Die Stadt und der Tod ...


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Für evangelikale Dummies?

Eine Kritik

Andreas Mertin

Kranjc, Marco (2015): Evangelisch für Dummies. Weinheim: Wiley-VCH.

In Zeiten, in denen die Kenntnisse über die Religionen allgemein, die christliche Religion bzw. die evangelische Konfession im Besonderen gegen Null tendieren, ist, so könnte man meinen, jedes Buch, das elementares Wissen darüber vermittelt, wichtig.

Eigentlich ist das paradox, denn der Protestantismus ist im Leben unserer Gesellschaft allgegenwärtig. Seit 500 Jahren bereichert er den christlichen Glauben mit seiner Wortmächtigkeit, seinem Beharren auf dem biblischen Zeugnis, auf Schrift und Bekenntnis, seiner aktualitätsbezogenen Zeugenschaft, seinen unendlich wertvollen Beiträgen zur europäischen und abendländischen Kultur. Der Protestantismus beeinflusst uns bis in kleinste Details unseres Lebens, selbst dann, wenn man kein Protestant ist. Die deutsche Sprache ist von der Luthersprache weiterhin tief geprägt, mehr als es den meisten ihrer Verwenderinnen und Verwendern bewusst ist. Sogar reaktionäre katholische Gruppierungen berufen sich heute gegenüber dem Papst (sofern er ihnen mal gerade nicht passt) auf protestantische Kardinaltugenden wie subjektive Meinung, individuelle Freiheit gegenüber religiösen Institutionen und Autoritäten: Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Der Soziologe Peter Berger hat in diesen Sinne von der „Protestantisierung“ der Welt gesprochen (und vom Zwang zur Häresie) und er meinte damit, dass wir uns in einem Wahlverhältnis zu unserem Glauben befinden.

Was kann in diesem Rahmen ein Buch zur Einführung in den evangelischen Glauben leisten? Was müsste man erwarten? Nun zumindest dies: Es sollte dem Unkundigen einsichtig machen, warum der Protestantismus überhaupt existiert, welche Not mit ihm gewendet wurde (also seine Notwendigkeit), warum diese Reformbewegung nicht wie andere vor ihr versandete, sondern zur Kirche wurde, die nun beinahe 500 Jahre Bestand hat. Es sollte etwas deutlich werden von der evangelischen Freiheit, von evangelischer Kultur, von der im wörtlichen Sinne Liberalität der protestantischen Existenz heute. Auch die große Entwicklung vom dogmatischen Christentum zur religiösen Innerlichkeit und zur religiösen Subjektivität sollte begreifbar werden. Um es vorweg zu sagen: das leistet dieses Buch nicht oder allenfalls in Ansätzen. Es macht nicht wirklich deutlich, warum Protestanten wurden, was sie sind und es bis heute mit Herz und Verstand sind. Und das liegt daran, weil es aus verzerrter Perspektive geschrieben wurde.

Zum Aufbau des Buches:

Schon der erste Blick auf das Cover des Buches offenbart eine erschreckende Tendenz zur Oberflächlichkeit. Versprochen wird dort das Alpha und Omega des evangelischen Glaubens. Nun ist das A und Ω gerade keine spezifische Differenz zu irgendeinem christlichen Glauben. Das Alpha und Omega des christlichen Glaubens ist und bleibt nämlich Jesus Christus, „der Erste und der Letzte, der Anfang und das Ende“ wie es in der Offenbarung des Johannes heißt. Ein besonderes, davon abweichendes A und Ω des Protestantismus gibt es nicht. Auch hier gilt: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und müsse die Kirche als Quelle ihrer Verkündigung außer und neben diesem einen Worte Gottes auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen“ (Barmen I). Aber im gesamten Buch fällt auf, dass der Autor Schwierigkeiten hat, die christozentrische Rede dazustellen. Da ist man lieber schnell und ganz salopp auf Du und Du mit Gott. Sprachlich kommt es offenkundig bei derartigen Büchern vor allem auf Trivialisierung und Anbiederung an. Der Protestantismus: ein Baum mit vielen Zweigen? Diesen Baum gibt es gar nicht, schon die Metapher ist falsch. Bei der Darstellung der Schweizer Reformatoren bedient man sich bei der Werbung: Wer hat’s erfunden? Ricola! Das ist überaus peinlich. Nahezu auf jeder Seite stößt man auf diese sprachlichen Verflachungen, die – gerade wenn man sich an die Sprachmacht Martin Luthers erinnert – nur als verdummend bezeichnet werden können.

