Die Stadt und der Tod ...


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Was ich noch zu sagen hätte

Das Blogsurrogatextrakt XVI

Andreas Mertin

Lückentext. Oder: Post vom Tourismusbüro   05.04.2016

Kunst- und Kulturliebhaber, die zum Lutherjahr die Geschichte der Reformation nicht in Büchern studieren, sondern sie hautnah und in Farbe erleben wollen, reisen am besten mit dem Auto durch das landschaftlich reizvolle Fichtelgebirge.

Als ich diesen Satz in einer Reklamezusendung an die Redaktion las, war ich doch einigermaßen geplättet. Macht dieser Satz irgendwie Sinn? Natürlich habe ich ein paar Satzelemente unkenntlich gemacht, aber auch dann müsste sich doch noch ein einigermaßen nachvollziehbarer Gedanke ergeben? Immerhin kann man im Interesse der Umwelt hoffen, dass möglichst viele Kunst- und Kulturliebhaber die Geschichte der Reformation doch lieber ‚nur‘ in Büchern studieren als wild mit dem Auto durch die Gegend zu fahren. Aber warum sollte man die Geschichte der Reformation ausgerechnet mit dem Auto studieren? Spätestens seit „Zurück in die Zukunft I+II+III“ wissen wir, dass Autos tatsächlich für Zeitreisen geeignet sind, aber müsste man das Auto dann nicht genauer spezifizieren, etwa ein DeLorean DMC-12? Denn nicht jedes Auto scheint mir für Zeitreisen geeignet zu sein. Aber vielleicht ist etwas ganz Anderes gemeint? Ich formuliere – wieder durch Weglassung – noch einmal um:

Kunst- und Kulturliebhaber, die zum Lutherjahr die Geschichte der Reformation nicht in Büchern studieren, sondern sie hautnah und in Farbe erleben wollen, reisen am besten mit dem Auto durch das landschaftlich reizvolle Fichtelgebirge.

Ich frage mich: Wie erlebt man Geschichte hautnah? Wenn sie geschieht, ist es Gegenwart, wenn sie Geschichte wird, ist es nicht mehr ‚hautnah‘. Und ganz sicher erlebt man die Geschichte der Reformation nicht hautnah auf Mittelaltermärkten! Eher schon auf Handyfachverkäufermessen! Im Ernst: am besten im Fichtelgebirge? Ich wusste gar nicht, dass Wittenberg, Eisenach und Erfurt soweit südlich liegen. Aber vermutlich erlebt man dort die Geschichte der Reformation nur ganz von Ferne und in Schwarz-Weiß. Und während in Wittenberg und Umgebung wenig Reizvolles zu entdecken ist, ist das rund um Wunsiedel natürlich anders. Dort wurde Jean Paul geboren und Weißblech hergestellt und alljährlich wird dort mit hesslichen Märschen hautnah der Geschichte gedacht, weshalb die Stadt den Titel „Ort der Vielfalt“ trägt. Was aber kann man nun hautnah und in Farbe, landschaftlich reizvoll im Auto erkunden, was uns im Fichtelgebirge die Augen für die Geschichte der Reformation öffnen würde?

Dort treffen sie quasi am Wegesrand auf prächtige Markgrafenkirchen und entdecken damit wertvolle Zeugnisse protestantischer Bau- und Kirchenkunst ... Allein in der Region Bayreuth / Kulmbach gibt es 50 Markgrafenkirchen: Gotteshäuser des protestantischen Barocks aus dem 18. Jahrhundert, die mit lichtdurchfluteten, reich verzierten Innenräumen wahre Raumkunstwerke darstellen und den Besucher in Erstaunen versetzen.

Ich sinne darüber nach, inwiefern man Kirchen „quasi am Wegesrand“ treffen kann – ich dachte, da trifft man nur auf unendliche Rosenstöcke surrealistisch-katholischer Prägung (Al borde del camino del mundo hay un rosal muy grande, infinito, que se alza hacia el inmenso azul). Aber ich kann mich irren. Nein, man trifft auf „wertvolle Zeugnisse protestantischer Bau- und Kirchenkunst“, genauer auf Markgrafenkirchen, die wahre Raumkunstwerke darstellen. Wer hätte das gedacht. Das Beste, was die Reformation hervorgebracht hat, sind die Markgrafenkirchen im Fichtelgebirge. Da kann man die Reformationsschmöker wirklich im Regal lassen.

