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Magazin für Theologie und Ästhetik


Apokalyptischer Karneval

Zu Konstantin Lopuschanskis "Russische Symphonie" (Russkaja Simfonija)

Karsten Visarius

Neben dem amerikanischen Genre des Endzeit- und Katastrophenfilms hat das russische Kino eine eigene Tradition apokalyptischer Filmszenarien ausgebildet. Die sozialhistorischen Erfahrungen des in Form einer "Revolution von oben" von der politischen Führung selbst herbeigeführten Endes des sowjetischen Systems und seiner nicht nur in den Augen der Betroffenen chaotischen Folgen haben diesen Filmen aktuelles Material geliefert. Zu einem "Genre" sind sie bei aller stilistischen Verwandtschaft dennoch nicht geworden. Es sind vielmehr Schöpfungen einzelner Regisseure und Filmautoren, die eine düstere Bilanz der sowjetischen Geschichte und eine pessimistische Diagnose der postsowjetischen Gesellschaft formulieren. Für die russischen Regisseure ist deshalb der Bezug auf die Milleniumsthematik und die davon abgeleiteten Beschwörungen einer Zeitenwende irrelevant.

Auch ihre Ausdrucksformen haben sich jenseits der popkulturellen Verarbeitung dieses Datums entwickelt. Ihr filmgeschichtlicher Bezugspunkt ist vielmehr das Spätwerk des 1986 gestorbenen filmischen Dissidenten Andrej Tarkovskij, der in seinem Science-Fiction-Film "Stalker" (UdSSR 1978/79) erstmals auf apokalyptische Motive zurückgreift. Sie treten in seinen später im westeuropäischen Ausland gedrehten Filmen "Nostalghia" (Italien 1982/83) und "Offret" (Opfer, Schweden/Frankreich 1985/86) noch deutlicher hervor. In diesen drei Filmen ist die apokalyptische Thematik gebunden an die Intuition einer Figur, die auf den trostlosen Zustand der Welt mit dem unverstanden bleibenden Appell an eine innere - geistige oder religiöse - Umkehr reagieren. Dabei sind die gelbbraun entfärbten, in Zwielicht getauchten Bilder des militärischen Sperrgebiets am Rande der mysteriösen, durch einen kosmischen Unfall (den Einschlag eines Meteoriten) entstandene "Zone" in "Stalker" mit ihren rohen Baracken, ihren im Schlamm versinkenden Wegen und den verfallenden militärisch-industriellen Anlagen stilbildend für Tarkovskijs Nachfolger geworden.

Diese Zeichen markieren einen Prozeß, in dem die materielle Welt zu Ruinen zerfällt und der zugleich die filmischen Bilder zerfrisst - wiederum im Gegensatz zum amerikanischen Genre, in dem eine intakte Zivilisation von einer universellen Katastrophe bedroht und, in der Regel, durch das Heldentum einzelner gerettet wird. Statt einer solchen Endzeitkatastrophe inszenieren die russischen Regisseure Endzeitzustände und Endzeitstimmungen, die sich in einer breiten Skala unterschiedlicher Geschichten und Milieus entfalten. Zu dieser "Tradition" gehören unter anderen Alexander Sokurov mit "Dni satmenija" (Tage der Finsternis, UdSSR 1988), Viktor Aristov mit "Satana" (Der Satan, UdSSR 1990), Semjon Aranovitsch mit "God sobaki" (Das Jahr des Hundes, Rußland/Frankreich 1993), Artur Aristakisjan mit "Ladoni" (Handflächen, Rußland 1993) - und schließlich Konstantin Lopuschanski, dessen drei innerhalb eines knappen Jahrzehnts entstandenen Filme eine Art apokalyptische Trilogie bilden: "Pis'ma mertvogo tscheloveka" (Briefe eines Toten, UdSSR 1986), "Posetitel' muzeja" (Der Museumsbesucher, UdSSR/Bundesrepublik Deutschland 1989) und schließlich "Russkaja simfonija" von 1994.