Alles an diesem Buch widerspricht dem protestantischen Denken. Und das beginnt eigentlich schon vor dem Inhaltsverzeichnis, genauer auf den ersten beiden Seiten. Dort steht unter der Überschrift „Evangelisch für Dummies – Schummelseite“ der Abdruck des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, des Vaterunsers, der vier Grundpfeiler evangelischen Glaubens, der Unterschiede zwischen evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche sowie Hinweise, wie man eine Bibel aufschlägt. Das mag mancher für nützlich halten, unter der Überschrift „Schummelseite“ suggeriert es freilich, man brauche sich das nur formal anzueignen, um Protestantismus simulieren zu können. Nichts ist der Wahrheit ferner. Protestantismus hat überhaupt nichts mit dem Auswendiglernen von Gebeten, Bekenntnissen, von Formeln oder Sentenzen zu tun. Man ist nicht evangelisch, wenn man sola scriptura schreit oder das Vaterunser aufsagen kann. Das ist lächerlich und dem Schubladen-Denken einer Welt geschuldet, gegen die der Protestantismus immer angetreten ist. Der Protestantismus mag über lange Zeit etwas sprachfetischistisch gewesen sein, aber dass es nun bei der Schweizer Reformation um die Wurst und bei der Wittenberger ums Bier geht, hätte er wohl in den kühnsten Alpträumen nicht gedacht – das wurde erst denkbar, als eine Twitter-Generation sich dem Zwang zur Verkürzung des Denkens auf 140 Zeichen unterwarf.

Die Geschichte des Protestantismus wird im Buch auf über 100 Seiten abgehandelt, freilich in merkwürdiger Aufteilung. So wird Luther auf 23 Seiten dargestellt, die Schweizer Reformation auf 13 und die Schwärmer auf 14. Ob man dabei tatsächlich die evangelische Theologie unter Geschichte verorten sollte und sie nicht besser unter „Evangelischer Glaube“ abgehandelt hätte, wäre zumindest anzufragen. Aber dem Autor liegt viel daran, die akademische Theologie der Protestanten als vergangene (um nicht zu sagen: untergegangene) darzustellen.

„Mit diesen Namen hört dann Ende des 20. Jahrhunderts die Theologie in Deutschland auf, stärkeren gesellschaftlichen Einfluss auszuüben. Mit der Entfremdung vom christlichen Glauben wird auch die Theologie für die Menschen unwichtig. Hier und da werden Aussagen eines Theologen vielleicht heute noch zu kurzen Aufregern, doch das passiert auch dann meist nur zu Ostern oder Weihnachten, wenn Nachrichtenmagazine und Zeitungen mal wieder christliche Themen suchen. Persönlichkeiten, die das theologische Denken einer ganzen Generation prägen und gesellschaftlichen Einfluss ausüben, kennt die evangelische Theologie in Deutschland heute nicht mehr."

