Die sieben Werke der Barmherzigkeit

Ein Beispiel diakonischer Kunst - wiederbetrachtet

Andreas Mertin

Vorbemerkung

Als wir dieses Heft aus Anlass des 75. Geburtstages von Hans Jürgen Benedict konzipierten, dachte ich zunächst, ich sollte – den ästhetischen Interessen des Jubilars entsprechend – etwas über Theologie und Literatur schreiben. Vielleicht könnte ich anknüpfen an erste Publikationen, die ich 1983 zusammen mit Jörg Herrmann über „Erzählende Theologie“ geschrieben habe.[1] Auch die Erzählende Theologie im Gefolge von Johann Baptist Metz ist ja Politische Theologie, so wie sich Hans-Jürgen Benedict dezidiert als politischer Theologe versteht.[2] „In der Kleinen Apologie des Erzählens (1973) weist J. B. Metz die gemeinschaftsbildende, identitätsstiftende Funktion der narrativen Erinnerung in der Geschichte des Christentums zu. Den Akzent legt er auf religiöse Erfahrungen, die weder durch den Ritus noch durch das Dogma vermittelt werden können. Die Schöpfung, die Auferstehung sowie die Leidens-, Erlösungs- und Heilsgeschichte sind nur in narrativen Form artikulierbar: „sie alle sprengen das argumentative Räsonnement und widersetzen sich einer perfekten Auflösung oder Umsetzung einer Erzählgestalt. Sie bringen den Logos der Theologie, sofern er sich sein erzählendes Wesen verbirgt, in jene Verlegenheit, von der die Vernunft steht, wenn sie sich etwa den Fragen nach Anfang und Ende und nach der Bestimmung des Neuen, noch nicht Gewesenen stellt" (1973, S. 335).“[3]

Soweit meine ursprünglichen Überlegungen. Dann aber stieß ich per Zufall auf ein Kunstwerk, dass mir geradezu ideal geeignet schien, nicht nur das „Vita brevis ars longa“ zu meditieren, das die Überschrift zu diesem Heft bildet, sondern auch in bestimmten Aspekten einiges mit der Vita des Jubilars zu tun hat: Das Polyptychon Die sieben Werke der Barmherzigkeit des Künstlers mit dem Notnamen Meister von Alkmaar. Und Narrative Theologie lässt sich ja ohne Probleme mit der Deutung mittelalterlicher Bildwerke verbinden.[4] Das Ergebnis meiner Studien lege ich Hans-Jürgen Benedict (und Ihnen, liebe Leserinnen und Leser) hiermit vor:


Die Werke der Barmherzigkeit

Die Werke der Barmherzigkeit finden sich in einer Aufzählung im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums, dem Kapitel über das Weltgericht. Demnach wird es beim Weltgericht eine Teilung der Erschienenen geben, in jene, die Jesus etwas Gutes getan haben und jene, die genau dies unterlassen haben. Auf die Nachfrage, wann man denn konkret gegenüber Jesus so gehandelt habe, antwortet dieser: alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan (Vers 40).

Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen; ich war durstig, ihr gabt mir Wasser; ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war nackt, ihr habt mich gekleidet; ich war krank, ihr habt mich gepflegt; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen. ... Wahrhaftig, ich sage euch, alles, was ihr für eines dieser meiner geringsten Geschwister getan habt, habt ihr für mich getan.

Die Aufzählung umfasst sechs barmherzige Werke, die sich zum Teil kontextuell erklären. In wasserreichen Gegenden wäre etwa die Aufforderung, Durstige zu tränken nicht so dringend gewesen wie in Weltgegenden, in denen Wassermangel herrscht. Jedenfalls sind die Werke konkret an den Bedürfnissen der Menschen orientiert.

In der Bild-Geschichte der Christenheit treffen wir aber auf eine leicht erweiterte Liste:

  1. Hungrige speisen
  2. Durstige tränken
  3. Fremde beherbergen
  4. Nackte bekleiden
  5. Kranke besuchen
  6. Gefangene besuchen
  7. Tote bestatten

Das ist eine Liste, bei der die ersten sechs Werke auf den Matthäus-Text zurückgehen, das siebte aber vom Kirchenvater Lactantius (250-325) unter Bezug auf das Buch Tobias (1,19f) ergänzt wurde.

Da „ging Tobias wieder bei allen Israeliten umher und tröstete sie und gab ihnen von seinem Vermögen, soviel er konnte: die Hungrigen speiste er, die Nackten kleidete er, die Toten und Erschlagenen begrub er.“

Präziser müsste man aber sagen, dass Lactantius in seinem Werk Epitome divinarum institutionum neun Werke der Barmherzigkeit auflistet:

„Nahrungsbedürftigen wollen wir mitteilen, Nackte bekleiden, Unterdrückte aus der Hand der Übermacht befreien. Unsere Wohnung stehe Fremdlingen und Obdachlosen offen; Waisen fehle nicht unsere Verteidigung, Witwen nicht unser Schutz. Gefangene vom Feinde loszukaufen, ist ein großes Werk der Barmherzigkeit, ebenso Kranke und Arme zu besuchen und zu erquicken. Mittellose und Ankömmlinge mögen im Tode nicht unbestattet bleiben.“[5]

Die Durstigen lässt Lactantius weg, weil das schon nicht mehr ein Problem seiner Zeit war. Und er ergänzt die Befreiung der Unterdrückten(!), die Verteidigung der Waisen, den Schutz der Witwen und die Bestattung der Mittellosen und Zugezogenen. Gerade in den politischen Auseinandersetzungen des 21. Jahrhunderts ist seine Liste es wert, detailliert aufgezählt zu werden, denn in den gewaltsamen Auseinandersetzungen in Syrien und im Iran sind es nicht zuletzt die Witwen und Waisen, die leiden müssen und die Fremden, die unserer Fürsorge bedürfen:

  1.         Hungernde speisen
  2.         Nackte kleiden
  3. [neu] Unterdrückte befreien
  4.         Fremde und Obdachlose beherbergen
  5. [neu] Waisen verteidigen
  6. [neu] Witwen schützen
  7.         Gefangene vom Feind loskaufen
  8.         Kranke und Arme besuchen und erquicken
  9. [neu] Mittellose und Zugezogene bei Tod bestatten

Politisch ist diese Aufzählung, weil sie zunächst einmal offenlegt, was – z.T. bis heute – nicht selbstverständlich von einer Gesellschaft vollzogen wird. Es gibt auch 2000 Jahre später Hungernde auf diese Welt, Menschen, die nicht über ausreichend Kleidung verfügen, Unterdrückte, Fremde und Obdachlose, hilflose Waisen und bedrängte Witwen, willkürlich Festgesetzte, darbende Kranke und Arme und viele, die nicht mit Würde bestattet werden. All dies ist weiterhin eine aktuelle Herausforderung. Es gehört vielleicht zum anthropologischen Realismus von Matthäus 25 und des Kirchenvaters Lactantius, dass sie davon ausgegangen sind, dass es sich um dauerhafte Probleme der Menschheit handelt. Nichts ist gut in der sozialen Welt der Gegenwart könnte man zusammenfassend sagen. Das wird auch deutlich auf dem Werk, das nun im Folgenden im Fokus stehen soll.


Der Meister von Alkmaar

Ich habe die vorgestellten Bilder in einem Set im Rijksstudio des Rijksmuseums Amsterdam zusammengestellt. Wer also auf hochauflösende Bilder blicken möchte und die einzelnen Werke im Detail studieren will, kann hier zugreifen: Werke der Barmherzigkeit.

Im Rijksstudio gibt es auch die Möglichkeit, die Bilder im Format 3000x6000 Pixel herunterzuladen oder sich eigene Sets anzulegen. [https://www.rijksmuseum.nl/en/rijksstudio]

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Meister von Alkmaar, Polyptychon mit den Sieben Werken der Barmherzigkeit, 1504, 119x470 cm

Der Name des Künstlers, der das Polyptychon zu den Sieben Werken der Barmherzigkeit geschaffen hat, ist bis heute nicht bekannt, über ihn kann nur spekuliert werden. Das einzige Identifizierbare ist ein Monogramm mit in den Klauen eines kleinen Löwen auf dem ersten Bild zur Speisung der Hungrigen. Das reicht aber kaum zur Identifizierung. Der Urheber trägt daher bis heute den Notnamen Meister von Alkmaar.