International hat davon nur "Briefe eines Toten" größere Beachtung gefunden, die Geschichte einer Gruppe von Menschen, die nach dem versehentlich ausgelösten Atomkrieg in einem Kellergewölbe unter den verstrahlten Trümmern ihrem Ende entgegenvegetieren – und in der Erbschaft einer Menschheitsgeschichte ohne Zukunft nach einem nicht entwerteten Rest, einem humanem Minimum suchen. In "Der Museumsbesucher" trifft ein junger Wissenschaftler, in einem ökologisch zerstörten Land unterwegs zu einem Museum mit Schätzen mythischer Weisheit, auf eine Gruppe erbgeschädigter Kinder, die ihn für ihren Messias halten. In beiden Filmen hat Lopuschanski den apokalyptischen Ernstfall inszeniert: atomare Zerstörung und ökologische Katastrophe. Und beide appellieren auch, noch unmittelbarer als Tarkovskij, an die Besinnung auf ein metaphysisches Vermächtnis, dessen Verlust das Unheil erst heraufbeschworen hat. Inzwischen stehen die Konkretisierungen einer apokalyptischen Prophetie bei uns unter dem ironischen Verdacht, Ausgeburten eines alarmistischen Zeitgeistes zu sein, höchstens noch Symptome eines durch den Pragmatismus sozialdemokratischer Politik auflösbaren Reformstaus. Und der für die Erfahrung russischer Intellektueller und Künstler entscheidende soziale, psychische und materielle Zerfall nach dem Scheitern eines welthistorischen Projekts wird im westlichen Denken der Irregularität und Irrationalität der russischen Geschichte zugeschrieben und so territorialisiert. Der Titel von Lopuschanskis Film übernimmt diese Zuschreibung. Er verrät nicht mehr als die Einschränkung auf einen nationalen, sei's kulturellen, politischen oder historischen Raum. Genauso gut könnte er "Der russische Film" lauten.

Auf den ersten Blick setzt Lopuschanski in "Die russische Symphonie" Themen und Motive seiner vorangegangenen Filme fort. Die Elemente stehen in Aufruhr und signalisieren den Ausnahmezustand: Wasser überflutet das Land, der Feuerschein von Bränden erhellt die Nacht. Bei Kerzenlicht in seinem Arbeitszimmer, mit Schreibtisch, Büchern und Bildern gibt sich der russische Intellektuelle Ivan Sergejevitsch Masarin - "ein Erbe Tolstojs und Dostojevskijs, sozusagen" - seinem Gedankenstrom hin: "Wie hat alles angefangen? Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wollte gerade Tee trinken. Ja, Tee. Welcher Russe trinkt nicht gern Tee? Aber darum geht es hier nicht. Also, ich trank eine Tasse Tee. Und plötzlich fiel mir ein Schleier von den Augen. Als ob eine Stimme in mir gesprochen hätte: 'Gottes Gericht hat begonnen!' Die Kirchenväter sagen ja auch: 'Das Gericht der Geschichte ist Gottes Gericht!' Es hat also begonnen. Die Stunde hat geschlagen. Das feurige Schwert ward über unser Vaterland erhoben. Zeit ist nicht mehr. Als ob es sie nie gegeben hätte. Die Vergangenheit steht auf der Schwelle und fordert Vergeltung. Das Gericht Gottes hat die Herren Atheisten eingeholt, für die Besudelung der russischen Erde. Das Gericht droht! Die Herzen zittern! Das Mysterium der Geschichte vollendet sich! Vergib uns, Herr! Erbarme dich unser am Tag deines Gerichts! Oh Herr, weise unseren sündigen Herzen den richtigen Weg!" Das ist der vertraute Tonfall des apokalyptischen Predigers, der Sound der Erleuchteten. Nur das gleich als typisch russisch deklarierte profane Glas Tee gibt einen Missklang und entlarvt die Emphase.

