtel am Ende als Königsgattin triumphiert und das unterdrückende System (die böse Schwiegermutter und die Stiefschwestern) abgeschafft wird. Das wünschen wir (zumindest als Linke) doch alle und allen. Nur der Austrofaschismus wollte die Frauen lieber als Hausfrau und Mutter und erschwerte ihnen deshalb den gesellschaftlichen Aufstieg.

Dann greift Müller noch einmal tief in die Mottenkiste der Demagogie und zitiert Anatoli Lunatscharski, einen sowjetischen Kulturminister aus Lenins Zeiten, um ihn dann umstandslos mit dem Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz zu verknüpfen. Sind ja alles Linke. Scholz hat einmal vor 14 Jahren gesagt, man dürfe das Thema der Familie nicht den Konservativen überlassen. Das wird ihm nun vorgeworfen. Und es wird unzulässig damit vermischt, dass Scholz vor dem Bundesverfassungsgericht Erfolg mit seinem Protest gegen das Betreuungsgeld hatte, und zwar, weil es insofern verfassungswidrig(!) ist, da der Bund dafür gar nicht zuständig war. Aber vermutlich ist auch das Bundesverfassungsgericht Teil der gesellschaftlichen ‚Rotverschiebung‘.

Zum Abschluss greift Herr Müller noch einmal seine Ausgangsfrage auf: Gibt es nun eine Rotverschiebung in Deutschland? Und er kommt zu einer überraschenden Erkenntnis:

... kommen viele Nicht-Rote vielleicht wie beim Militär in Tarnfarben (etwa Grün) daher und ist nicht alles Schwarze gar nicht so schwarz und nicht alles Gelbe so gelb ...? Ist nicht die Wende ins Blaue der AFD und vielleicht sogar ins Braune so zu erklären, dass es einen unerkannten Linkspopulismus in Politik und Medien seit Jahren gibt und der jetzt immer mehr kenntlich wird, weil irgendwann die Farbe nicht mehr an den Fakten, Tatsachen und Ereignissen hält, mit der man sie angestrichen hat?

Das muss man dreimal lesen, um den Sinn zu begreifen. Also Grüne, Schwarze und Gelbe sind eigentlich gar nicht grün, schwarz oder gelb, sondern tarnen sich nur so, in Wirklichkeit sind alle unter ihrer jeweiligen Tarnfarbe nur eines: Rot. Also mit einem Wort: wir leben seit 20 Jahren in einer DDR 2.0, in der es zwar nominell mehrere Parteien gibt, aber doch nur eine Einheitsliste, die Nationale Front. Soll man das ernstnehmen? All das erinnert doch fatal an den Witz mit dem Geisterfahrer, der auf eine Meldung im Radio, auf der Autobahn käme einem ein Geisterfahrer entgegen, ausruft: Was heißt hier einer, das sind Hunderte!

Das Irritierende an all dem ist, dass es als katholische Perspektive dargestellt und von einem sich katholisch nennenden Portal verbreitet wird, obwohl hier jemand nur absichtsvoll eine Brille mit roten Gläsern aufgesetzt hat, die es ihm ermöglicht, alles, aber auch alles als rot zu erblicken. Aber wie sagt schon der Teufel zu Faust, nachdem der den Trank der Hexe zu sich genommen hat: Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, bald Helenen in jedem Weibe. Manchmal reicht auch eine einfache Brille mit roten Gläsern.


Von Sackgassen, Theologen und Ästheten - 19.07.2016

Ich sitze gerade an einem Text für eine Künstlerin, der von Kunst, Kirche und Ruinen handelt. Das ist immer eine Herausforderung, zeitgenössische Kunst mit dem Raum der Kirche und der gegenwärtigen Theologie in eine wie auch immer geartete produktive Spannung zu bringen.

Anlässlich dessen lese ich einen nun schon 10 Jahre alten Text eines evangelischen Theologen über die theologischen Grundlagen kirchlicher Räume. Das ist überaus spannend und inspirierend, etwa wenn er fragt, ob alle Reflexionen über die kirchlichen Räume nicht eine „theologia ex eventu“ sind, also „die nachträgliche Rechtfertigung einer nicht von Jesus Christus, sondern von Menschen, die ihn dieser Weit bezeugen wollen, in Gang gesetzten Entwicklung“.

Am Ende dieses Textes kommen nun zwei Formulierungen, die – weil sie mir überaus sauer aufgestoßen sind – Anlass zu meinen Blognotizen sind.

Zum einen heißt es dort:

Denn der Impuls zum Bauen der Gemeinde, der von ihm ausgeht, bricht nicht ab. Es ist ein missionarischer Impuls. Ohne ihn stecken alle Überlegungen zu Kirchengebäuden und Kirchenräumen ohnehin in einer Sackgasse von Ästheten und Theologen de luxe ohne Bodenhaftung.