Kindlers Malereilexikon fasst den Erkenntnisstand so zusammen:

Das 1504 datierte Werk ist ein schönes und wichtiges Dokument der frühen holländischen Malerei. ‚Mit ehrlichem Mut und unbefangener Geradheit‘, wie M. J. Friedländer es treffend charakterisierte, gestaltete der Künstler die Barmherzigkeitsbilder als Ausblicke auf altholländische Straßenszenen und als Einblicke in die holländische Häuslichkeit: Weiche Helligkeit breitet sich aus; eine idealisierte Christusgestalt mischt sich unaufdringlich unter die Gruppen der Wohltäter, wie auf der Tafel Dürstende erquicken oberhalb des kahlköpfigen Burschen. Die Kunst des Meisters ist dem Haarlemer Maler Geertgen tot Sint Jans und der Geertgenschule verwandt, doch nicht in dem Ausmaß, daß man nicht an einen eigenständigen, im nördlicher gelegenen Alkmaar schaffenden Künstler denken könnte. Daher identifizierten Friedländer und Hoogewerff den Meister, was sehr wahrscheinlich ist, als den Alkmaarer Maler Cornelis Buys I., der 1524 starb; von ihm berichten die Quellen, daß er der Lehrer von Jan van Scorel war.“[6]

Anlässlich des Ankaufs durch das Amsterdamer Reichsmuseums nennt der Kunsthistoriker Otto Hirschmann das Werk 1919 in den Monatsheften für Kunstwissenschaft eine „Augenweide ohnegleichen“ und fährt fort:

Was die Barmherzigkeitsbilder so anziehend macht, ist neben ihrer milden Farbenpracht vor allem der behagliche, leicht verständliche Ton der Erzählung, den der Meister getroffen hat. Mit einer naiven Fabulierfreudigkeit fügt er Beobachtungen aus seinem Alltagsleben, von der Straße, aus der Krankenstube zusammen, unter dem Vorwande, die sieben heiligen Pflichten zu illustrieren. Obschon als Kirchenbild gedacht, überrascht doch gerade die weltliche Unbefangenheit der Auffassung, Christus, der sich auf allen sieben Darstellungen unter die Bedürftigen mischt, hat keinen Glorienschein; da er unbemerkt bleiben will, hat er sich durch einen solchen nicht verraten wollen! Das Fehlen einer festen formalen Überlieferung für diese freien Straßen- und Innenszenen lud den Maler dazu ein, am Leben Anschluß zu suchen und nötigte ihn, seine eigene Erfindungsgabe spielen zu lassen. In der Gegenüberstellung von menschlicher Armut und Hilflosigkeit einerseits, wohlversorgter Bürgerbehäbigkeit und ruhiger Gebefreude andrerseits fand er ein dankbares Feld für die Entfaltung seiner Fähigkeiten. Wie sehr hier seine Stärke liegt, belegen die reizenden Kleinfigurenszenen der Hintergründe; der Leiermann mit seinem Hündchen, die mit dem Marktkorb heimkehrende Dienstmagd, der blinde Bettler mit seinem voraustastenden Sohn, der Arzt am Krankenbett, das sind abgerundete Genrebildchen von einer Drastik und dabei Zartheit, wie sie von seinen Zeitgenossen nicht erreicht, von einer spätem Kunst kaum übertroffen worden ist. Hingegen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die unvermeidliche Häufung der Figuren in den Vordergrundszenen dem Maler viel Mühe verursacht hat; wo sich keine Gelegenheit zu ausladenden Bewegungen bot, entstanden Gruppen von erstaunlicher Steifheit, wie auf dem Bild der Krankenpflege. Ebensowenig war er ein Meister in der Einzelcharakteristik; seine Typen sind von einer etwas blöden Eintönigkeit, die nur durch die leicht karikierten, drolligen Bettlerfiguren unterbrochen wird. Unter diesen allerdings befinden sich Jammergestalten, die in ihrer derben Tragikomik schon den großen Breughel ahnen lassen. Was für ein ergötzlicher Einfall z. B. dieser hungrige Vagabund, der sich sein ihm wie ein Äffchen auf den Schultern sitzendes Knäbchen mit einem Band um den Kopf festgebunden hat!“[7]

Das ist ein ambivalentes, aber durchaus zutreffendes Lob. Jedenfalls macht all das neugierig auf einen Künstler, der die einfachen Menschen durchaus derb zeichnet und zugleich durch diverse Details geradezu liebevoll in den Vordergrund stellt.

Man kann an Santi Buglionis Terrakottafries am Ospedale del Ceppo in Pistoia von 1502 sehen, wie stark das Thema in der Regel kirchlich bestimmt war. Hier wimmelt es nur so von Heiligen, Mönchen und Nonnen,[8] die den Blick auf den Alltag durchaus verstellen. Hier sind die Menschen nur als Empfänger kirchlicher Caritas im Blick. Das ist beim Meister von Alkmaar anders.


1 – Hungrige speisen

Schon beim ersten Bild zum Thema „Hungrige speisen“ werden wir auf die außerordentliche Machart des Künstlers aufmerksam. Die gesamte Szene spielt in einer nordholländischen Stadt, man hat an Haarlem, aber auch an Alkmaar selbst gedacht. Der obere Bildrand ist stark beschädigt, was auf die Aktivitäten reformierter Bilderstürmer zurückgeführt wird.[9]

Das Bild teilt sich in drei Zonen menschlicher Aktivität: die Speisung der Hungrigen im Vordergrund, die Speisung des Musikanten im Mittelgrund des Bildes und eine etwas unklare Szene am rechten Bildrand. Eine Skulptur auf der Zinne des rechten hinteren Hauses wäre für zeitgenössische Betrachter vermutlich als Element eines ortsbekannten Hauses identifizierbar gewesen: die Skulptur zeigt einen Wächter(?), der eine Handzimbel(?) schlägt. Zum Eingang des Hauses führt eine Treppe, an deren Handlauf die bereits erwähnte kleine Löwenskulptur mit dem Monogramm zu sehen ist. Auf den Treppenstufen sitzt die – neben Christus – einzige Person des Bildes, die den Betrachter direkt anblickt. Man könnte in Verbindung mit dem Monogramm an einen Hinweis auf den Künstler denken, wenn diese Figur nicht so jung dargestellt wäre. Rechts daneben sehen wir eine Frau/Magd, deren offenbar leerer Korb darauf hinweist, dass sie ihre karitativen Aufgaben bereits erfüllt hat.

Die zweite Szene im Mittelgrund des Bildes offenbart eine weitere Eigenart des Künstlers: die Vielfalt der Kopfbedeckungen, die von den unterschiedlichen Menschen getragen werden. Sicher werden hier Stände und soziale Schichtungen, Abgrenzungen und Zugehörigkeiten dokumentiert, die noch besonderer Studien bedürften. Jedenfalls sehen wir vier Menschen. Rechts steht der wohltätige Spender des Brotes unter dem Vordach seines Hauses. Er reicht gerade ein Stück Brot an ein Paar, bei dem der Mann auf einer Knicklaute spielt. Ob der musizierende Mann blind ist, kann nicht entschieden werden, er wird jedenfalls von einem Hund geführt. In der Straßburger Bettelordnung aus dieser Zeit heißt es: „Es soll in Zukunft kein Bettler einen Hund haben oder aufziehen, es sei denn, er wäre blind und brauchte ihn.“[10] Das verweist nicht nur auf einen engen Zusammenhang von Bettlertum und Hundehaltung, sondern ist auch ein frühes Indiz für Blindenhunde. Links neben dem Musikantenpaar steht noch ein weiterer Mann mit grauweißem Bart, der die ganze Szene abwartend (mit etwas verkniffenem Gesicht) beobachtet (oder einfach nur der dargebrachten Musik lauscht).