Dort treffen sie quasi am Wegesrand auf prächtige Markgrafenkirchen und entdecken damit wertvolle Zeugnisse protestantischer Bau- und Kirchenkunst ... Allein in der Region Bayreuth / Kulmbach gibt es 50 Markgrafenkirchen: Gotteshäuser des protestantischen Barocks aus dem 18. Jahrhundert, die mit lichtdurchfluteten, reich verzierten Innenräumen wahre Raumkunstwerke darstellen und den Besucher in Erstaunen versetzen.

Bis vor kurzem hatte ich noch gedacht, die Geschichte der Reformation hätte 1517 begonnen, weshalb wir im nächsten Jahr ein 500jähriges Jubiläum begehen. Da muss sich jemand verrechnet haben. Doch nur 18. Jahrhundert, damit bestenfalls 300jähriges Jubiläum. Aber immerhin: lichtdurchflutet und reich verziert – während die katholischen Kirchenbauten ja immer dunkel und karg sind. Was schließen wir daraus? Fragen wir das Tourismusbüro:

In Kombination mit der malerischen Landschaft und der regionalen kulinarischen Vielfalt ist das Fichtelgebirge im 500. Jubiläumsjahr der Reformation das perfekte Reiseziel für genussfreudige Geschichts-, Kunst- und Kulturliebhaber.

Tief im Westen, nein: Tief im Herzen glaube ich das auch. Wer sich vom Reformationsjubiläum nicht erschlagen lassen will, sollte ins Fichtelgebirge reisen. Dort ist man malerisch, kulinarisch und genussfreudig! Und dabei nicht vergessen liebe Geschichts-, Kunst- und Kulturfreunde: die Bücher zuhause lassen! Die mag man im Fichtelgebirge nicht.


(M)eine Hass-Predigt        08.04.2016

Ach, diese Konvertiten. Sie müssen es immer besser wissen und bringen dabei so viel Unheil und Feindschaft in die Welt. Weil sie vor sich selbst und ihrer Umwelt ihre Konversion begründen und rechtfertigen müssen, wollen sie im neuen Glauben besonders rein sein. Das gilt nicht nur für die zahlreichen zum Salafismus Konvertierten, sondern auch für die von der einen Konfession zur anderen Konvertierten. Das radikal-katholische Lager etwa wäre nahezu menschenleer, wenn die Konvertierten aus ihm verschwinden würden. Wenn man irgendwo auf den Blockwartseiten des Katholizismus etwas besonders Radikales und Zugespitztes liest, kann man nahezu sicher sein, einen Konvertiten vor sich zu haben. Ein solches Exemplar wütet ab und an auf der Blockwartseite kath.net und versucht, jegliche Abweichung und Differenz im Denken auszuschalten. Irgendwie lustig und tragisch zugleich. Ursprünglich aus einer reformierten Familie aus Wuppertal stammend [wer wissen will, was das bedeutet und wie man vom reformierten Wuppertal ins katholische Münster kommt, lese einmal das 6. Kapitel von Georg Weerths „Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben“], erlebte er im adoleszenten Alter eine katholische Bekehrung und lehrt nun die Katholiken Mores. In aller Regel aber betreibt er eine relativ platte Apologie des katholischen Konservatismus. So auch diesmal. Dem Fuldaer Bischof Algermissen war nach der Osterpredigt 2016 vom Humanistischen Verband vorgeworfen worden, eine Hass-Predigt gehalten zu haben, weil er Menschen, die nicht den christlichen Glauben teilen, zu einem Sicherheitsrisiko für die Welt erklärte, bis dahin, dass diese gewissenlos über Leichen gingen. Nun, mit Verlaub, das kann man eine Hass-Predigt im modernen Sinne nennen. Wäre ich Atheist, würde ich mir derartiges Gefasel strikt verbitten. Da soll der Bischof doch lieber vor der eigenen Tür kehren. Keine Hass-Predigt vermag nun unser Konvertit im Gesagten zu erkennen. Die Kritiker wüssten doch gar nicht, was Hass ist. Es handele sich hier um den „Missbrauch des Wortes Hass“. Voller Liebe habe der Bischof doch die Atheisten auf die Gefahren ihres Tuns hingewiesen. Sie bräuchten sich nur zum Katholizismus zu bekehren. Es dürfte unserem Konvertiten entgangen sein, dass die Bibel selbst derartiges Verhalten durchaus mit dem Verb ‚hassen‘ etikettiert und es gut und nachahmenswert findet. Der Bischof hätte sich also beim Humanistischen Verband bedanken können, denn er war nur der Bibel und ihrer Verwendung des Wortes שׂנא gefolgt.