In der Sache finde ich diese Formulierungen skandalös. Sie fallen weit hinter das Kierkegaardsche Entweder-Oder zurück und bedienen ein geradezu peinliches (kleinbürgerliches) Ressentiment. Mich interessiert nun der sprachliche Gedanke, der hinter solch einer Formulierung steckt. Und mich interessiert, was im Kopf eines Individuums vorgeht, das umstandslos Worte wie Ästhet, Sackgasse und ‚ohne Bodenhaftung‘ kombinieren kann. Darüber hinaus frage ich mich: Was ist eigentlich ein ‚Theologe de luxe‘? Vermutlich hat derjenige, der das schrieb, ja an konkrete Beispiele, sprich: Ästheten und Theologen gedacht. Man spricht solche Verwerfungen ja nicht ohne Anlass aus.

Versuchen wir den fraglichen Satz aufzugliedern:

Ohne missionarischen Impuls stecken alle Überlegungen zu Kirchengebäuden und Kirchenräumen in einer Sackgasse.

Das ist der sachliche Gehalt des Satzes. Dem kann man zustimmen oder ihn ablehnen. Man könnte ganz pragmatisch mit Schleiermacher (Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behufe einleitender Vorlesungen, § 289) antworten:

"Da die Handlungen des Kirchendienstes an eine beschränkte Räumlichkeit gebunden sind, welche ebenfalls durch ihre Beschaffenheit einen gleichzeitigen Eindruck machen kann: so ist zu entscheiden, inwiefern ein solcher zulässig ist oder wünschenswert, und demgemäß Regeln darüber aufzustellen ... Da die Umgrenzung des Raumes nur eine äußere Bedingung, mithin Nebensache, nicht ein Teil des Kultus selbst ist: so würden die Regeln nur sein können eine Anwendung der Theorie der Verzierungen auf das Gebiet der religiösen Darstellung".

Man könnte auch fragen, welcher Gebrauch wird hier eigentlich vom Wort „Sackgasse“ gemacht? Sackgassen sind ja an sich nichts Schlimmes. Wie erleben gerade konkret am Beispiel des Stuttgarter Bahnhofs, wie der missionarische Impuls, Sackgassen (bzw. in diesem Falle: Sackbahnhöfe) zu vermeiden, zu desaströsen Ergebnissen führt.

Ich glaube persönlich, dass alle Reflexionen zur Kirchenraumtheologie notwendig in einer Sackgasse enden und finde das auch gut so. Über das kritische Urteil der frühen Gemeinde zu von Händen gemachten Gotteshäusern hinaus führt kein Weg in eine strahlende kirchbauprogrammatische Zukunft. Aber das kann man mit genügend missionarischem Impuls natürlich anders sehen.

Nun wird vom Autor das Wort Sackgasse genauer präzisiert. Es ist nicht irgendeine Sackgasse, die hier entsteht, sondern eine spezifische:

... alle Überlegungen [stecken] in einer Sackgasse von Ästheten und Theologen de luxe ...

Die Sackgasse, so muss man daraus schließen, ist – wenn schon nicht aus Ästheten und Luxustheologen gebildet, dann doch – ein Tummelfeld von Ästheten und Theologen de luxe. Noch genauer: wer nicht missionarisch denkt, landet in der Sackgasse dieser Ästheten und Theologen de luxe.

Was ist das für eine begrenzte Welt, in der ernsthaft so gedacht wird? Und was für ein unaufgeklärter Begriff von Ästheten wird hier verwendet? Muss man wirklich daran erinnern? Ästhetik entwickelt sich nach Baumgartens Anfängen in der Rezeption der Kantschen Kritik der Urteilskraft. Wenn man kritisch darüber sprechen will, müsste man von Ästhetizisten reden (die sich ja in der Sackgasse namens l’art pour l‘art wohlfühlen). Es aber auf die ästhetisch Denkenden und Argumentierenden zu erweitern, ist zumindest philosophiegeschichtlich dreist.

Und noch einmal gefragt: Was sind Theologen de luxe? Sind nicht alle Theologen „de luxe“? Oder sind nur bestimmte Theologen „de luxe“ und woran macht sich das fest? Weil sie nicht „missionarisch denken“? Sind also zum Beispiel alle Rabbiner „Theologen de luxe“? Oder ist etwas anderes gemeint? Der Begriff Deluxe (französisch de luxe = aus Luxus) wird verwendet, wenn Produkte besonderer und spezieller Qualität und Güte charakterisiert werden sollen. Müssten wir dann nicht ganz besonders auf die „Theologen de luxe“ aus der Sackgasse hören? Aber hier ist ein puritanischer Zungenschlag im Spiel, der Luxus als überflüssig und dekadent einordnet. Sozusagen Savonarola ante portas.

Aber die Kategorisierung geht noch weiter:

Ästheten und Theologen de luxe ohne Bodenhaftung

Die Bezeichnung „ohne Bodenhaftung“ kommt vor 1980 so gut wie nie vor. Es ist ein neudeutsches Wort in den Diskussionen der späten 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Ich vermute, es war die Antwort der Nach-68er auf die angebliche Theorielastigkeit der Vor-Generation. Die analoge studentische Stammtischphrase lautete damal: „das find‘ ich jetzt abgehoben“ oder „quatsch nicht so abgehoben“. Gemeint war, dass man sich theoretischer Gedankengänge enthalten sollte. Denn Theorie war so etwas von out. Das Grimmsche Wörterbuch jedenfalls kennt das Wort Bodenhaftung noch nicht.