Kommen wir zur Hauptszene im Vordergrund des ersten Bildes. Es ist eine dichtgedrängte Gruppe, die elf Menschen und einen Hund umfasst. Auf der linken Seite sehen wir ein bürgerliches Paar: sie blickt ihren Mann an und trägt einen Korb, der mit Brot gefüllt ist; er schaut seine Frau an und greift zugleich in den Brotkorb und teilt einzelne Brote an die Bedürftigen aus, ohne diese jedoch genauer anzusehen. Es ist ein geradezu paradox intimes Geschehen. Aber es hat eine innere Logik. Es kommt alles darauf an, dass die karitative Handlung nicht nur ohne Ansehen der Person geschieht (Römer 2, 11), sondern auch nicht demonstrativ erfolgt: „Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen sei; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich.“ (Matthäus 6, 3f.). All das gehört zur Nachfolge Christi.

Dieser ist rechts oberhalb des Paares platziert. Zwei Eigentümlichkeiten charakterisieren ihn: er trägt keine Kopfbedeckung und er blickt den Betrachter direkt an. Das macht ihn für den Betrachter leicht kenntlich. Er wirkt jedoch wie künstlich hinzugefügt, denn wenn man ihn aus dem Bild heraus retuschiert, fehlt dem Geschehen nichts und die Botschaft bleibt verständlich. Durch ihn wird nur der Appellcharakter verstärkt.

Die Gruppe der neun Bedürftigen teilt sich in eine verarmte Familie (ein Ehepaar mit zwei Kindern) sowie zwei Männer und eine Frau im Hintergrund und einen Krüppel im Vordergrund.

Das Ehepaar hält sich fest an der Hand während es die Almosen entgegennimmt, es hält wortwörtlich zusammen. An der Kleidung des schon älteren Mannes wird deutlich, dass sie auch schon mal bessere Zeiten gesehen haben. An der Kleidung des unteren Kindes ist zudem ablesbar, dass die Mutter sorgsam die Löcher in der Kleidung des Kindes stopft. Und das gerade empfangene Brot gibt die Mutter gleich an ihr Kind weiter.

Die beiden Männer im Hintergrund der Szene dürften für zeitgenössische Betrachter aufgrund ihrer Kleidung bzw. ihrer Kopfbedeckung als Angehörige bestimmter Gruppen erkennbar sein. Vielleicht könnte der Rechte der beiden ein alter ehemaliger Soldat sein. Die einzelne Frau im Hintergrund dürfte dagegen, wenn die weiße Haube nicht ganz täuscht, eine Witwe sein (was zu den erweiterten Taten der Barmherzigkeit von Lactantius passen würde).

Am Interessantesten ist sicher der sitzende „Krüppel“ im Vordergrund, der vielleicht aus unmittelbarer Anschauung entstanden ist. Der Meister von Alkmaar hat nicht nur das Motiv der Allgegenwärtigkeit bettelnder behinderter Menschen aus dem Mittelalter übernommen (wie wir es etwa ein halbes Jahrhundert früher auf einem Gemälde von Fra Filippo Lippi im Dom von Prato finden und später auf diversen Gemälden von Pieter Breughel), sondern er führt uns auch präzise eine genetisch bedingte Krankheit vor Augen: die Polydaktylie. Menschen mit Polydaktylie verfügen über mehr als die übliche Anzahl an Fingern oder Zehen. Zwar ist das Bild an dieser Stelle etwas beschädigt, aber wir können doch am linken Fuß der Figur acht Zehen zählen. Die älteste Erwähnung der gar nicht so seltenen Polydaktylie findet sich im 2. Buch Samuel 21, 20: „Da war ein langer Mann, der hatte sechs Finger an seinen Händen und sechs Zehen an seinen Füßen, das sind vierundzwanzig an der Zahl“. [Nebenbei bemerkt gehört das Phänomen der Polydaktylie auch in die Entwicklungsgeschichte der Evolutionstheorie, da man hier Vererbung über mehrere Generationen verfolgen und studieren konnte.[11]] Es ist aber nun nicht so, dass der Meister von Alkmaar hier quasi unversehens ins Anekdotische oder Sensualistische abgleitet, der Krüppel wird nicht zur Schau gestellt. Vielmehr skizziert der Künstler die verschiedenen sozialen, gesellschaftlichen und eben auch körperlichen Ursachen, die dazu führen können, dass man auf die Caritas oder Diakonie einer Gesellschaft angewiesen ist. Keiner der Beteiligten wird vorgeführt, ganz im Gegenteil der Meister von Alkmaar scheint Wert darauf zu legen, die Betroffenen als Eigenaktive (Musikant), als um die Kinder Besorgte (Familie), als für die Gesellschaft Eintretende (Soldat) zu charakterisieren.

Die Zeit, in der das Bild entsteht, ist zugleich jene, in der das öffentliche Bettlertum dramatisch zunimmt und die Städte erste gesetzliche Regelungen aufstellen müssen. Als älteste Bettlerordnung im deutschsprachigen Raum gilt die von Nürnberg aus dem Jahr 1478. 1520 erlässt der Zürcher Stadtrat auf Empfehlung von Zwingli eine Verordnung, die sich mit der Versorgung bedürftiger Personen befasste. Ausdrückliches Ziel dieser Regelung war es, die öffentliche Bettelei zu unterbinden und stadtfremde Bettler von der Stadt fernzuhalten. Gleichzeitig wurde eine regelmäßige Armenspeisung eingeführt.[12]


2 – Durstige tränken

Das nächste Werk der Barmherzigkeit ist in einem nordeuropäischen Kontext vielleicht das erklärungsbedürftigste Werk. In einer Wüstenkultur ist die Verpflichtung, einen Dürstenden mit Wasser zu versorgen, unmittelbar einsichtig, in einer städtischen mittelalterlichen Kultur mit ihren öffentlichen Brunnen eher nicht. Der Meister von Alkmaar verteilt das Geschehen dieses Mal auf zwei Szenen. Im Bildmittelgrund sehen wir einen Blinden mit Stab, der von einem kleinen Jungen geführt wird, dem eine Magd oder Hausfrau eine Schale mit Wasser eingießt. Der Blinde ist durchaus bedürftig, er kann sich nicht einmal Schuhwerk leisten.

Die zehn Figuren der Hauptszene zeigen zum einen natürlich wiederum Christus, der dieses Mal auf die spendende Familie schaut, ein gut betuchtes bürgerliches Paar, das vor die Tür des Hauses getreten ist. Vor ihnen stehen sieben Bedürftige. Einige erklären sich von selbst, etwa die verkrüppelte Frau mit dem Kind als Führerin oder die reisende Familie mit Kind, die gleich einen ganzen Wasserkrug benötigt. Im Zentrum stehen aber zwei etwas merkwürdige Figuren, ein durchaus sympathisch dargestellter alter Mensch, vielleicht ein Mönch, der ein Bein verloren hat, und eine fast schon karikaturenhaftgezeichnete barhäuptige und kahlgeschorene Figur, die sich auf der Wanderschaft befindet. Welche Bedeutung der auffällig kahlgeschorene Kopf hat, lässt sich in Ermangelung der damaligen Kleiderordnung nordniederländischer Städte nicht sagen. Gut möglich, dass es wie bei Wolfram von Eschenbach einen unfreien, gscherten Bauern charakterisiert. Vielleicht müsste man auch seinen Reiseutensilien noch einmal genauer nachgehen.

Auf zwei Details sei noch hingewiesen: die eine Säule des Hauses benennt das Jahr 1504, in dem das Bild geschaffen wurde, auf der anderen lässt sich das Wort „Gloria“ erkennen.