Muss man diesen – ich sage es ganz direkt und zugespitzt – Schwachsinn für ernst nehmen? Da beklagt jemand tatsächlich, im neuen, gerade 15 Jahre alten Jahrhundert gäbe es keine Theologen, die eine ganze Generation geprägt hätten? Geht’s noch? Seit 10 Jahren hat eine Pfarrerstochter das Kanzleramt inne, seit über vier Jahren amtiert ein ehemaliger Pfarrer als Bundespräsident. Und da beklagt man, der Protestantismus habe keinen Einfluss auf die Gesellschaft? Und auch die Frage nach den bedeutenden Theologen (wenn man sie denn für eine relevante hält) ist merkwürdig unbeantwortet: warum nicht Eberhard Jüngel (bis 2013 Kanzler des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste), warum nicht Kurt Lüthi, warum nicht Kurt Marti, warum nicht Konrad Raiser? Hunderte wichtiger Theologinnen und Theologen fielen mir ein. Vielleicht sollte der Autor mal nachschlagen unter

Dass am Ende Klaus Berger ernsthaft in einem Atemzug mit Helmut Gollwitzer zu den protestantischen Querdenkern gezählt wird (S. 312), offenbart nun wirklich eine eklatante Verzerrung der Perspektive. Nach eigener, wenn auch widersprüchlicher Aussage ist Berger nie aus der katholischen Kirche ausgetreten und hat nur unter Vorspiegelung falscher Tatsachen und unter Täuschung der Evangelischen Kirche (so Robert Leicht 2010 in der ZEIT) eine protestantische Professur bekommen. Man wird ihn unter diesen Voraussetzungen kaum zur protestantischen Theologie zählen können. Seine Schriften gehören ganz sicher nicht zur protestantischen Existenz heute. Ich kann Leute, die so etwas schreiben, nicht Ernst nehmen.

Aber auch zum evangelischen Glauben selbst, so viel fällt auf den ersten Blick auf, kommt dem Verfasser wenig in den Sinn. Ganze 35 Seiten ist ihm dieser wert. Alles, was die Protestantisierung der Welt ausmacht, den Zwang zur Häresie, die Freiheit eines Christenmenschen – all das, über das man tausende von Seiten schreiben könnte, wird auf 35 Seiten behandelt. Der Glutkern dessen, warum wir Protestanten sind, warum trotz aller Differenzen Lutheraner und Reformierte am evangelischen Glauben festhalten, wird kaum deutlich.

Wie weit der Autor vom evangelischen Denken wirklich entfernt ist, zeigt folgender Scan aus seinem Kapitel zur Predigt, ein erschreckender Einblick in evangelikale Blockwartmentalität:

Den evangelischen Christen empfiehlt der Autor ernsthaft, zum sonntäglichen Gottesdienst Notizbuch und Bleistift mitzunehmen – da würde der landeskirchliche Pfarrer nämlich ordentlich ins Schwitzen kommen und sich mehr anstrengen. Ich glaube, es waren zuletzt die Nationalsozialisten, die protestantische Pfarrer ins Schwitzen brachten, indem sie in Gestalt der Gestapo im Gottesdienst saßen und mitgeschrieben haben, damit diese wussten, dass etwaige Predigt-Fehler Folgen haben (natürlich in der Wahrnehmung der Gestapo und durch den Staat). Das ist grundsätzlich eine völlig falsche Vorstellung vom Sinn und Vollzug eines evangelischen Gottesdienstes, vom Sinn und der Aufgabe evangelischer Predigt. Das ist der Bodensatz des Gesinnungsterrors. Es geht eben nicht um eine Vorlesung, es geht überhaupt nicht um Kontrolle auf Orthodoxie. Auch wird so eine Opposition von Prediger und Gemeinde aufgebaut, die in sich schon skandalös und wenig evangelisch ist. In der Predigt geht es mit den Worten von Karl Barth darum, „daß die Gemeinde sich (und so auch die mithörende Welt) in ihr ausdrücklich an das ihr aufgetragene Zeugnis erinnert, erinnern läßt, sich seines Inhalts aufs neue vergewissert, in seinem Reflex Jesus Christus selbst aufs neue zu sich reden, sich aufs neue zu seinem Dienst in die Welt aufrufen läßt.“ An dieser Stelle ist nun Lukas Cranachs Darstellung der Predigt Martin Luthers auf der Predella des Wittenberger Stadtaltars unverzichtbar:

Sehen wir da irgendjemanden mit Bleistift und Notizblock in der Hand? Oder blicken nicht alle gebannt auf das eine Wort Gottes: Jesus Christus? Darum geht es und nichts anderes.