Um seiner Vision Dringlichkeit zu verleihen, fehlt Masarin nur noch ein überzeugendes Projekt, ein kategorischer Imperativ, die Antwort auf Lenins geschichtsnotorische Frage: Was tun?. Er findet sie bei zwei Nachbarinnen, die sich, besorgt über sein düsteres Schweigen, nach seinem Zustand erkundigen. Sein Einfall reproduziert eine klassische Formel, mit der nicht erst heute von allen Seiten politische Legitimation beansprucht wird. Man muß die Kinder retten, entfährt es ihm, und weil ein blasser Vorsatz allein noch keine Überzeugung weckt, klagt er sich, in gesteigerter Erregung, selbst an: Ich habe die Kinder vergessen! Was bin ich für ein Schuft! Der Proklamation der historischen Absicht folgt das subjektive Bekenntnis, die Anklage, die sich selbst nicht schont. Wie nicht nur die russische Politik leidet jedoch auch Masarin an einer Glaubwürdigkeitslücke. Nach kurzer Aufregung sieht er sich gleich als Betrüger verdächtigt. Der spielt ja nur, heißt es ernüchtert. Folgerichtig muß Masarin ernst machen und konfisziert gegen den heftigen Widerstand der Frauen einen Schrank, den er als Boot benutzen will, um zu den "Kindern" - den Waisen eines benachbarten Internats – zu gelangen. Batjuška, ach du lieber Gott, seufzt eine alte Frau, die ihn vom Fenster aus beobachtet, vielleicht seine Mutter, vielleicht Mütterchen Russland persönlich.

In "Briefe eines Toten" waren die Kinder noch Träger einer fragilen Hoffnung, mit den Lehren des Briefe schreibenden Professors im Gepäck schwankten sie zuletzt durch den Schnee, weg von den strahlenverseuchten Trümmern, irgendwohin. In "Die russische Symphonie" sind sie nur noch Material einer Idee, einer immer wieder beschworenen Rettungsphantasie. Mehr als sie ins Dachgeschoss des Waisenhauses zu kommandieren, gelingt Masarin nicht. Immerhin bringt er das Personal auf den Gedanken, das im Untergeschoss bereits überflutete Gebäude evakuieren zu lassen. Die resolute Leiterin des Instituts bezweifelt allerdings seine Überzeugungskraft vor den Behörden und nötigt ihn, erst einmal seinen Auftritt einzustudieren. Für den Notfall steckt man ihm eine Zwiebel zu, das erprobte Hilfsmittel für geheuchelte Tränen. Der als falscher Prophet Verdächtigte muß die glaubhaften Posen, den überzeugenden Tonfall, die erschütternde Formulierung erst erlernen, um in der Praxis zum Ziel zu kommen. In seinem eigenen Spiegelbild erkennt er sich nicht wieder. Verzagt krümmt er sich auf einem schon im Wasser stehenden Bettgestell zusammen und muß zur Fortsetzung seiner Mission erst kräftig aufgerüttelt werden.

Allmählich wird Lopuschanskis ästhetisches Grundkonzept erkennbar. Sein Film ist alles andere als eine Fortschreibung des apokalyptischen Kinos à la russe, das die Phänomene des gesellschaftlichen und kulturellen Zerfalls zum Bild einer epochalen Katastrophe zuspitzt. Zwar versammelt er noch einmal die apokalyptischen Motive und Stichworte. Aber sie erscheinen unter einer veränderten, gebrochenen Perspektive. Sie richtet sich auf das apokalyptische Bewußtsein selbst, das sich seinerseits zu bezweifeln beginnt und als Maskerade, als Wiederaufführung historischer Rollen, als Imitation und Pose verdächtig macht. Lopuschanski hat selbst auf die postmoderne Zitathaftigkeit des Films hingewiesen. "Was die stilistische Seite des Films angeht: sie ist geprägt von der Postmoderne, insofern der Autor die literarische Realität neben der Realität des Lebens verwendet. Die Kulturrealität macht einen Teil unseres Bewusstseins aus. Für mich ist das Thema der Maske, der Verwechslungsmaskerade ausschlaggebend, es bildet die Grundlage der Postmoderne. Paraphrasen sind hier sowohl literarische Gestalten als auch literarische Texte."(1)