Psalm 45,8: Du liebst Gerechtigkeit und hassest gottloses Treiben; darum hat dich der Herr, dein Gott, gesalbt mit Freudenöl wie keinen deinesgleichen. Haben wir hier etwa die Bibel beim „Missbrauch des Wortes Hass“ erwischt? Oder ist es nicht vielmehr so, dass der biblische Wortgebrauch viel älter und auch viel reicher ist? Das Theologische Handwörterbuch zum Alten Testament (THWAT) erläutert jedenfalls, dass das verwendete Verb „hassen“ (שׂנא) nicht nur eine stark affektive Variante, sondern auch eine schwächere besitzt, die „Widerwillen empfinden, nicht mögen, meiden“ oder auch „verabscheuen“ bedeutet. Und genau diese Variante wird gelobt, insofern sie sich gegen gottloses Verhalten (רשׁע) wendet.

Wer nun meint, neutestamentlich sei das aber anders, sei auf Hebräer 1,9 verwiesen, wo der gerade zitierte Psalmentext auf Jesus bezogen wird: „Du hast geliebt die Gerechtigkeit und gehasst die Ungerechtigkeit; darum hat dich, o Gott, dein Gott gesalbt mit Freudenöl wie keinen deinesgleichen.“ Also auch hier taucht das Wort ‚hassen‘ auf. Jesus hat die Ungerechtigkeit gehasst (ἐμίσησας ἀνομίαν). Und, so legt es der Kontext nahe, er empfiehlt diese Form des Hasses (diesen Widerwillen, diese Abscheu) auch weiter. Unser Konvertit freilich schert sich nicht um die biblische oder auch neutestamentliche Verwendung des vielschichtigen Wortes ‚Hass‘.

Er nutzt ausschließlich die (ideologische) Verwendung, die sich im späten 20. Jahrhundert ausgebildet hat, als man begann, islamistische Prediger als Hass-Prediger zu bezeichnen. Das aber heißt, den Ideologen auf den Leim zu gehen. Denn Christen sollen Ungerechtigkeiten hassen, die Ausgrenzung von Frauen, Homosexuellen und Geschiedenen im Leben der Kirche zum Beispiel. Und sie sollen Gerechtigkeit lieben. Würden mehr Menschen das tun (ob nun mit religiöser Begründung oder ohne), so gäbe es immer weniger Gründe, zu hassen. Hätten die Alawiten sich die Sorge um die gerechte Behandlung aller zur Aufgabe gemacht, statt sie mit Fassbomben und Giftgas zu terrorisieren, gäbe es keinen Aufstand in Syrien. So aber hassen wir ihr frevlerisches Verhalten. Wäre wirklich die Liebe zur Gerechtigkeit die treibende Kraft des Christentums, hätte es keine Judenverfolgungen, keine Bartholomäusnacht, keine Religionskriege gegeben.

An einer Stelle gebe ich dem eifernden Konvertiten aber Recht. Das ist sein etwas versteckter Bezug auf Friedrich Schillers „Wallensteins Tod“:

„Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt, wie des Messers Schneide; aus ihrem heißen Kopfe nimmt sie keck der Dinge Maß, die nur sich selber richten.“

Den letzten Teil des Zitats hat unser erzkatholischer Apologet freilich weggelassen – wohlwissend warum.