Unangenehm ist mir die Phrase allein schon wegen ihrer raunenden Betonung des Bodens. Warum sollte man ausgerechnet bei theoretischen Überlegungen am „Boden“ haften? Steckt im Boden die Wahrheit? Weil es der so genannte „Boden der Tatsachen“ ist, auf dem man gefälligst bleiben soll? Das Wort Theorie (griechisch θεωρεῖν theorein ‚beobachten, betrachten, [an]schauen‘; θεωρία theoría ‚Anschauung, Überlegung, Einsicht, wissenschaftliche Betrachtung‘, ‚die Betrachtung oder Wahrnehmung des Schönen als moralische Kategorie‘) bezeichnete, wie die Wikipedia so schön schreibt, ursprünglich die Betrachtung der Wahrheit durch reines Denken, unabhängig von ihrer Realisierung. Theorie wird daher oftmals erst im Überblick einsichtig.

Das Christentum hat übrigens in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine eine wunderbare Ironisierung dieser Forderung nach einer Bodenhaftung bei der Diskussion um Architektur entwickelt. Sie stammt aus der Heiligenlegende des Ungläubigen Thomas. Dieser war im Hauptberuf Architekt und ging nach Christi Tod nach Indien. Dort bekam er den Auftrag des Königs, während dessen Abwesenheit für viel Geld einen Palast zu bauen. Thomas gab das Geld aber lieber für die Armen aus. Nach der Rückkehr des Königs zur Rede gestellt, verwies er darauf, dass er für den König einen Palast im Himmel errichtet habe – durch die Spenden für die Armen. So viel zur notwendigen „Bodenhaftung“ der Kirchbauarchitektur – umgekehrt wird ein Schuh daraus.

Das zweite Zitat, das mich bei meiner Lektüre geärgert hat, gliedert sich in zwei Sätze und lautet:

An einem Raum, der für Gottes heute wirkenden Geist taub macht, zieht der unbehauste Gott vorbei, wie die in die Hand von bloßen Kulturfunktionären geratenen Kirchen zeigen. Weil Gott mit seinem Geist nicht aufhört, sein Haus zu bauen, können die Räume in der Welt, welche den Weg zu ihm bahnen, nicht tote, gestrige, bloß museale Räume sein.

Nun ist der erste Teil des ersten Satzes sehr thetisch. Ich weiß nicht, woher der Autor seine Kenntnisse über Gottes Bewegungen hat. Aus der Heiligen Schrift gewiss nicht. Ob es Räume gibt, die wirklich für „Gottes heute wirkenden Raum taub machen“, scheint mir äußerst zweifelhaft zu sein. Hier gilt meines Erachtens doch eher: „Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.“ Populär gesprochen: Der Geist weht, wo er(!) will.

Der zweite Teil des ersten Satzes scheint mir historisch unzutreffend zu sein. Ich weiß nicht, seit wann die Kirche angeblich in der Hand von Kulturfunktionären (im Unterschied zu bloßen Funktionären und zu Kirchenfunktionären) ist, aber die soziologisch konstatierbare Bewegung weg von der Kirche dürfte dem lange vorgängig sein. Die Kulturfunktionalisierung der Kirchen ist der (freilich notwendig scheiternde) Versuch einer Antwort auf die Säkularisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft.

Der große Bruch in dieser Frage kommt mit den Gemeindezentren der 70er-Jahre und der Theologie des wandernden Gottesvolkes. Auf einer Tagung 1959 in Bad Boll verwies der Neutestamentler Eduard Schweizer darauf, dass mit dem Neuen Testament die Unterscheidung von 'profan' und 'heilig' aufgehoben sei und folgerte daraus: "wir sind von vornherein aufgerufen, alles zu tun, um dieses Mißverständnis auszuschalten, als ob es so etwas wie einen heiligen, aus der Welt abgegrenzten ... Tempelbezirk gäbe". Aus der Einsicht, dass Kirchen keine Tempel sind, wurde so eine normative Begrenzung. Die programmatische Konsequenz zog damals Werner Simpfendörfer mit der Forderung nach dem Ausschluss 'religiöser Merkmale' zur Kennzeichnung gottesdienstlicher Versammlungen, die praktische Konsequenz war der kirchliche Mehrzweckraum. Innerhalb der kirchlichen Gebäude sollte es nichts 'Heiliges' mehr geben, der Gottesdienstraum sollte in der Woche genauso selbstverständlich von Gemeindegruppen wie am Sonntagvormittag für den Gottesdienst genutzt werden.

Sind das die Kulturfunktionäre, die der Autor im Blick hat? Oder meint er die wesentlich spätere Entwicklung der Kulturkirchen, die in den Kirchen alles andere, aber nur selten Gottes Wort erklingen lässt. Diese Kulturkirchen wollen aber Antwort auf die bereits vorher eingetretene Menschenleere der Kirchenräume sein, sie sind nicht deren Ursache.