Anders als in der westlichen Postmoderne ist der Film jedoch kein selbstgenügsames und souveränes Spiel mit den ästhetischen Zeichen, das den Genuss an der Wiedererkennung der ästhetisch-kulturellen Tradition und an ihrer spielerischen Überwindung zugleich betreibt. Vielmehr sieht Lopuschanski das Nebeneinander von Banalität und Schrecken, von Teeglas und Untergangsvision als Element der russischen Realität selbst. Psychologischer Realismus der Darstellung und Schauspiel, Katastrophenzustand und Gleichnisrede verknäueln sich zu einer Groteske, die zugleich Gegenwartsdiagnose ist. "Ich habe einen Versuch unternommen, die heutige Zeit gedanklich zu verarbeiten, und zwar auf der Grundlage von Archetypen, die unserer Kulturaureole eigen sind. Wenn wir das Wort 'Russland' sagen, dann entsteht in unserem Bewußtsein in erster Linie eine Art Kulturaureole. Und ich dachte folgendes: Wenn man ein Werk aus Paraphrasen der russischen Geschichte schaffen würde, könnte man feststellen, dass wir das alles schon einmal erlebt haben, daß das alles mit dem nationalen Charakter zusammenhängt, dessen Betrachtung nicht unbedingt Vergnügen bereitet. Ich bin aber der Meinung, dass ein Künstler dem Volke die Wahrheit sagen muß."(2)

Wenn Masarin mit "Volk" und "Staat" zusammentrifft, kommt die Groteske erst recht in Fahrt. In der Stadt haben sich die Massen zu einer Demonstration versammelt, Glocken läuten, ein Mann klettert auf einen Denkmalssockel und hält eine unverständliche, zweifellos revolutionäre Rede, Militär und Polizei riegeln die Regierungsgebäude ab. Für diese und spätere Massenszenen hat Lopuschanski Dokumentaraufnahmen verwandt, die sich künstlich vergilbt und mit einem brandigen Rot umrandet der "Verwechslungsmaskerade" seines Films bruchlos einfügen. Mit der Parole "Man muß die Kinder retten! Ich muß zum Parteikomitee!" drängt sich Masarin, unser Held, durch die Menge und stürzt sich auf die Absperrung. Auch diese teils dokumentarische, teils inszenierte Sequenz ist eine Paraphrase, ein Zitat der Massenversammlungen aus der russischen Revolutionszeit, die wir aus historischen Aufnahmen kennen. Am Hinterausgang setzt sich unter dem Schutz der Armee das Führungspersonal ab, vor einer leitenden Genossin salutiert ein Breschnev-Double, unter Hinweis auf den gestiegenen Wasserpegel in kurzen Hosen und Sockenhaltern, ein KGB-Funktionär verbirgt sein Gesicht hinter einem Hut - wegen eines Hautausschlags, erklärt er entschuldigend. Die Launen der Natur oder temporäre Unpässlichkeit müssen Gesichts- und Funktionsverluste kaschieren. Vor einem Friedhof wird der Konvoi der Apparatschiks gestoppt. Zwischen den Kreuzen lässt sich ein Gewimmel von Leibern erkennen, ob Ratten flüchten oder die Toten ihre Gräber verlassen, bleibt für den Zuschauer ungewiss: Wir haben in dieser Sekunde selbst die Wahl, ob wir uns einer visionären Phantasie oder unserer Skepsis überlassen, ob wir Zeichendeuter oder distanzierte Beobachter sein wollen. Ein entsetzter Soldat jedenfalls sieht "sie" hervorkriechen und ruft nach Armee und Kirche: Autoritäten, die weder dem apokalyptischen Pathos noch der Deformation der Groteske standhalten. In gewissem Sinn entzieht uns die Gleichzeitigkeit von apokalyptischer Subjektivität und grotesker Realität jegliche Gewissheit ebenso wie die narrative (Un-)Logik von David Lynchs "Lost Highway". Als referentieller Bezug bleibt uns in beiden Filmen nur die Rekonstruktion des ästhetischen Verfahrens.

Nach der Demonstration seiner Ohnmacht erfährt das Personal des politischen Apparats eine noch tiefere Demütigung. Die erregten Massen stürmen das Regierungsgebäude, verwüsten die Einrichtung und erzwingen ein Spießrutenlaufen. Nackt werden die einstigen "Herren" aus dem Haus und über das scherbenübersäte Pflaster gejagt. Das Spektakel wird abgelöst durch einen Festakt, bei dem ein Gorbatschev-Double als eine Art Hausmeister den Boden fegt, ausländischen Gästen das russische Durcheinander erklärt und in einer Ecke mit Raissa Dostojewski liest. Umsturz und Perestrojka bleiben Episode; als sei nichts geschehen, kehren die alten Herren zurück, in neuen Gewändern und mit demonstrativer Schamlosigkeit.