P.S.: Eine kurze Notiz zur verfehlten Rhetorik des Humanistischen Verbandes. Erkennbar ist der Vorwurf des Humanistischen Verbandes gegenüber Bischof Algermissen von dem Versuch getragen, eine Formel, die bisher im Wesentlichen gegenüber radikalen Predigern des Islam verwendet wurde, nun auf einen katholischen Bischof zu übertragen. Sie setzen darauf, dass in einer durch und durch kleinbürgerlichen Welt das Wort „Hass“ als so verabscheuungswürdig gilt, dass jeder, dem man „Hass“ unterstellt, gleich mit dem Virus des Bösen infiziert wird. Ein Blick in das Grimmsche Deutsche Wörterbuch hätte sie eines Besseren belehrt. Da findet man folgenden schönen Satz von Lessing und damit will ich (der thorheit hasser, aber auch menschenfreund; Klopstock) die Notiz auch beenden:

wein ist stärker als das wasser: diesz gestehn auch seine hasser.


Apropos Hass    10.04.2016

In der Bundesrepublik Deutschland besteht seit längerem der Hang, es für verwerflich zu halten, wenn jemand eine ihn betreffende strittige Frage juristisch klären lassen möchte. Wenn sich jemand durch einen anderen beleidigt fühlt, insbesondere wenn dieser andere ein Satiriker, Comedian oder Kabarettist ist, und dann Strafanzeige stellt, wird so getan, als sei dieser Vorgang schon eine Bedrohung der Kunst- und / oder Meinungsfreiheit. Nein, das ist er nicht. Es ist das gute Recht eines jeden Menschen, egal ob er gut oder böse, alt oder jung, Muslim oder Christ, Deutscher oder Ausländer ist, Äußerungen, die über ihn in Deutschland gemacht wurden und die er als beleidigend empfindet, von einem deutschen Gericht untersuchen zu lassen. Wenn ich mich dazu herablassen würde, hier im Magazin zu schreiben, „xyz ist ein Ziegenficker“, dann hätte „xyz“ das Recht, dies zur Anzeige zu bringen. Ob ihm das Gericht dann Recht geben wird, ist eine andere Frage. Und wenn ich schreiben würde, „der Türke xyz sei ein Ziegenficker“ hätte die Gesellschaft das Recht, mich einen Rassisten zu nennen. Und das gilt auch, wenn ich so tue, als sei das doch nur ein Spaß. Nein, es bedient in Wirklichkeit nur grauenhafte Ressentiments.

Eine andere Frage ist die nach der Verfasstheit einer Gesellschaft, die ihren Spaß daran findet, dass ein Comedian sagt, der Türke xyz sei ein Ziegenficker, seine Hoden stänken mehr als Schweine(!) usw.; also eine Gesellschaft, die Rassismus spaßig findet, die sich ablacht darüber, dass Menschen verächtlich gemacht werden. Ich schaue ehrlich gesagt schon lange keine Comedy-Sendung mehr, weil ich die Mehrzahl für ziemlich plumpe Versuche halte, ungefährdet unter dem Schutz der Kunstfreiheit Bosheiten gegenüber Dritten von sich zu geben. Je lauter jemand schreit, je mehr er gegen gesellschaftliche Konventionen verstößt, je weniger es um Auseinandersetzungen in der Sache geht, je persönlicher es wird, desto spaßiger. Auf Kurt Tucholsky berufen sich diese Schreihälse meines Erachtens zu Unrecht. „Pubertär statt politisch“ hat Friederike Haupt in der FAZ zu Recht die aktuelle Satire im Fernsehen genannt.

Als Öffentlichkeit haben wir aber nicht nur ein Interesse am Schutz der Meinungs- und Kunstfreiheit (dafür werden unsere Gerichte sorgen, da bin ich mir gewiss), sondern auch ein Interesse an guter Satire, an gutem Kabarett, an guter Unterhaltung. Und deshalb sollte man sich nicht abspeisen lassen von Komikern, die erkannt haben, dass, wer dem latenten Rassismus des Publikums nach dem Maul redet, auch der Erfolgreichste ist.