Der zweite Satz gibt nun einen tiefen Einblick in das kulturelle Selbstverständnis des Autors: Kirchenräume dürfen nicht „tote, gestrige, bloß museale“ Räume sein. Das ist eine Assoziationskette die zeigt, dass der Autor seit 30 Jahren nicht mehr in einem Museum war. Das ist das Niveau von Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II, denen man im Unterricht ankündigt, man gehe jetzt ins Museum als außerschulischem Lernort. Was? Ach, wie langweilig!

Keine Ahnung mehr von den Gesprächen vor Gemälden der romantischen Bewegung, keine Selbstverständlichkeit, am (nicht zuletzt musealen) Diskurs über die Kultur der Menschheit teilzunehmen. Alles nur noch tot, gestrig, museal. Das nenne ich einen intellektuellen Offenbarungseid. Ach, was waren das noch für Zeiten, als die deutschen avantgardistischen Intellektuellen Zeitschriften mit Titeln wie „Athenäum“, „Europa“ oder „Deutsches Museum“ betrieben. Heute ist derartiges nur noch tot, gestrig, museal. Was für eine armselige protestantische Kultur! Nur zur Erinnerung: Alle Kirchenräume sind tote Räume. Lebendig werden sie durch die das Wort Gottes feiernde Gemeinde. Alle Kirchenräume sind gestrige Räume, sie zeigen die Gebrauchsspuren derer, die in ihnen feierten; Zukunft eröffnen sie den Menschen nicht aus sich heraus, sondern nur durch die Verkündigung des Wortes Gottes. Alle Kirchenräume sind museale Räume, insofern sie zu betreten heißt, zu erwarten, dass man an einer religiösen Tradition (der Verkündigung des Wortes Gottes) teilnimmt. Fällt das fort, bleibt nur noch Folklore. Dann können wir das Feld gleich der Kirchenraumpädagogik überlassen.


'Überfremdung' – 20. 07.2016

Schauen wir uns zunächst einmal den Graphen für die Häufigkeit des Gebrauchs des Wortes „Überfremdung“ in der deutschen Sprache (zumindest in der deutschen Buchkultur) zwischen 1900 und 2008 an.

Man wird sich bei der Betrachtung des Graphen des Eindrucks nicht erwehren können, dass die Rede von ‚Überfremdung‘ eine faschistoide Rede ist. Zu eindeutig ist der zeitliche Zusammenhang zwischen dem Aufkommen dieses Wortes und den historischen Entwicklungen. Interessant ist diese Beobachtung im Kontext der aktuellen Diskussionen – gerade auch der binnenkirchlichen – um die Flüchtlingsfrage. Wer hat ein Interesse daran, diese Flüchtlingsfrage unter dem Stichwort „Überfremdung“ abzuhandeln, wer nutzt dieses Wort und wer steuert dem entgegen? Am gestrigen Tag betitelt das evangelikale Nachrichtenportal Idea einen Text mit der Überschrift: „Ist die Angst vor Überfremdung unchristlich?“ Und es wäre nicht Idea, wenn am Ende nicht herauskäme, dass diese Angst vor ‚Überfremdung‘ durchaus Chrententums-kompatibel ist. Idea insinuiert, der erste Gebrauch des Wortes ‚Überfremdung‘ ginge auf den Bischof der Berlin-Brandenburgischen Kirche, Markus Dröge, zurück:

Nach Ansicht des Bischofs der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, Markus Dröge, braucht der keine Angst vor Überfremdung zu haben, der im christlichen Glauben gefestigt ist.

Ausweislich der epd-Pressemeldung hat der Bischof aber ganz andere Formulierungen gewählt: danach gehe es darum „ein klares Nein zu Ausgrenzung und Sündenbockdenken“ auszusprechen und „die Angst vor dem Fremden“ zu überwinden. „Es dürfen nicht die schwächsten Glieder der Gesellschaft, die Flüchtlinge, die eine Heimat suchen, zu Sündenböcken gemacht werden.“ Deshalb sei diese Grenzüberschreitung „nicht tolerierbar“. Die deutsche Geschichte zeige, wohin es führe, wenn bestimmte Menschengruppen pauschal beschuldigt und als Ursache für soziale Probleme gebrandmarkt werden. „Das darf es in Deutschland nie mehr geben“. Wer für Christlichkeit in diesem Land eintreten wolle, tue dies „am besten, indem er sich wie der barmherzige Samariter für die einsetzt, die Hilfe brauchen“, fügte der Bischof hinzu.