Nein, ich kann dieses Buch nicht guten Gewissens zur Anschaffung und für den Gebrauch empfehlen. Und das liegt nicht nur an seiner systematischen Anlage. Vergegenwärtigen wir uns, dass in Deutschland etwa 23 Millionen Christen zu den Evangelischen Landeskirchen gehören, davon etwa 300.000 zu den landeskirchlichen Gemeinschaften (Gnadauer), etwa 330.000 zu den Evangelischen Freikirchen und etwa 470.000 anderen evangelischen Gruppieren (wie der Neu-Apostolischen-Kirche, die als größte Einzelgruppierung jenseits der EKD etwa 350.000 Mitglieder hat, ohne im Buch überhaupt dargestellt zu werden), dann kann man, wenn man in das Evangelische einführt, nicht so tun, als ob freikirchliche Gruppierungen auf derselben Ebene wie die Landeskirchen liegen. Und es ist nicht nur eine quantitative Differenz.

Die reale Pluralität des Protestantismus in Deutschland

Man kann nicht so tun, als ob irgendwelche evangelikale Theologen und Theologien auf derselben repräsentativen Ebene wie landeskirchliche Theologien und Theologen lägen. Wir haben das den evangelikalen Schreihälsen zu lange durchgehen lassen. Wenn 300.000 Menschen Probleme mit einer an der Vernunft orientierten, wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Bibel haben und sie für unmittelbar verbal-inspiriert halten, dann muss man das in eine klare Relation setzen zu den 23 Millionen, die in der Folge der Aufklärung gelernt haben, dass es jenseits dieser Vorstellung andere und vernünftige Umgangsformen mit der Schrift gibt und die deshalb sehr viel Wert auf eine solide wissenschaftliche Ausbildung ihrer Pfarrerinnen und Pfarrer legen. Der Protestantismus ist nicht so beeindruckend wegen der kleinen Minderheit der Freikirchler und Gemeinschaften, denen ihre Existenz ja von Herzen gegönnt sei. Er ist beeindruckend, weil die protestantische Existenz über Jahrhunderte diese Welt mitgestaltet und geprägt hat und weiter prägt.

Keinesfalls spiegelt dieses Buch die Wirklichkeit und den Reichtum des Protestantismus im deutschsprachigen Bereich. Es ist im besten Falle ein Zerrspiegel, der durchaus respektable Minoritäten unangemessen aufbläht und größer darstellt, als sie in der Wirklichkeit sind. Nur weil der evangelikale Flügel des Protestantismus so laut schreit, ist er aber noch lange nicht bedeutsam und hat schon gar nicht notwendig theologisch Recht. Hier wird das wissenschaftsfeindliche Weltbild einer bestimmten Bewegung fixiert. Übertragen auf den katholischen Bereich wäre es so, als ob jemand von der Pius-Bruderschaft das Buch „Katholisch für Dummies“ schreiben würde.

Es gibt zahlreiche informative Schriften zum Protestantismus und zur protestantischen Identität. Für den Einstieg würde ich Friedrich Wilhelm Grafs knappen Überblick „Der Protestantismus. Geschichte und Gegenwart“ im Beck-Verlag empfehlen. Aber auch die einschlägigen, populärwis­senschaftlichen Schriften von Heinz Zahrnt zur Theologie im 20. Jahrhundert und zur Gottesfrage sind immer noch lesenswert.

„Evangelisch für Dummies“ brauchen wir nicht

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/101/am544.htm
© Andreas Mertin, 2016