Masarins Rettungsplan ist inzwischen über das Zwischenstadium eines bürokratischen Antrags zu einem Romanprojekt gediehen. Ein Schriftsteller, der sich mit einer Sekretärin und einem geistesverwandten Freund fressend, saufend und deklamierend die Zeit vertreibt, entdeckt das literarische Potential in Masarins Gestammel von ertrinkenden und rettungsbedürftigen Kindern, zumal dem "Erben von Tolstoj und Dostojevskij" nach Einsatz der Zwiebel endlich ein dramatisch überzeugender Auftritt gelingt. Über den stilkritischen Verriss der Beamtenprosa von Masarins Antrag bricht ein Wettstreit um den effektvollsten Anfangssatz aus, für den ein begeistert erinnertes Zitat das Vorbild abgeben muß. "Denk an Platonov: 'Er schnitt Wurst am Sarg seiner Frau.' Das ist ein Anfang! Und du? Schöner Erbe!"

Immer wieder wechselt der Film die Szenerie wie die Dekoration einer Drehbühne, reiht Lopuschanski die Schauplätze in lockerer Assoziation aneinander, ohne den (Bild-)Raum eines umfassenden Auflösungsprozesses zu verlassen. Während Masarin in einer Trümmerlandschaft zwischen Obdachlosen umherirrt, die in fröhlicher Trunkenheit das Gerücht einer seit Tagen brennenden Chemiefabrik und von der Flut fortgeschwemmter Dämme kommentieren, wird er von Gewissensbissen wegen seiner künstlichen Zwiebel-Tränen geplagt. "Ohne Zwiebeln kein Mitleid!" verkündet er. Vom Alkohol berauscht, steigert er sich in eine Predigt und reiht sich dann in den Tanz der Bettler ein, bis er in Ohnmacht fällt. Nach seinem Erwachen finden wir ihn bei einer armenischen Flüchtlingsfamilie wieder, die ihm erneut Gelegenheit bietet, "Mitleid zu empfinden". Die skeptischen Eltern verstehen die Phrase als Chance, die musischen Talente ihrer Kinder vorzuführen - könnte der Herr doch Beziehungen haben, zur Presse vielleicht. Routiniert kalkulieren sie mit einem karitativen Betroffenheitsreflex. Den unpraktischen Menschheitsretter Masarin entrückt das cellospielende Flüchtlingskind nur in die nächste Träumerei, in ein an Cechov erinnerndes Landhaus des vorrevolutionären Russland mit aristokratischen Damen, Spiritisten, Mondschein und Fliederduft. "Die Knöpfe waren anders," sinniert Masarin. Die Gesellschaft erwartet eine Rezitation des symbolistischen Dichters Andrej Belyj, der einem Kassettenrecorder mit seinen eigenen, den Verfall Russlands beschwörenden Zeilen lauscht.

Die surreale Konfusion der Zeiten gipfelt in einem Spektakel, das das Finale von Lopuschanskis "Russischer Symphonie" bildet. Wie die Massenaufzüge zuvor brauchte Lopuschanski es gar nicht eigens zu inszenieren, sondern konnte es als dokumentarisches Material in seine filmische Collage einfügen. Es handelt sich um eine Aufführung der historischen Schlacht auf dem Kulikowo-Polje zwischen den russischen Truppen und der napoleonischen Armee, eines Mythos der russischen Geschichte, verewigt in Literatur und Film, den eine national-historische Gesellschaft im postsowjetischen Russland mit allem Pomp als Gegenwarts-Ereignis zelebriert hat. Noch einmal erweist sich, dass die ästhetische Strategie des Films, Zitat, Paraphrase und Maske, der russischen Wirklichkeit entspringt, nicht künstlerischem Kalkül. Die Truppen marschieren in ihren historischen Uniformen, Priester mit einer schwankenden Muttergottes-Ikone schreiten an der Spitze der Gläubigen, patriotische Redner beschwören die russische Idee, ein Verkrüppelter verkündet kreischend Unheil. Durch das Getümmel wandert Masarin ziellos wie Tolstojs Pierre Besuchov in "Krieg und Frieden" (oder in der gleichnamigen Romanverfilmung von Sergej Bondartschuk, einem Prestigeobjekt des sowjetischen Kinos in der breschnevschen Stagnationsperiode).