Keine Wort also von der Angst vor ‚Überfremdung‘, nur die Angst vor dem Fremden wird thematisiert. Alles andere wäre auch überraschend gewesen. Die Formulierung „Angst vor Überfremdung“ geht demnach auf idea zurück. Die BILD fügt ihrer Meldung der Haltung Dröges zur Erläuterung folgenden Satz hinzu: „Die islamfeindliche, rechtspopulistische Bewegung «Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes» organisiert seit Wochen Demonstrationen gegen angebliche Überfremdung“. Damit distanziert sich auch die BILD von der These von der ‚Überfremdung‘ und macht sie als Meme der Rechtspopulisten kenntlich. Nichts davon bei Idea. Es nutzt die faschistoide Sprache ohne sie – wie die BILD – als ihm fremde Sprachform kenntlich zu machen. Und das Portal geht noch weiter. In vertrauter Form sucht es die Amtskirche durch konterkarierende Äußerungen von evangelikalen Theologen in Frage zu stellen. Zunächst fragt Idea den Präses der rheinischen Kirche und der antwortet:

„Der Angst vor ‚Überfremdung’ ist nicht nachzugeben, sie ist zutiefst unchristlich.“

Er setzt das Wort ‚Überfremdung‘ in Anführungsstriche, eben weil es aus dem Wörterbuch des Unmenschen stammt. Mich würde interessieren, ob Idea ihm das Wort vorgegeben hat. Idea macht sich nun auf die Suche nach Stellungnahmen von anderen Theologen, die für das Portal die Rede von der ‚Überfremdung‘ rechtfertigen. Ein professoraler Emeriti meint mit Verweis auf das Alte Testament die These aufstellen zu können, wenn man sich nicht vor den Fremdlingen in Acht nehme, werde man Gottes hartem Gericht unterworfen. So etwas nennt man wohl programmatische Fremdenfeindlichkeit. Und dann stellt der Emeriti eine Frage, eine von der Art, von der Pegida-Anhänger immer meinen, man würde doch wenigstens noch fragen dürfen:

In diesem Zusammenhang müsse man die Frage stellen: „Wann werden bei den unter 30-jährigen jungen Männern in Deutschland die Muslime die Mehrheit erreicht haben?“

Daran ist einiges bemerkenswert. Sehen wir einmal von der Unterstellung ab, alle Flüchtlinge bzw. Fremden seien Muslime, sehen wir einmal von der Unterstellung ab, alle Muslime seien auch praktizierende Muslime, sehen wir einmal von dem impliziten Rassismus ab, ausgerechnet nach 30-jährigen jungen Männern zu fragen, dann können Bevölkerungsstatistiker durchaus diese Frage in der Tendenz beantworten: nicht in 10 Jahren, nicht in 20 Jahren, nicht in 50 Jahren und auch nicht in 80 Jahren. Für 2030 wird ein Bevölkerungsanteil der nominell muslimischen Bevölkerung (also nicht der praktizierenden Muslime) von etwa 10% prognostiziert. Vielleicht wird dieser Anteil bis 2070 auf 20% gestiegen sein. Er wird aber in diesem Jahrhundert nicht einmal ansatzweise 50% der bundesdeutschen Bevölkerung erreichen. Es gibt keinen seriösen Statistiker, der derartiges behaupten würde. Welches Interesse aber hat man, derartiges durch eine Frage anzudeuten? Wenn heute jemand fragen würde „Wann werden bei den unter 30-jährigen jungen Männern in Deutschland die Juden die Mehrheit erreicht haben?“, würden wir es als das bezeichnen, was es ist: Antisemitismus. Die Wahrheit ist: In 80 Jahren wird der überwiegende Anteil unserer Bevölkerung religionslos sein – wenn denn der deutsche Sonderweg der Säkularisierung so weitergeht.

Den Gipfelpunkt erreicht die Infamie, wenn nun auch noch Dietrich Bonhoeffer für den latenten Rassismus und gegen die Flüchtlinge instrumentalisiert wird. Der befragte Theologe

verweist auf einen Ausspruch des Theologen und Gegners der Nationalsozialisten Dietrich Bonhoeffer (1906–1945): „Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch (heute müsste man sagen: als ‚Gutmensch‘) aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiterleben soll.“

Implizit werden durch diese Formulierung Muslime auf eine Stufe mit Nationalsozialisten gleichgestellt. Bei beiden muss man sich angeblich als Christ fragen, wie es um die Zukunft bestellt ist. Schon das ist schrecklich.

Dann aber muss man auf den konkreten Kontext des Bonhoeffer-Zitats eingehen. Der Einschub mit dem Gutmenschen unterstellt ja, die heroische Handlung und die Handlung des Gutmenschen seien substituierbar (damals ‚heroisch‘ – heute ‚Gutmensch‘). Auch das ist ungeheuerlich, denn damit werden nun die angeblichen Gutmenschen (also jene Christen, die den Flüchtlingen helfen) auf eine Ebene mit den Nationalsozialisten gestellt. Denn die waren in Widerstand und Ergebung mit dem „heroisch“ angesprochen. Schauen wir uns das Originalzitat genauer an:

„Die Rede vom heroischem Untergang angesichts einer unausweichlichen Niederlage ist im Grunde sehr unheroisch, weil sie nämlich den Blick in die Zukunft nicht wagt. Die letzte verantwortliche Frage ist nicht, wie ich mich heroisch aus der Affäre ziehe, sondern wie eine kommende Generation weiter leben soll. Nur aus dieser geschichtlich verantwortlichen Frage können fruchtbare – wenn auch vorübergehend sehr demütigende – Lösungen entstehen. Es ist sehr viel leichter, eine Sache prinzipiell als in konkreter Verantwortung durchzuhalten.“