3 – Fremde beherbergen

Ich springe jetzt zur fünften Tafel, damit die Reihenfolge der Werke der Barmherzigkeit der des biblischen Textes entspricht. Um 1500 ist offenkundig in Alkmaar das Problem weniger, dass irgendwelche ‚wildfremden‘ Menschen in die Stadt kommen und beherbergt werden müssen oder eines Obdachs bedürften. Das ist vermutlich in dieser Zeit in den handelsorientierten Niederlanden eher gewerblich geregelt. Es gibt aber eine andere Gruppe, die quasi europaweit der Zuwendung der christlichen Gemeinde bedarf und das wird vom Meister von Alkmaar auf diesem Bild auch überaus deutlich in Szene gesetzt. Das ganze Bild kreist um dieses Phänomen. Und man kann aufgrund der Lage der Stadt Alkmaar in den nordwestlichen Niederlanden davon ausgehen, dass hier weniger die Christlichkeit der Bewohner der Stadt selbst zum Thema wird als vielmehr ihre Hoffnung darauf, auf dem bevorstehenden Weg von anderen Christen entlang der Strecke gastlich aufgenommen zu werden. Es ist quasi eine visuelle Beschwörung. Es geht natürlich um den Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Zumindest das südlicher gelegene Utrecht gehört zu den klassischen Städten der europäischen Pilgerrouten, von Alkmaar dürften dagegen Pilger eher aufgebrochen sein. Wir sehen auf dem Bild wieder zwei Szenen.

Wenden wir uns zunächst der Hauptgruppe zu, dann blicken wir auf eine Schar von sechs Pilgern, die offenkundig gerade von Santiago de Compostela zurückgekehrt sind. Sie tragen die Jakobsmuscheln an ihren Hüten, darüber hinaus, so vermute ich zumindest, Zunftsymbole – erkennbar ist das Symbol der Schlosser-Zunft, angedeutet vielleicht das der Tischler bzw. Schreiner.

Über die nach unten gekreuzten Stäbe bin ich mir nicht sicher, die Schützengilden haben meines Wissens andere Symbole gehabt, vielleicht handelt es sich analog zum Stadtwappen von Deisenhausen um gekreuzte Pilgerstäbe. Vielleicht gibt es hier aber auch einen lokalen Bezug. Aber auch in dieser Gruppe sind – neben der Hausfrau – mindestens noch eine, vermutlich aber zwei weitere Frauen beteiligt.

Die Szene im Hintergrund dagegen könnte den Aufbruch zur Reise nach Santiago de Compostela darstellen, denn wir sehen eine Frau, die mit einer direkten Geste zwei Männer – einem dabei die Hand schüttelnd – auf den Weg in die Ferne schickt.

Christus ist wiederum mitten ins Bild eingefügt und blickt auf jenen Moment, in dem die Hausfrau den ersten Gast über die Schwelle geleitet. Er ist auf diesem Bild wieder der Einzige ohne Kopfbedeckung.


4 – Nackte bekleiden

Die Aufforderung, Nackte zu bekleiden, ist hier im Sinne der Ausstattung der Bedürftigen mit besseren bzw. nicht zerrissenen Kleidern umgesetzt. Das Bild teilt sich wieder in eine Haupt- und eine Nebenszene und enthält noch ein kleines Aperçu. Um mit letzterem zu beginnen: auf dem Dach des zentralen Hauses ist eine Krippe für ein Storchennest errichtet, auf der sich auch ein Storchenpaar eingerichtet und ein Nest gebaut hat.

Zumindest steht ein leider etwas verblasster Storch auf dem Nest, ein anderer ebenfalls etwas lädierter auf der Zinne des Hauses gegenüber. Wenn dies mehr als nur eine Naturdarstellung der Störche in Alkmaar ist, dann ist es ein Rekurs auf den frühchristlichen Physiologus. Und in diesem Falle wäre es sogar ein Spiel über die Bande. Der Abschnitt über den Storch im Physiologus schildert zunächst die möglichen Allegorisierungen des Storches im Blick auf Christus, u.a. dass der Storch zu einer bestimmten Stunde verschwindet und zu einer bestimmten Zeit wiederkommt. Und dann endet der Abschnitt mit den Worten:

„In gleicher Weise ward unser Herr Jesus Christus von uns genommen und wird zu seiner Zeit kommen und aufrichten die Gebeugten nach dem Worte des Propheten: ‚Dort haben die Sperlinge ihre Jungen, und das Nest des Storches ist dort.‘ Schön spricht der Physiologus über den Storch.“[13]

Zitiert wird Vers 17 des Psalms 104, der in der Bibel in gerechter Sprache lautet:

... wo Vögel nisten, der Storch in den Wipfeln sein Haus hat ...

Der ganze Psalm 104 allerdings handelt metaphorisch von der Bekleidung: wie Gott sich mit Licht wie mit einem Umgang bedeckt und wie die Urflut wie ein Kleid die Erde bedeckt. Insgesamt geht es um die Fürsorge Gottes für Natur und Mensch. Das wird nun mit Hilfe des Storches auf das Bild übertragen, sozusagen religiös kon-notiert.

Die kleinere Szene im Bildmittelgrund zeigt einen reichen Bürger vor dem Eingang seines Hauses. Sein Reichtum wird durch den Pelzbesatz seiner Kleidung kenntlich (einfachen Bürgern war in der damaligen Zeit das Tragen von Kleidung mit Pelzbesatz entweder verboten oder – nach Qualität des Pelzes gestaffelt – nur eingeschränkt erlaubt; auf dem Bild dürfte es sich aber um Rückenmarderfell für die gehobene und obere Bürgerschicht handeln).[14]

Der Begüterte hilft gerade einem Bedürftigen in seine neue Kleidung; es ist eine etwas undeutliche Szene, da der Kopf der Person kaum erkennbar ist. Der Bürger blickt währenddessen einen weißbärtigen älteren Mann an, der bittend die Hände gefaltet hat und auf eine weitere Kleiderspende hofft.

Kommen wir nun zur Hauptszene im Bildvordergrund. Sie ist zunächst einmal eine großartige Charakterstudie des Blicks. Hier stoßen wir wieder auf den direkten Blick eines Protagonisten aus dem Bild heraus auf den Betrachter, aber überraschenderweise ist es nicht Christus, sondern ein barhäuptiger(!) Bedürftiger (also nach den damaligen Kleiderregeln der Bedürftigste der Gruppe, aber er blickt keinesfalls unterwürfig auf die Betrachter).

An dieser Stelle wird der überaus sorgenvoll blickende Christus erstmalig wirklich fast ununterscheidbar von alle denen, denen die Werke der Barmherzigkeit zugutekommen.

Das christliche Ehepaar, das hier Werke der Barmherzigkeit leistet, gehört wiederum zu den Reichen der Stadt. Ein Blick auf den Mantel zeigt das schnell. Hier erreicht der Kontrast von Arm und Reich schon etwas Ostentatives. Es ist sicher kein Zufall, dass beide Gesichter dieses Ehepaares trotz ihres karitativen Aktes durch aggressive Eingriffe lädiert wurden. Der herablassende Charakter überschreitet an dieser Stelle eine (moralische) Grenze.

Ich bin mir nicht sicher, inwieweit der Meister von Alkmaar das auch so gesehen hat, aber zumindest der Blick des barhäuptigen Bedürftigen scheint mir anzuzeigen, dass hier eine deutliche Ambivalenz im Geschehen angelegt ist.


5 – Kranke besuchen

Das sechste Bild des Zyklus‘ bzw. das fünfte Werk nach der biblischen Überlieferung gibt dem Betrachter einen Einblick in ein mittelalterliches Hospital wie wir es etwa vom berühmten Hôtel-Dieu in Beaune oder auch vom Oud Sint-Jans­hospitaal in Brügge kennen.

Mit den Hospitalen kommen wir zu den institutionalisierten Kernzellen diakonischer Tätigkeit seit der Frühzeit des Christentums. Die Aufgaben der Spitäler gründeten ganz generell auf den Werken der Barmherzigkeit: Speisung, Aufnahme und Bekleidung der Armen, Beherbergung der Fremden, Pflege der Alten und Kranken sowie Bestattung der Toten. Hier wird der individuelle Aspekt, der noch in Matthäus 25 anklingt, institutionalisiert.

Der Beitrag, den das Bild des Meisters von Alkmaar in dieser Frage leistet, lautet, dass auch bei aller institutionellen Organisation der Diakonie der einzelne Christ bzw. die christliche Familie nicht aus ihrer Beauftragung zu den Werken der Barmherzigkeit entbunden ist. Das Bild teilt sich wieder in zwei Zonen, die nun allerdings in ein Hospital verlegt sind.