Am Rande der Show, auf einer Rednertribüne, zitiert der KGB-Funktionär, der sich immer noch hinter seinem Hut versteckt, Masarin herbei. Das Musterexemplar des russischen Intellektuellen soll ein paar Sätze an das Publikum richten. Ein Maskenbildner hat ihn für den großen Auftritt hergerichtet - und ganze Arbeit geleistet. In einem modischen Anzug, steif wie eine Marionette und mit einem festgefrorenen Grinsen im Gesicht, eine Karikatur des russischen Neureichen, ergreift Masarin das Wort. Die Kinder, sagt er mit schnarrender Stimme, die Kinder sollen ertrinken - oder schwimmen lernen. Die zynische Parole bilanziert den moralischen Bankrott einer Figur, die im russischen Kontext immer eine moralische Autorität jenseits der Politik zu verkörpern hatte. "Russische Symphonie", so resümiert Heike Kühn nach seiner Premiere im "Internationalen Forum des Jungen Films" in Berlin, "ist ein Film, dessen politische und ästhetische Komplexität Vergangenheit und Gegenwart des zerfallenen Sowjetreiches in allen nur denkbaren Facetten des Selbst-Betrugs auffächert. Wie 'Briefe eines Toten' handelt er von einem Weltuntergang, der sich in Russland mit dem Alltag verwechseln lässt.(...) Die Nationalisten, die nach einer Erneuerung des Gottesstaates schreien; der Schriftsteller, der im Untergang der Kinder ein Sujet für Bestseller vermutet; der Intellektuelle, der Zwiebeln essen muß, um vor Mitleid weinen zu können, und sich von den Nutznießern des Chaos zu einem James Last der unterhaltsamen Buße umfunktionieren lässt: sie alle werden von einem Film zur Rechenschaft gezogen, der in der typisch russischen Pose fanatischer Gottesfurcht oder dogmatischer Gotteslästerei die schlimmste Geißel Russlands sieht."(3)

Und doch gehört auch Lopuschanski, der die Berauschung an der apokalyptischen Prophetie als Farce auffliegen lässt, noch zum gleichen kulturellen Szenario, setzt er die Reihe der zwischen westlicher Aufklärung und orthodoxem Sendungsbewusstsein Zerrissenen fort. Seine demaskierende Maskerade, die das Hohe und das Niedrige vermischt, die ihre Gestalten in Paraden, Prozessionen, Tänzen und Massenaufmärschen vorbeiziehen lässt, die die Mächtigen dem Spott aussetzt, den Schwachen flüchtige Triumphe gönnt und das historisch Getrennte zu einer phantastischen Gleichzeitigkeit verschmilzt, diese ästhetische Strategie entstammt einer Tradition, die der russische Kulturwissenschaftler Michail Bachtin als "Karnevalismus" beschrieben hat und nicht nur tief in der russischen, sondern in einer europäischen "Lachkultur" insgesamt verankert sah. Vor allem durch die Erzählungen Nikolaj Gogols ist sie ins weltliterarische Bewußtsein eingedrungen. "Schließlich kommen wir doch alle aus Gogols Mantel," seufzt Masarin einmal - auch das ein Dostojevskij-Zitat, das zum geflügelten Wort geworden ist. Das bedeutendste Dokument des russischen Karnevalismus im 20. Jahrhundert ist Michail Bulgakovs Roman "Der Meister und Margarita", während er sich im Kino etwa in den Filmen Elem Klimovs niedergeschlagen hat ("Agonia", UdSSR 1974-82, über den Untergang des Zarenreiches, "Komm und sieh", UdSSR 1985, über die Gräuel der deutschen Wehrmacht in Weißrussland). Aktuell bilden die Filme Emir Kusturicas, die bereits Nachahmer gefunden haben, einen Beleg für die Vitalität der karnevalistischen Tradition - wenigstens im osteuropäischen Kontext.