Dietrich Bonhoeffer sagt exakt das Gegenteil dessen, was Idea und der emeritierte Professor unterstellen. Keiner, der sich in der Flüchtlingsfrage engagiert, wünscht sich den ‚heroischen‘ Untergang oder spricht von der unausweichlichen Niederlage (angesichts der angeblichen Flüchtlingswelle). Das ist Quatsch. Bonhoeffer bezieht sich auf Formulierungen, die dem auch von den Nationalsozialisten gebrauchten „Lieber tot als rot“ entsprechen. Diese scheinbar heroische Rede ist unheroisch, weil sie den Wert des Lebens nicht bedenkt. Es geht stattdessen darum, geschichtlich verantwortete Lösungen zu finden. Genau das machen jene, die sich in der Flüchtlingsfrage in Deutschland engagieren. Die Verwendung des Bonhoeffer-Zitats gegen die gerade im Namen des Christentums Engagierten und deshalb als Gutmenschen denunzierten, ist schlicht eine Beleidigung. Nein, das Christentum ist keine xenophobe Religion. Und wir müssen uns gegen alle verwahren, die uns das einreden wollen.


Meine Brüder – 20.7.2016

Zu der gerade besprochenen Meldung gibt es bei idea selbstverständlich eine Menge zustimmender Kommentare. Wo käme man hin, wenn man Flüchtlingen helfen würde – zumal als Christ. Interessant ist die gestörte Wahrnehmung, die dabei zutage tritt. Da schreibt jemand:

Bestes Beispiel ist ist der gestrige Anschlag mit einem Beil auf völlig ahnungslose Menschen. Ein minderjähriger Afghane wird freundlich aufgenommen, findet Zuwendung in einer Familie, ist scheinbar völlig unauffällig und wird innerhalb von wenigen Augenblicken zu jemandem, der Mordanschläge verübt, wahllos an Deutschen. Die Angst ist völlig berechtigt, wenn man befürchten muss, dass jeder freundliche Fremde hinter der Stirn Hass und Verblendung verbirgt.

Von dem paschtunischen Jugendlichen werden bei seinem Anschlag vier Menschen schwer verletzt, eine Person leicht verletzt. Vier der Verletzten waren Touristen aus Hongkong! Wie man daraus ableiten kann, der Junge sei wahllos auf Deutsche(!) losgegangen, weshalb man sich nun vor Flüchtlingen fürchten müsse, ist mir unerklärlich.

Ebenfalls interessant ist die Reaktion eines Foristen auf den Verweis des rheinischen Präses auf Matthäus 25,35: „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.“ Der Leserbriefschreiber meint, da habe der Präses wohl nicht recht hingeschaut:

... bitte lesen Sie die Bibelstellen vom sogenannten Völkergericht noch einmal genau! Die geretteten Menschen sind überrascht, dass sie Jesus etwas gutes getan haben, sie kannten Jesus also nicht. Christen kennen ihren Herrn. Und außerdem sagt Jesus: "Was ihr einem meiner geringsten BRÜDER getan habt, das habt ihr mir getan"! Die geringsten Brüder sind die, welche an ihn glauben! Also Christen, und nicht irgendwelche armen Menschen!

Richtig verständlich wird nicht, was der gute Mann sagen will. Die geretteten Menschen sind demnach keine Christen, weil sie Jesus nicht erkannten, Christen aber ihren Herrn kennen? Da hat jemand wohl die Sachaussage von Matthäus 25 nicht verstanden. Denn auch Christen hätten in den Hilfsbedürftigen nicht Jesus erkannt, sondern in ihnen Christus vertreten gesehen. Und dann das Argument mit den Brüdern, darauf muss man erst mal kommen (wollen). Da hat der Mann natürlich Recht. So viel sola scriptura muss sein. Schließlich kennt Matthäus 25, 40 nur die Brüder, denen man geholfen hat. Daraus lernen wir also nach dieser verqueren Logik: Man hilft nur fremden, nackten, hungernden, obdachlosen christlichen Brüdern, nicht Muslimen, nicht ‚irgendwelchen‘ anderen Armen und vermutlich schon gar nicht Frauen. Die werden in Matthäus 25, 40 ja nicht erwähnt. Wie er das dann freilich mit der Verwerfung von Matthäus 25, 45 in Einklang bringen will, die die Adressierung an die Menschenbrüder nicht aufführt, muss unser guter Mann selbst klären. Wie will man so etwas noch von der Ideologie der Deutschen Christen unterscheiden?

Aber man muss ja einfach nur die ‚richtigen‘ Kontexte herstellen, wie ein anderer Forist eindrucksvoll zeigt:

Genau, das ist die richtige Frage: "Wann werden bei den unter 30-jährigen jungen Männern in Deutschland die Muslime die Mehrheit erreicht haben?" Ein Beispiel: In der Subsahara gibt es 190 Mill. Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Wenn lediglich 4,5% dieser jungen Menschen nach Deutschland kämen, würden sie 50% in dieser Altersgruppe stellen.  