Im Vordergrund sehen wir das uns nun schon aus den anderen Tafeln vertraute christliche Paar. Er sitzt dabei an einem Bett und fühlt einem Kranken den Puls, während sie – entsprechend der mittelalterlichen Funktion der Hospitäler – einer Gruppe von Gästen einen Erfrischungstrank im Humpen reicht. Zu dieser Gastgruppe gehört auch der barhäuptige, etwas verhalten lächelnde Christus.

Interessanter ist die hintere Szene. Hier erkennen wir deutlicher die Struktur der Hospitäler mit ihren hintereinander gestellten Betten. Vor Kopf brennt ein wärmendes Feuer und davor sitzt auf seinen Kleidern und einem Kissen ein nackter Mann.

Er blickt direkt aus dem Bild heraus auf den Betrachter. Ihm wird eine Schale Wasser gereicht, während er bekleidet wird. Links davon reicht ein Mann einem Kranken mit spitzen Fingern einen Becher – vermutlich mit einem Heiltrank, dessen Wirkung er dem Kranken erläutert.


6 – Gefangene besuchen

Das vermutlich heikelste Bild des Zyklus ist jenes, das den Besuch bei den Gefangenen beschreibt. Dieses Bild beschreibt eigentlich nur eine Szene, aber hat dennoch zwei Räume. Und diese werden durch eine Schranke gebildet, die Besucher und Gefangene voneinander trennt.

Blicken wir zunächst auf die Szenerie im Vordergrund, dann nehmen wir teil an der simplen Erkenntnis, dass es beim Besuch der Gefangenen am wenigsten um Solidarität, Trost oder dergleichen geht, sondern schlichtweg um: Geld. Mit Geld, das wird deutlich, lässt sich vieles regeln. Der begüterte Christ schließt gerade seinen Geldbeutel, aus dem er einige Münzen für die Gefangenen herausgenommen hat, ein Mann direkt hinter ihm reicht das Geld an die Gefängniswärter weiter, damit deren Los erleichtert werden kann. Die Bürgerfrau ihrerseits scheint ebenfalls gerade Geld aus dem Beutel ihres Mannes zur Erleichterung des Schicksals eines am Pranger Stehenden gegeben zu haben. Wer im Mittelalter seine Schuld nicht begleichen konnte, kam so lange in den Schuldturm, bis jemand für ihn die Schuld bezahlte. Wer im Gefängnis war, musste von Menschen draußen ernährt werden. Es herrscht wenig Sozialromantik in diesem Bild. Was den Gefangenen blüht, wird jenseits der Schranken dargestellt. Links wird ein Mann öffentlich ausgepeitscht, seine Arme und Hände sind mit Seilen hochgebunden, während ein Peiniger ihn unerbittlich geißelt.

Rechts daneben ist ein Mensch so mit Fuß- und Handfesseln angekettet, dass er nur vollständig gekrümmt am Boden hocken kann, eine schon nach kurzer Zeit extrem schmerzhafte Haltung. Im hinteren Bereich des Bildes sieht man schließlich zwei weitere Gefangene in ihren Zellen sitzen.

Am rechten Rand und doch mitten in der Gruppe befindet sich Christus, dargestellt als Salvator Mundi, als Erlöser der Welt. Er trägt den Reichsapfel in der linken Hand und segnet die Menschen mit der Rechten. Dieses Motiv leitet dann über zum Mittelbild des Polyptychons, jenem Werk der Barmherzigkeit, das der Aufzählung bei Matthäus hinzugefügt wurde und zum Jüngsten Gericht überleitet.


7 – Tote bestatten

In mehrfacher Hinsicht weist dieses Bild im Zentrum des Polyptychons von der Grundkonzeption der anderen ab. So wiederholt sich das Handeln der großen Szene diesmal nicht in einer zweiten im Bildhintergrund und aus nachvollziehbaren Gründen ist Christus nicht mitten unter denen, die die Toten bestatten, sondern schwebt als Weltenrichter über ihnen. Der Meister von Alkmaar gestaltet dazu eine klassische Deesis mit Christus im Zentrum und Maria und Johannes dem Täufer zu seiner Seite.

Die Szene darunter ist leider diejenige, die am stärksten unter äußeren Eingriffen gelitten hat. Von den Gesichtern ist so gut wie nichts mehr zu erkennen. Aber das grundsätzliche Setting ist noch deutlich. Der Sarg des Toten ist auf einer Trage zum bereits ausgehobenen Grab gebracht worden und wird nun – wie bis heute üblich – auf zwei Stangen und zwei Schüre gelegt, die quer über dem Grab liegen. Daneben steht der Totengräber mit seiner Schaufel. Ein etwas engelartiger wirkender Geistlicher und ein Messdiener mit Weihrauchlampe, beide in weißer Kleidung, führen die Beerdigungszeremonie durch.

Am Merkwürdigsten ist die ganz in Schwarz gekleidete Trauergruppe am rechten Bildrand. Allerdings liegen hier erkennbar derartig starke Beschädigungen und grobe Übermalungen vor, dass über die ursprüngliche Konzeption und Intention nichts mehr gesagt werden kann. Jedenfalls ist hier nicht erkennbar, ob sich unter den Trauernden wie auf den anderen Bildern auch ein christliches Ehepaar befindet, das als Vorbild dargestellt wird.

Man muss vielleicht im Hinterkopf behalten, dass wir uns in der Zeit der immer wiederkehrenden Pestepidemien in Nordeuropa befinden. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts dürfte die Grafschaft Holland ähnlich wie England vermutlich die Hälfte der Bevölkerung durch die Pest eingebüßt haben. Der Tod war allgegenwärtig in dieser Zeit und eine Bedrohung für jedermann.


Zwischen-Bilanz


Meister von Alkmaar, Polyptychon mit den Sieben Werken der Barmherzigkeit, 1504, 119x470 cm

Sozialgeschichtlich blicken wir in diesem Polyptychon auf eine städtische Gesellschaft, die deutlich sozial segmentiert, also von sozialer Ungleichheit charakterisiert ist. Die angesprochenen Bürger und Kaufleute dürften wohl das darstellen, was man in Hamburg oder Nürnberg auch schon im 16. Jahrhundert als Pfeffersäcke bezeichnet hätte. Allerdings lässt sich beim Meister von Alkmaar nicht jene kritische und verächtliche Konnotation feststellen, die dieser Ausdruck im allgemeinen Sprachgebrauch bis heute hat. Vielmehr werden hier begüterte Christen in die soziale Pflicht genommen bzw. bei der Wahrnehmung ihrer diakonischen Pflichten gezeigt. Es reicht nicht aus, in den Städten diakonische Anstalten einzurichten – wie sie etwa hier auf der Bilderfolge als Hospiz erkennbar werden –, vielmehr wird auch und hier insbesondere der Einzelne auf seinen persönlichen Beitrag angesprochen.

Dass hier keine Sozialkritik der Reichen und des Reichtums entfaltet wird, hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass dieses Polyptychon vermutlich von einem Begüterten oder einer begüterten Familie der Kirche geschenkt bzw. gestiftet wurde. Die genaue Provenienz des Bildes lässt sich freilich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Aber das heißt nicht, dass nicht auch ein reicher Bürger durch die Stiftung dieses Bild seine Standesgenossen auffordern könnte, es ihm gleichzutun und wie dargestellt, konsequent Werke der Barmherzigkeit (nicht zuletzt im Blick auf das Seelenheil) zu vollziehen.[15]

Eine weitere Möglichkeit wäre es, dass das Bild trotz seiner Breite von fast fünf Metern zunächst gar nicht für den Hauptaltar einer Kirche, sondern unmittelbar für ein christliches Hospital bzw. ein sogenanntes Godshuis in Auftrag gegeben wurde. Erst später wäre das Werk dann in die Laurenskerk (Grote Kerk) in Alkmaar verbracht worden.[16] Ursprünglich aber sollte es jedoch die Werke der Barmherzigkeit vor Augen führt, die zu den Aufgaben dieser Hospitale gehören. Die verschiedenen Bürger würden dann deshalb hervorgehoben, weil ohne Stiftungen und Hilfen durch die Begüterten der Betrieb eines mittelalterlichen Hospizes oder eines Godshuis kaum funktioniert hätte. Am klarsten hat sich das an Spenden (Almosen) geknüpfte Konzept dieser Häuser in ihrer englischen Bezeichnung erhalten, dort heißen sie Almshouse (also Almosenhäuser):