Bachtins Karnevalismus meint eine spontane Selbstinszenierung und Theatralisierung des Lebens, in der alle absoluten Wahrheits- und Machtansprüche verlacht werden. In seiner für das karnevalistische Prinzip zentralen Allegorie des schwangeren Todes fallen Untergang und Schöpfung zusammen. Folgt man den Analysen von Boris Groys zur russischen Kunst- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts, so ist in dieser Denkfigur auch eine Verarbeitung des stalinistischen Terrors eingegangen, und zwar gerade nicht in Form einer moralisch-politischen Kritik, sondern als seine „dionysische" Apotheose. Die "irrationale Seite des Stalinismus sieht Bachtin - aus der Perspektive des Opfers von Stalins Repressionspolitik, das er selbst war - auf nietzscheanische Art als dionysische oder sakrale Opferhandlung und verleiht damit auch dem eigenen Leben einen höheren religiösen Sinn."(4) Indem Groys Bachtin in die ständige Suche des russischen Denkens "nach seiner nationalen Identität, Selbständigkeit und Originalität" einzuordnen versucht, das in Abgrenzung vom Westen an der "Erfindung Russlands" arbeitet und "Russland als Ort der Realisierung oder Materialisierung der westlichen Diskurse über das Andere" begreift(5), lassen sich schließlich karnevalesker Raum und russische Nation identifizieren. In keinem anderen Raum bewegt sich Masarin immer noch. Und Lopuschanski, der in seiner fast schon jämmerlichen Gestalt den Mythos des russischen Intellektuellen untergräbt, kommt zuletzt auch auf die Einsicht zurück, "dass das alles mit dem nationalen Charakter zusammenhängt."

Dem großen Finale auf dem Kulikowo-Polje folgt noch ein Ausklang, ein Epilog. Resigniert und erschöpft kehrt Masarin zu seinem Glas Tee zurück, das ihm das im Hause gebliebene alte Mütterchen bringt. Nach dem Verrat an seiner "Idee" schlüpft er in die letzte Maske, die des reuigen Sünders. "Ich habe die Kinder getötet," klagt er sich an. Fassungslos hört die alte Frau seinem Selbstgespräch zu - ein hilfloses Mutterbild, ein verlorener Sohn. Nur noch über eine "letzte Frage" wolle er, Masarin, nachdenken: die Frage nach Gott. Die erloschene apokalyptische Inspiration gibt ihr leeres Zentrum preis. Statt in eine sakrale Überhöhung mündet der Film mit der Plötzlichkeit eines Filmschnitts in ein letztes Bild, das gar kein Ende finden will. Als Büßer, mit Ketten behängt und in einer unhörbaren Litanei die Lippen bewegend, rutscht Masarin auf Knien durch den Schnee, dessen Weiß die Welt verschluckt. Die Einstellung ist nicht nur Zitat des Endes von "Briefe eines Toten", sondern auch eine Paraphrase der Sühneaktion von Tarkovskijs Schriftsteller Andrej Gortschakov am Ende von "Nostalghia", der in einer ebenso zeitlich gedehnten, filmisch unvergesslichen Sequenz eine brennende Kerze durch ein leeres Schwimmbecken trägt. Wenn bei Tarkovskij Inszenierung und filmische Aktion in einem gleichsam mystischen Zeiterlebnis ineins fallen, so verbleibt Lopuschanski in einer postmodernen, zitathaften und theatralischen Ambivalenz, die hinter den Masken nur andere Masken, hinter den Zeichen nur Zeichengestöber und hinter den Fragen keine Antworten entdecken kann.


Anmerkungen
  1. Interview mit Konstantin Lopuschanski. In: Internationales Forum des jungen Films (Katalog), Berlin 1995
  2. ebd.
  3. Heike Kühn: Wohin und zurück. Drei russische Filme von extremer Gegensätzlichkeit (Festivalbericht). In Frankfurter Rundschau, 18.2.1995
  4. Boris Groys: Die Erfindung Russlands. München, Wien 1995, S. 66
  5. ebd. S. 35

Dieser Beitrag erschien zuerst in:
Margrit Frölich, Reinhard Middel, Karsten Visarius (Hg.): Nach dem Ende. Auflösung und Untergänge im Kino an der Jahrtausendwende. Arnoldshainer Filmgespräche 17, Marburg, Schüren-Presseverlag, 2001


© Karsten Visarius 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 10/2001
https://www.theomag.de/10/kv5.htm