Ja mit diesem überaus eindrücklichen, geradezu wunderbaren Beispiel hat der Leserbriefschreiber natürlich Recht. Wenn 5 % der Jugendlichen aus der Subsahara nach Deutschland kämen, dann würden sie 50% der Jugendlichen in Deutschland stellen.

Es stellt sich nur die Frage: Was hätte das für Folgen für den deutschen Religionsatlas? Nun, der Anteil der Christen würde steigen! Denn was der Mann bei seiner aberwitzigen Überlegung übersehen hat, ist die Religionsverteilung in Afrika. Die Subsahara ist nicht mehrheitlich muslimisch, sondern – von wenigen Ausnahmen abgesehen – christlich.

Schauen wir einmal auf die Religionsentwicklung in der Subsahara seit 1900.

So gesehen müssten eher die Muslime Angst haben. Die Christen hatten 1900 einen Bevölkerungsanteil von 9% und haben 2010 einen Anteil von 57%, sie haben ihren Anteil also mehr als versechsfacht. Die Muslime, die 1900 mit 14% noch einen höheren Anteil als die Christen hatten, haben sich „nur“ verdoppelt und sind halb so viele wie die Christen.

Also handelt es sich bei dem erwähnten Argument um puren Rassismus. Er will einfach keine „Schwarzafrikaner“ hier haben, Religion hin oder her. Und er will keinesfalls seinem eben erwähnten Kollegen aus der Leserbriefspalte bei Idea folgen, der doch gerade die Asylhilfe für die marginalisierten christlichen Brüder gefordert hatte. Nach dessen Logik (vorrangige Hilfe für die hungernden, dürstenden, verfolgten, nackten christlichen Brüder) müssten wir doch eine Luftbrücke aus der Subsahara nach Deutschland einrichten. Aber vermutlich sind Menschen aus der Subsahara auch keine Brüder.


Νεφελοκοκκυγία – oder das rasende Gefasel der Gegenaufklärung – 20.07.2016

Ja, die gebildet Ungebildeten unter den Verächtern unserer demokratischen Kultur. Die Toleranz für nicht tolerierbar halten und zu deren Werten die Abweisung des Fremden gehört. Sie beherrschen die deutsche Sprache wie kein Emigrant, sie reden metapherntrunken wie kaum ein anderer, aber sie verfügen – zumindest laut Selbstauskunft – über eines: eine kulturell religiöse Identität.

Und dazu gehört aber eben auch, dass sie nicht wissen, wovon sie reden.

Es ist kaum noch zu ertragen wie seifig die Aussagen offizieller Vertreter der EKD sind. Gutmenschliches Wolkenkukuksheim im abgestandenen Zeitgeist der friedensbewegten Grüngestrigen. Die Realität in den Städten, die Lebenserfahrungen mit den Anhängern des Islam, und die andauernde Zurücksetzung der eigenen Werte zugunsten einer sogenannten Toleranz die in Wahrheit eine Kapitulation vor den Forderungen der "Fremden" ist, sind Fakt. Dann auch noch Jesus zu bemühen, der sich als "Gast" sicherlich nicht wie die Axt (Würzburg) aufgeführt hätte, oder sich zu Fein gewesen wäre einer Frau die Hand zu geben (Berlin), ist hart an der Grenze zum Falsch-Zeugnis. Ich würde gerne einmal von Herrn Rekowski wissen, wie er einem Grundschulkind, das das einzige mit Deutsch / Deutschen Eltern in der Klasse ist und alleine schon durch die Sprache von Spiel der anderen ausgegrenzt wird, die Vorzüge seines regenbogenfarbenen Weltbildes erklärt. Unsere Kinder fragen Ihn mit Bonhoeffer warum die kommenden Generationen für das wirre Weltbild der Gutmenschen mit dem Verlust ihrer kulturell religiösen Identität bezahlen müssen.

Ach, wenn diese BioDeutschen doch wenigstens die deutsche Sprache beherrschen würden, wenn sie wüssten, was sie schreiben, wenn sie ihre Vorurteile in die Tasten rotzen. Sicher, die Lektüre von Aristophanes gehört nicht zur Durchschnittsbildung eines BioDeutschen, dessen Komödien sind eher etwas für kulturell Ambitionierte. Die Vögel hält der BioDeutsche für ein Stück von Alfred Hitchcock, das er noch nie wirklich verstanden hat, weil er die gleichnamige Komödie, in der die Vögel ein Wolkenkuckucksheim errichten und damit sowohl die Götter wie die Menschen beherrschen, nicht kennt. Wer Aristophanes‘ Komödie kennt, würde jedenfalls niemals von einem „gutmenschlichen Wolkenkukuksheim“ schreiben. ‚Gutmenschlich‘ ist daran nichts – ganz im Gegenteil. Friedensbewegt ist das Wolkenkuckucksheim auch nicht, es geht um Boykott, Erpressung, Nötigung, um Macht und Herrschaft. Aber woher soll ein BioDeutscher das auch wissen, es ist schließlich griechische Literatur? Aber man wird wenigstens klagen dürfen über „die andauernde Zurücksetzung der eigenen Werte zugunsten einer sogenannten Toleranz“. Wer wird schon darauf bestehen, dass Toleranz zu den urprotestantischen Tugenden gehört und keinesfalls eine „Kapitulation vor den Forderungen der ‚Fremden‘“. Und dann das Deutsch/Deutsche-Schulkind. Ich wohne in einer Stadt mit einem Migrationsanteil von 32,7%. In der Schule nebenan dürfte die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben. Aber die gleichen(!) Kinder haben oft auch deutsche Eltern, weil diese bzw. deren Eltern mit der ersten Gastarbeiterwelle zu uns gekommen und längst eingebürgert sind oder doch die doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Ein eingebürgerter Deutscher ist für manche Idioten immer noch kein Deutscher, man legt Wert auf den Ariernachweis. Soweit zu den unumstößlichen kulturellen Werten mancher BioDeutscher.