“Almshouses are charitable housing provided to enable people (typically elderly people who can no longer work to earn enough to pay rent) to live in a particular community. They are often targeted at the poor of a locality, at those from certain forms of previous employment, or their widows, and are generally maintained by a charity or the trustees of a bequest ... Alms are, in the Christian tradition, money or services donated to support the poor and indigent. Almshouses were established from the 10th century in Britain, to provide a place of residence for poor, old and distressed people. The first recorded almshouse was founded in York by King Athelstan; the oldest still in existence is the Hospital of St. Cross in Winchester, dating to about 1132. In the Middle Ages, the majority of European hospitals functioned as almshouses.”[17]

Dem Gedanken des Almosengebens haftet dabei von Anfang an eine gewisse Ambivalenz an, er kann dem eigenen Seelenheil dienen, aber auch die Pflicht zum eigenen Engagement hemmen. In seinem Buch „Die Stimmen von Marrakesch“ schreibt Elias Canetti im Kapitel “Die Rufe der Blinden”: „Es heißt, dass die Armen fünfhundert Jahre vor den Reichen ins Paradies eingehen werden. Durch Almosen kauft man den Armen etwas vom Paradies ab.“[18] Was Canetti hier ohne genauere Verfasserangabe beschreibt, bezieht sich zunächst auf ein Hadith des Prophetengefährten Abu Huraira (gest. 681 in Medina). Dieser überliefert einen Ausspruch Mohammeds: „Die armen Menschen werden das Paradies fünfhundert Jahre früher betreten als die reichen.“[19] Canettis Ergänzung aber verbindet das mit dem Gedanken des Schnorrers in der jüdisch-orthodoxen Tradition bzw. mit der allgemeinen Pflicht zur Tzedaqa (Wohltätigkeit).

Schnorrer „ermöglichen gläubigen Juden, einer der wichtigeren religiösen Pflichten nachzukommen – der Barmherzigkeit gegenüber Schwächeren und der Almosenspende: der Schnorrer hat hierbei keinen Bettlerstatus, sondern den eines Wohltäters, der die Wohltat erst bewirkt.“[20]

Bei Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881) wird dagegen stärker die Ambivalenz im Almosengeben und Almosenempfangen hervorgehoben. So wird ihm folgendes Zitat zugeschrieben: „Almosen verderben die Seele des Gebers wie des Nehmers und verfehlen zu alledem ihren Zweck, denn sie verschlimmern die Armut.“[21] In Dostojewskis Werken kommt diese Ambivalenz der Almosen an zahlreichen Stellen zum Ausdruck, nicht zuletzt, weil er des Öfteren aus der Erfahrung der Almosenempfänger spricht.[22]

Das verbindet ihn mit Heinrich Heine, der in seinen Vertrauten Briefen an August Lewald am Ende des Vierten Briefes schreibt: „O, ich hasse die Millionäre der Wohltätigkeit noch weit mehr als den reichen Geizhals, der seine Schätze mit ängstlicher Sorge unter Schloss und Riegel verborgen hält. Er beleidigt uns weniger als der Wohltätige, welcher seinen Reichtum, den er durch Ausbeutung unserer Bedürfnisse und Nöten uns abgewonnen hat, öffentlich zur Schau stellt und uns davon einige Heller als Almosen zuwirft.“[23]


Exkurs I: Rousseau und die Werke der Barmherzigkeit

Die erfahrbare Ambivalenz des Almosengebens im Vergleich zum karitativen Handeln spielt auch bei Jean-Jacques Rousseau eine Rolle. Seine Botschaft lautet: „Gebt nicht nur Almosen, sondern verrichtet auch Liebeswerke; die Werke der Barmherzigkeit lindern mehr Leiden als das Geld.“ In seinem Hauptwerk „Émile oder Über die Erziehung“ (frz.: Émile ou De l’éducation) kommen die Werke der Barmherzigkeit bereits in säkularisierter Form vor. Im zweiten Buch des Ersten Bandes geht es um den Reifeprozess des Kindes und die Rolle des Vorbildes:

Seid dessen eingedenk, daß man, ehe man wagen darf, die Bildung eines Menschen zu übernehmen, sich erst selbst zu einem Menschen gebildet haben muß. Man muß in sich selbst das Muster finden, das jener sich stets vorhalten soll. Solange das Kind noch ohne Bewußtsein ist, hat man hinreichend Zeit, alles was in seine Nähe kommt, zuzubereiten, damit seine ersten Blicke nur auf solche Gegenstände fallen, deren Anblick ihm dienlich ist. Macht euch in aller Augen achtungswert, sucht euch zuerst die allgemeine Liebe zu erwerben, damit sich jeder bemüht, euch zu gefallen. Ihr werdet nicht des Kindes Vorbild und dadurch sein Meister sein, wenn ihr nicht zugleich Vorbild und Meister seiner ganzen Umgebung seid, und dazu wird euer Ansehen nie hinreichend sein, wenn es nicht auf der Tugend gebührende Hochachtung gegründet ist. Es ist nicht die Rede davon, seine Börse zu erschöpfen und Geld mit vollen Händen auszustreuen, ich habe noch nie gesehen, daß sich Liebe erkaufen ließe. Vor Geiz und Härte muß man sich hüten und das Elend, welches man zu lindern vermag, darf man nicht bloß beklagen; aber vergeblich werdet ihr eure Kästen öffnen, denn öffnet ihr nicht zugleich auch euer Herz, so werden die Herzen anderer euch immer verschlossen bleiben. Eure Zeit, eure Sorgen, eure Zuneigung, euch selbst müßt ihr geben, denn sonst wird man, was ihr auch immer tun möget, doch stets herausfühlen, daß euer Herz an dem Geldgeschenk keinen Anteil hat. Es gibt Beweise von Teilnahme und Wohlwollen, die eine größere Wirkung hervorbringen und in der Tat mehr Nutzen stiften als alle Geschenke. Wie viele Unglückliche, wie viele Kranke bedürfen weit eher Trost als Almosen! Wie viele Unterdrückte gibt es, denen mit einem wirksamen Schutze mehr gedient ist als mit Geld! Versöhnet alle, die in Unfrieden leben; beugt Prozessen vor; haltet die Kinder zur Pflicht, die Väter zur Nachsicht an; begünstigt glückliche Heiraten; wehrt den Verfolgungen, bedient euch des Ansehens, in welchem die Eltern eures Zöglings stehen, überall zugunsten des Schwachen, welchem man Gerechtigkeit verweigert und den der Mächtige bedrückt. Erklärt euch laut für den Beschützer der Unglücklichen. Seid gerecht, menschlich, wohltätig! Gebt nicht nur Almosen, sondern verrichtet auch Liebeswerke; die Werke der Barmherzigkeit lindern mehr Leiden als das Geld. Liebt die anderen, und sie werden euch lieben, dient ihnen, und sie werden euch dienen; tretet ihnen als Bruder entgegen und sie werden eure Kinder sein.[24]


Exkurs II: Mr. May und die Werke der Barmherzigkeit

Man könnte schließlich überlegen, ob der Kinofilm „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ (der durchaus mehrdeutige Originaltitel lautet: Still Life) aus dem Jahr 2013 nicht eine moderne Umsetzung dessen ist, was uns der Meister von Alkmaar auf seinem Polyptychon zu den Sieben Werken der Barmherzigkeit vor Augen führt.[25]

Den Plot des Films fasse ich der Einfachheit halber mit der Wikipedia zusammen:

John May ist Angestellter der Stadt London. Seine Aufgabe ist es, für die Beerdigung vereinsamt Verstorbener zu sorgen. Diese Aufgabe füllt er sehr sorgfältig und mit Hingabe aus. Meist ist er nicht nur der einzige Trauergast, er hat auch die Trauerrede geschrieben, die der jeweilige Priester hält. Abends klebt er in seiner einsamen Wohnung sorgsam Bilder der Beerdigten in sein privates Album.