Der türkische Präsident wäre freilich gut beraten gewesen, nicht den Weg der Justiz zu gehen. Damit hat schon der Vatikan schlechte Erfahrungen gemacht. Denn das letzte Wort hat das Gericht. Es hat sich als der klügere Weg erwiesen, über derlei einfach hinwegzusehen. Als Wolfgang Schäuble und Angela Merkel in Griechenland mit Naziinsignien gezeigt wurden, haben sie nicht Anzeige erstattet. Das ist souverän. Aber man muss sich dem nicht anschließen. Wie gesagt, der türkische Präsident hat das Recht, eine juristische Klärung zu verlangen. Und deshalb möchte ich, dass er auch zu seinem Recht kommt. Wie immer das dann lautet.


Grenzenlose Liebe    26.05.2016

Evelyn Finger schreibt in der ZEIT am 26. Mai 2016 unter der Überschrift „Ziemlich beste Feinde“ über die ihrer Ansicht nach anstehende, von den Funktionären aber verweigerte Vereinigung der großen christlichen Kirchen. Ihr Argument: Deutschlands Christen stören sich kaum noch an Konfessionsgrenzen. Da kann man sie ja auch gleich weglassen. Das ist von bemerkenswerter intellektueller Schlichtheit. Sicher, die Mehrzahl der Gläubigen in Deutschland wird auch die theologische Konzeption der Trinität nicht teilen – da könnte man sie ja auch gleich weglassen. Und ob wir die Menschen wirklich noch hinter der Kreuzestheologie versammeln können? Da kann man sie ja auch gleich weglassen. Im Kern zeigt sich bei Finger das Problem, das Karl Barth in der Differenzierung von Religion und christlicher Lehre benannt hat. Dass der Mensch dazu neigt, sich die Religion nach den eigenen Wünschen zurecht zu modeln. Die Einheit der Kirchen, weil es doch so schön wäre, wenn man wieder zusammen wäre.

Dabei zeigt schon der erste Blick, dass dies nur unter großen Verzerrungen und Verbiegungen möglich wäre. Das beginnt mit der Einheit von Lutheranern und Reformierten. Angenommen, man würde zwischen Lutheranern und Katholiken (andere hat Finger gar nicht im Blick) eine Einigungsformel zur Eucharistie finden – wären dann die Reformierten mit im Boot? Ich glaube kaum. Die Lutheraner sind aber weltweit die kleinere protestantische Gruppierung. Wenn wir an weibliches Leitungspersonal denken – wird sich hier in den nächsten 50 Jahren irgend etwas bewegen? Nicht einmal im Blick aufs Diakonat sieht es hier so aus, geschweige denn bei Pfarrerinnen, Dekaninnen oder gar Bischöfinnen. Von der dann anstehenden Möglichkeit einer Päpstin ganz zu schweigen. Oder dachte Evelyn Finger sich das so, dass der Protestantismus auf diese Errungenschaft aus den letzten 100 Jahren einfach wieder verzichtet? Und wie ist es mit der Haltung zur Homosexualität? Der Protestantismus hat hier seinen Transformationsprozess fast abgeschlossen, der Katholizismus hat ihn kaum begonnen. Wie soll zwischen diesen Welten eine Vermittlung möglich sein? Für den Protestantismus ist gelebte Homosexualität kein Hinderungsgrund für Pfarramt oder Bischofsamt, für den Katholizismus ist sie weiterhin ein objektiv ungeordnetes Lebensverhältnis. Ich sehe da kaum Chancen für eine einvernehmliche Regelung in den nächsten Jahrzehnten.

Pragmatisch funktioniert die Ökumene seit Jahrzehnten. Demgegenüber kann jede offizielle Annäherung nur mit Rückschritten und Verhärtungen verbunden sein, weil Positionen geklärt werden müssten.

Evelyn Finger macht ihre Ökumene-Gedanken vor allem an den Reformationsfeierlichkeiten 2017 fest. Das ist aber eine belanglose Marginalität. Die Reformationsjubiläen sind nur etwas für Jahreszahlenfetischisten, die glauben, bei Zahlen, die durch 50 oder 100 zu teilen sind, offenbare sich etwas Besonderes. Nur Tourismusbüros und Werbefuzzis halten das für ein Argument. Sie halten den Kairos für eine mathematische Formel. Das ist selbst schon eine Herabwürdigung theologischen Denkens.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/101/am541.htm
© Andreas Mertin, 2016