Das Herausgegangene - 30.07.2016

Was sagt die Bibel über die religiös angemessene Nutzung von Toiletten? Man sollte meinen: nichts. Das ist nicht ganz zutreffend, aber dazu später mehr. Durch die religiös-reaktionäre Presse geistert eine Meldung, dass ein amerikanischer Bürger seinen Job verloren habe, weil er sich unter Berufung auf seinen Glauben und hier insbesondere unter Berufung auf die Bibel gegen Gendertoiletten ausgesprochen hat.

Der Hintergrund ist simpel: Besucher eines Einkaufszentrums hatten sich beschwert, dass auf der Frauentoilette ein Mann sei. Das Sicherheitspersonal überprüfte das und traf tatsächlich eine männliche Person an. Diese erklärt freilich, dass sie transgender sei und sich als Frau verstehe. Die Regeln des Warenhauses erlauben es Transgender-Menschen, die Frauentoilette zu nutzen. Der Sicherheitschef des betreffenden Warenhauses, ein bekennender Katholik, protestiert dagegen schriftlich und sagt, derartige Regelungen verstießen gegen seinen Glauben und gegen die Bibel. Da die Firmenleitung ihre Transgender-freundliche Haltung nicht aufgeben will, kündigt sie ihrem Mitarbeiter. Der will sich damit nicht abfinden und klagt gegen die Kündigung mit dem Argument, hier werde die Religionsfreiheit verletzt. Das ist Realsatire, wie sie kaum überboten werden kann. Aber der Mann erntet keinesfalls ein schallendes Gelächter, sondern bekommt Unterstützung von der Katholischen Liga für Religionsfreiheit und Bürgerrechte.

Nun ist klar, dass konservative Christen weltweit durch derartige Regelungen ‚unterdrückt‘ werden. Nicht einmal Zug fahren kann man als konservativer Christ. Denn kaum eine Zugtoilette weltweit ist exklusiv für Frauen reserviert, nahezu alle werden ungeheuerlicher Weise auch von Männern – und nicht nur von Transgender-Menschen – benutzt. Ich vermute, die Bibel der Konservativen und der konservative christliche Glaube sehen darin eine elementare Verletzung der elementaren religiösen Rechte des Einzelnen. Oder geht es vielleicht gar nicht darum, dass Männer die gleichen Toiletten wie Frauen nutzen, sondern darum, Menschen mit einer nicht nur binären Codierung der geschlechtlichen Identität zu diskriminieren? Vermutlich. Und der gute Mann und die Katholischen Liga für Religionsfreiheit und Bürgerrechte fordert das Recht dazu, derartige Menschen zu diskriminieren.

Die Idee, in der Bibel könnte irgendetwas über moderne Toilettenanlagen stehen, ist natürlich absurd und lächerlich. Würde man sich freilich fundamentalistisch auf einzelne Bibelstellen als Handlungsnorm beziehen, müsste der gut biblisch begründete Protest sich darauf beziehen, dass in einem Einkaufszentrum überhaupt eine Toilettenanlage ist. Das ist der eigentliche religiöse Skandal, der keinesfalls toleriert werden kann und gegen den ein konservativer Christ protestieren muss! Wie kann eine säkulare Gesellschaft es wagen, Orte des Unreinen dort einzurichten, wo Reines gekauft werden soll? Denn צֵאָה (das Herausgegangene) ist natürlich unrein und der Mensch hat sich dem so weit wie eben nur möglich fern zu halten. Deuteronomium 23, 13-14 regelt zum Beispiel, dass die Notdurft vor dem Lager verrichtet und dann mit einem Werkzeug möglichst tief vergraben werden muss (Vgl. Wibilex Art Kot / Mist / Dreck). Als religiöser Mensch habe ich also ein Anrecht darauf, dass in keinem Einkaufszentrum, in dem ja schließlich auch Kochgeräte und Lebensmittel verkauft werden, Anlagen zur Verrichtung der Notdurft zu finden sind. Nur weit außerhalb der Gebäude sollten derartige Möglichkeiten eingerichtet werden. So steht es in der Bibel. Von Frauen- oder Männertoiletten weiß sie meines Erachtens nichts.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/am547.htm
© Andreas Mertin, 2016