Seinem Chef arbeitet Mr. May zu langsam. Deshalb wird seine Arbeitsstelle aufgehoben, er selbst entlassen. Er darf jedoch seinen letzten Fall noch bearbeiten: William Stoke genannt Billy. Anhand von Fundsachen aus Stokes Wohnung kann Mr. May Stokes Liebschaft Mary, deren gemeinsame Tochter und eine weitere Tochter ausfindig machen. Zudem hat Mr. May Veteranen von Stokes Einsatz auf den Falkland Inseln, Arbeitskollegen, Ob­dachlose und Sportsfreunde gefunden, die bei der Be­erdigung von Billy Stoke am Grab stehen.

Tragischerweise kommt Mr. May bei einem Busunfall ums Leben. An seinem Grab steht niemand – bis die Geister aller seiner Beerdigungsklienten an sein Grab treten.[26]

Wie auf dem Gemälde vom Meister von Alkmaar steht auch in diesem Film die Beerdigung und die Bilanzierung des Lebens im Zentrum des Geschehens. Bevor eine solche durchgeführt werden kann, versucht Mr. May ganz wie ein Engel in einer Darstellung des Jüngsten Gerichts ein Buch des Lebens des/der Betroffenen zu schreiben. Wer ist der/die Verstorbene, mit wem stand er/sie in Beziehung, was gab ihrem/seinem Leben Sinn, was lässt sich noch an Erinnerungsstücken bergen?

Um dieser Aufgabe gerecht werden zu können, muss Mr. May verschiedene Werke der Barmherzigkeit durchführen. Er muss Witwen und Waisen besuchen, er muss Durstige tränken, muss Menschen besuchen, nur Nackte muss er meiner Erinnerung nach nicht bekleiden. Vor allem muss er jedoch eines: Mittellose und Zugezogene bei Tod bestatten lassen. Und er muss die Verstorbenen bei diesem Akt mit einer Würde behandeln, die ihnen im Leben von ihrer Umwelt oft verwehrt war.

Was der Film „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ im Unterschied zum Bild des Meisters von Alkmaar nicht unmittelbar beinhaltet, ist der Appell an den Zuschauer, es dem Protagonisten nachzutun und schlichtweg Humanität geschehen zu lassen. Lukas 10, 36f. findet hier allenfalls implizit Anwendung (Welcher dünkt dich, der unter diesen Dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die Mörder gefallen war? Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihn tat. Da sprach Jesus zu ihm: So gehe hin und tue desgleichen!).

Die einzige individualethische Analogie zu den tradierten sieben Werken der mittelalterlichen Kultur ist die Aufforderung zur Teilnahme an der Beerdigung des vereinsamt Verstorbenen. Und so finden sich am Ende tatsächlich fast alle von Mr. May Angesprochenen zumindest am Grab von William Stoke ein (und zeigen damit die Wirksamkeit des humanitären Appells von Mr. May, seinem „Flüstern der Ewigkeit“). In der Gesellschaft der Moderne haben wir inzwischen für alles andere professionelle Stellvertreter bzw. Institutionen: Sozial­arbeiterInnen, Diakone und Diakonissen, Sozialämter, Kleiderkammern, Obdachlosenheime usw.. Auch Mr. May vollzieht sein gutes Werk zunächst einmal qua Amt, wenn auch durchaus mit empathischen Impuls.

Blickt man genauer hin, dann kann man diesen Kinofilm aber auch mit einigen Gründen so interpretieren, dass der zunächst einsame Mr. May selbst zum Empfänger von Werken der Barmherzigkeit wird:

„Im Verlaufe seiner Reise macht Mr. May beglückende Erfahrungen, die sein Leben verändern. Wenn Mr. May im Bahnhofskiosk Schokolade statt der üblichen Tasse Tee trinkt, wenn er im Bus die Pastete kostet, die ihm Billys ehemaliger Arbeitskollege geschenkt hat, wenn er auf dem Sofa Eiscreme kostet, die von einem Lastwagen heruntergefallen ist, wenn er im Pub ein Glas Whisky trinkt – dann lässt uns der Film in diesen Momenten am stillen Glück von Mr. May mit wunderschönen Bildern teilhaben“.[27]


Der Protestantismus und die Werke der Barmherzigkeit

Der Protestantismus hat sich mit den Bildern zum Thema „Werke der Barmherzigkeit“ immer sehr schwer getan, weil hier das überaus komplexe (und verminte) Feld des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium berührt war. Gegenreformatorische Bilder wie etwa Claude Mellans „Die Religion mahnt zur Wohltätigkeit“ von 1640 zeigen daher bewusst die allegorische Gestalt der katholischen Religion, die einen zu ihren Füßen knienden Mann zur Wohltätigkeit ermahnt, indem sie auf eines der Werke der Barmherzigkeit verweist. So wollte man sich von der neuen Lehre der Protestanten abgrenzen.

Martin Luther

Martin Luther geht 1520 in seinem „Sermon von den Guten Werken“ zwar nicht direkt auf Matthäus 25, 31f. ein, stellt aber die grundsätzliche Frage, wie Glaube und Werke sich verbinden:

Denn wie ihr Gewissen zu Gott steht und glaubt, so sind auch die Werke, die daraus geschehen. Nun ist da kein Glaube, kein gutes Gewissen zu Gott. Darum ist den Werken der Kopf abgeschlagen und all ihr Leben und Gutsein ist nichts. Daher kommt es, wenn ich den Glauben so sehr hervorhebe und solche ungläubigen Werke verwerfe, beschuldigen sie mich, ich verbiete gute Werke, wo ich doch gern rechte, gute Werke des Glaubens lehren wollte![28]

Der Glaube geht den Werken vor. Noch deutlicher ist Luther in seinem Bekenntnis von 1528:

Aber die heiligen Orden und rechten Stiftungen, von Gott eingesetzt, sind diese drei: das Priesteramt, der Ehestand, die weltliche Obrigkeit. ... Über diese drei [...] hinaus ist nun der allgemeine Orden der christlichen Liebe, darin man nicht allein den drei Orden, sondern auch insgeheim einem jeglichen Bedürftigen mit aller Wohltat dienet, als (da sind): die Hungrigen speisen, die Durstigen tränken usw., den Feinden vergeben, für alle Menschen auf Erden bitten, allerlei Böses auf Erden leiden usw. Siehe, das sind alles eitel gute, heilige Werke. Dennoch ist kein solcher Orden ein Weg zur Seligkeit, sondern es bleibt der einzige Weg über diese alle (hinaus), nämlich der Glaube an Jesus Christus ...[29]

Die Werke der Barmherzigkeit gehören also zum allgemeinen Orden der christlichen Liebe mit dem man jedem Bedürftigen dient. Zusammengefasst werden kann diese Erkenntnis so:

„Die Einsicht, dass alles Handeln der Christen Gott zu Lob und zum Wohl des Nächsten geschehen soll, hat Folgen für die Gestaltung des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. ... Der grundlegende theologische Ausgangspunkt ist: Das von Gott kommende Gute soll so ausgeteilt und weitergegeben werden, dass jedes Mitglied der Gemeinschaft das bekommt, was es für das tägliche Leben benötigt. Jeder Mensch ist seinerseits berufen, an seinem eigenen Ort dieses Ziel zu verwirklichen.“[30]

Johannes Calvin

Johannes Calvin schreibt in der Institutio im 18. Kapitel des dritten Buches unter der Überschrift „Es geht nicht an, vom Lohn auf die Gerechtigkeit aus den Werken zu schließen“:

Ja, gerade an solchen Stellen, an denen der Heilige Geist verheißt, die ewige Herrlichkeit werde der Lohn für unsere Werke sein, bezeichnet er sie ausdrücklich als „Erbe“ - und zeigt damit, dass sie uns tatsächlich von anderswoher zukommt! So zählt Christus die Werke auf, die er mit der „Belohnung“ des Himmels vergelten will, wenn er seine Auserwählten aufruft, diesen in Besitz zu nehmen (Matth. 25,35); aber zugleich fügt er hinzu, dass ihnen dieser Besitz als Erbe zukommt! (Matth. 25,34).[31]

Aber trotzdem ist es kein Betrug und kein Hohn, wenn uns der Herr sagt, er vergelte unseren Werken mit dem, was er doch vor diesen Werken aus Gnaden geschenkt hat. Denn es ist sein Wille, dass wir uns durch gute Werke darin üben, nach dem Empfang und sozusagen nach dem vollen Genuss der Güter zu trachten, die er uns verheißen hat -, dass wir durch diese Werke unseren Lauf nehmen, um der seligen Hoffnung zuzueilen, die uns im Himmel vor Augen gestellt ist. Deshalb wird den Werken aber auch mit Recht die Frucht der Verheißungen zugesprochen, die uns unter ihrer Leitung heranreifen soll.[32]

Wie Luther ist es Calvin wichtig, jeglichen Verdienstgedanken abzuweisen. Die Werke der Barmherzigkeit geschehen in Dankbarkeit gegenüber Gott und in der Bemühung um Gerechtigkeit und um Erbarmen gegenüber den Mitmenschen. Zusammengefasst:

Der Wille Gottes wird in dem gerechten und barmherzigen Handeln Gottes erkennbar, in dem er Menschen an sich bindet und zu seinem Volk beruft. Demgemäß werden wir in der Frage nach dem uns gebotenen Tun durch den Willen Gottes eingewiesen in jenes doppelseitige Verhältnis, außerhalb dessen der Mensch der Sünde steht: in die Liebe zu Gott und zum Nächsten. Und wir werden damit angewiesen, in diesen Beziehungen zu leben: in Verehrung und in Dankbarkeit gegenüber Gott und in der Bemühung um Gerechtigkeit und um Erbarmen gegenüber den Mitmenschen. Diese Grundinhalte des göttlichen Gebots sind dabei weder zu trennen noch zu vermischen. Denn ohne Gottesfurcht können die Menschen auch unter sich nicht Gerechtigkeit und Liebe bewahren.[33]


Fazit: Sei dir bewusst, dass dir im Armen Christus begegnet

Eine protestantische Lesart des Bildes des Meisters von Alkmaar zu den Werken der Barmherzigkeit wird diese also nicht im Sinne der abzuleistenden Werke auf dem Weg ins Himmelreich wahrnehmen können. Sie wird sie als antwortende Dankbarkeit, als Bewusstwerdung des Christseins zu deuten haben. „Sei dir bewusst, dass dir im Armen Christus begegnet; handle also, als ob dir Christus im Armen begegne."[34] Barmherzigkeit zielt aber auch auf die Umsetzung des barmherzigen Handelns in soziale Rechte. Mehr dazu findet der geneigte Leser, die geneigte Leserin bei Hans-Jürgen Benedict (2008): Barmherzigkeit und Diakonie. Von der rettenden Liebe zum gelingenden Leben. Stuttgart: Kohlhammer.


Anmerkungen


[1]    Mertin, Hermann u.a., Es begab sich aber zu der Zeit ... Bestandsaufnahme erzählender Theologie für d. Religionspädagogik, "forum religion" 4/83, S. 14-37. Stuttgart: Kreuz-Verlag

[2]    Vgl. Benedict, Hans-Jürgen (2015): Politische Predigt als Information zu einer bestimmten sozialen oder politischen Situation. Eine persönliche Vergewisserung. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 17, H. 95. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/95/hjb37.htm.

[3]    Thomka, Beáta (2014): Die narrative Theologie als Meta-Narratologie. In: Neohelicon 41 (1), S. 97–109, hier S. 97.

[4]    Neuheuser, Hanns Peter (2001): Zugänge zur Sakralkunst. Narratio und institutio des mittelalterlichen Christgeburtsbildes. Univ., Köln: Böhlau.

[6]    Bazin, Germain; Fassmann, Kurt (1985): Kindlers Malerei-Lexikon im dtv. [in 15 Bd.; 1000 Malersignaturen, 1200 farbige Reproduktionen, 3000 schwarzweiße Reproduktionen]. Neuausg. München: Dt. Taschenbuch Verl. Band 1, S. 63f.

[7]    Otto Hirschmann (1919): Erwerbungen der Holländischen Museen während der Kriegsjahre. In: Monatshefte für Kunstwissenschaft. Bd. 12, Heft 4, S. 88–94.

[9]    Die dafür angeführten Argumente überzeigen mich freilich nicht. Sie können sich letztlich nur auf die Schäden am mittleren Bild berufen, den Eingriffen in die Gesichter der Mönche. Der heikelste Punkt für die reformierte Theologie, die Darstellung Gottes in der Gestalt Jesu Christi, wird aber in keinem der Bilder berührt.

[10]   1464 bis 1506. Straßburger Bettelordnung. In: Winckelmann, Otto: Das Fürsorgewesen der Stadt Strassburg vor und nach der Reformation bis zum Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts; ein Beitrag zur deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Teil 2. New York; London 1971 (repr. d. Ausgabe Leipzig 1922), S. 84ff.

[13]   Treu, Ursula (1998): Physiologus. Frühchristl. Tiersymbolik. 3. Aufl. Hanau: Artia-Verl. S. 100f.

[15]   Das Beispiel des Zinsgroschenfreskos von Masaccio in der Brancacci-Kapelle in Florenz zeigt ja, dass Reiche durchaus öffentliche Bilder einsetzten, um ihre Mitbürger auf ihre sozialen Verpflichtungen hinzuweisen.

[16]   Katalog des Rijksmuseums Amsterdam zur Provenienz: „Commissioned by the regents oft he Holy Spirit Almshouse, Alkmaar, and installed there, or placed in the St. Laurenskerk, Alkmaar; transferred to the St. Laurenskerk after the closure oft he Holy Spirit Almshouse, 1575.”

[17]   Wikipedia, Art. Almhouse, https://en.wikipedia.org/wiki/Almshouse

[18]   Canetti, Elias (2004): Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise. Lizenzausg. München: Süddt. Zeitung (Süddeutsche Zeitung Bibliothek, 7), S. 25

[19]   Zit. Nach Nawawī, Yaḥya Ibn-Šaraf an; Schaible, Tilmann (Hg.) (1996): Riyâd us-sâlihîn = (Gärten der Tugendhaften). Garching, München: Dâr-us-Salâm Schaible; SKD Bavaria Verl. und Handel., Band 1, S. 206.

[22]   Dostojewski, Der Jüngling, Kapitel 42: „Ich will nicht, ich will nicht! Und wenn er der ehrenhafteste Mensch von der Welt ist, auch dann will ich kein Almosen von ihm! Auch daß mich jemand bemitleidet, auch das will ich nicht!“

[25]   Ich danke Thomas Kroll für den Hinweis auf den Film und Jens Kuthe für den Gedanken, dass dieser Film mit den Werken der Barmherzigkeit in Verbindung stehen könnte.

[28]   WA 6, 196-276, hier 205.

[29]   WA 26, 505

[30]   Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa - Leuenberger Kirchengemeinschaft - (GEKE): Gesetz und Evangelium auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen. Ergebnis der Beratungen der Leuenberger Lehrgesprächsgruppe „Gesetz und Evangelium“ 1997 – 2001 Überarbeitet auf Grundlage der Stellungnahmen aus den Kirchen durch den Redaktionskreis 2004-2005, hier S. 11.

[31]   Calvin, Jean; Weber, Otto (1988): Unterricht in der christlichen Religion = Institutio Christianae religionis. 5. Aufl. d. einbändigen Ausg… Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verl., III, 18, 2.

[32]   Ebd, III, 18, 3.

[33]   Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa - Leuenberger Kirchengemeinschaft - (GEKE): Gesetz und Evangelium auch im Blick auf die Entscheidungsfindung in ethischen Fragen, a.a.O., S. 20.

[34]   Benedict, Hans J. (2008): Barmherzigkeit und Diakonie. Von der rettenden Liebe zum gelingenden Leben. Stuttgart: Kohlhammer, S. 17.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/102/am546.htm
© Andreas Mertin, 2016