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Magazin für Theologie und Ästhetik


Die Nacht

Dmitri Shostakovich in der Sakristei von San Lorenzo

Joachim von Soosten

Michelangelo, Nacht

Auch wer schläft hat Leben. Darf man die Schlafenden wecken ? Und um welchen Preis? Michelangelo hat eine Gestalt geschaffen, sie trägt den Namen Nacht. Als sie zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich wird, heftet ein Begeisterter die Verse unter die Skulptur "Die Nacht, die du so reizend hier schlummern siehst, ist von einem Engel" - ein Kompliment an den Namen von Michelangelo - "in Marmor gehauen worden. Sie schläft, sie hat Leben; wecke sie auf, wenn du es nicht glauben willst, und sie wird reden."

Immer kommt der Wunsch, den Stein zum Leben zu erwecken. Durch ein Zaubergedicht, durch die bloße Berührung, durch die Liebesformel. Wer möchte dem Dichter verdenken, wenn er von diesem Wunsch beseelt wird. Michelangelo hätte geschmeichelt sein können. Er war es nicht. Wie den Hammer führt er seine Worte, mit denen er dem Wunsch nach Auferweckung den Weg verlegt. Er lässt die Nacht selber sprechen. Sie beharrt auf Unantastbarkeit.

"Ich lieb den Schlaf, doch mehr noch: Stein zu sein
Wenn ringsherum nur Schande herrscht und nur Zerstören
so heißt mein Glück: nicht sehen und nicht hören
Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein."

Michelangelo nimmt mit seiner Skulptur in San Lorenzo die Renaissance zurück. Er widerruft sie nicht, er sammelt sie im Bild der Nacht. Dort wartet die Wiedergeburt auf ihre Wiedergeburt. Bis dahin muß man sie vor unbilligen Zugriffen schützen. - Michelangelo hatte mit dem Auftrag zur Ausgestaltung der Sakristei von San Lorenzo nichts anderes als Liebe verbunden. Seine Liebe zu Florenz. Wollte ich ein Beispiel wählen, hier ist es.

"O du, an Schönheit Engeln nur vergleichbar
Kind und Geliebte denen, die dich schufen
Und nun in Sehnsucht sich um dich verzehren:
Schläft die Gerechtigkeit im Himmel denn,
Dass einer für sich nehmen darf, was allen
In gleichem Maß gehört. Lass deine Blicke
Wie ehedem uns leuchten, denn was nützt
Das Leben ohne diese Sonne Wohltat?"

Florenz antwortet in diesem Gedicht. Die Stadt bekennt, sie lebe von der Sehnsucht, der Liebe und die Hoffnung aller derer, die sich ihr versprochen hätten. Darum müsse auch die "rasende Begierde" desjenigen, der sie allein für sich unterwerfen will, abgewiesen werden. Mit "leeren Händen doppelt" und "elend" solle er dastehen.

Die Stadt erleidet Schmach, durch Verrat fällt sie 1530 endgültig in die Hand der Feinde. Vorbei ist es mit dem Florentiner Bürgerhumanismus, den nicht nur spät Hans Baron als ideales Gegenbild zur Nazidiktatur beschworen hatte, sondern der bereits den Liebeserklärungen des Michelangelo die Feder führt. Ein alter Auftrag existiert, Michelangelo hat sich längst an die Arbeit gemacht, und in dem Moment, in dem die Stadt nicht mehr die Stadt ist, wird der Auftrag erneuert.

Mit der Erneuerung des Auftrags zur Ausgestaltung der Sakristei von San Lorenzo bekommt Michelangelo eine Überlebensgarantie unter Vorbehalt. Ganz loswerden kann man ihn nicht, im Gegenteil, er könnte dem eigenen Ruhm nützlich sein, also wird er verschont und in einen neuen Dienst gezwungen. Michelangelo haut diese Situation in Marmor, rastlos und ohne Rat. Sechs Plastiken sind entstanden, darunter "Die Nacht".

Ich weiß nicht, ob man die Nacht schön nennen kann. "Niemand würde daran denken, das Wort schön hier anzuwenden", meinte Herman Grimm und stellt fest: "Die Gestalt hat etwas Ungeheuerliches." Dieser Eindruck ist der ungeheuren Energie geschuldet, die von der Nacht ausgeht, den angespannten Muskeln, dem angewinkelten Oberschenkel, der ausgeprägten Kraft der Körpers, der, obwohl in der Haltung der Ruhe, nichts von Entspannung verrät. Nur das nach vorn sinkende Haupt und die geschlossenen Augenlieder deuten auf den Schlaf. Lebenskraft liegt darin, so dass man tatsächlich den Wunsch verspürt, diese Kraft zu wecken. Aber nur Michelangelo selbst hat diese Macht.

Bei Herman Grimm ist zu lesen: "Seltsame Geschichten wurden in späteren Zeiten über die Nacht erzählt. Michelangelo soll Gewalt über den Marmor gehabt haben und die ruhende Gestalt einmal geweckt haben, dass sie das Haupt erhob und es, in Schlaf zurückfallend, dann wieder sinken ließ."

Shostakovich muß la notte vom Grabmal des Giuliano de' Medici gekannt haben. In der "Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti für Bass und Orchester" begegnen wir der Nacht im neunten Stück, der größte Abschnitt der Suite. Sparsam und unheimlich setzen die Streicher ein, ein abgebogenes Trompetensignal kommt herein, eine Harfe liegt sehr tief. Der erste Vierzeiler folgt, die Strophen des Begeisterten "Weck sie nur auf, sie wird dir Rede stehn". Aber das Begehren lässt sich als Klage hören; wie in der Liturgie variiert das Orchester in ständiger Wiederholung die Eingangslinien. In der nachfolgenden Antwort des Michelangelo schlägt die Klage in Anklage um.

"Und ich preise
solange Schmach und Schande nicht vergehn
dies als mein Glück. Nicht hören und nicht sehen.
"

Dann verklingt die Nacht in die Nacht, irgendwohin, endlos könnten sie Streicher das Grundmotiv, die kurze Sequenz der Akkorde fortsetzen, immer wieder ansetzend, immer weiter sich entfernen. Ungeheuerliches liegt nicht in der Musik - eher eine unerhörte Traurigkeit.

Bereits Georg Simmel hatte ähnliches an den Skulpturen der Medicikapelle bemerkt. "Die Figuren Michelangelos aber tragen jenes Verhängnis einer unerlösten Vergangenheit, sie sind alle wie von einer Erstarrung über die Unmöglichkeit des Lebens begriffen, über das Unvermögen der Seele, alle die Zerrissenheiten der Schicksale in die Einheit eines Lebensgefühls zu sammeln." Als Gesamteindruck, so Simmel weiter, bleibe eine "unheilbare Schwermut zurück".

Shostakovich lässt diesen Eindruck musikalisch sprechen. Die Nacht ist unendlich. "Drum leise, Freund, lass mich im Schlaf allein".

Die Suite von Shostakovich schließt in einem Stück mit dem Titel "Unsterblichkeit". Auch hier fehlt der Gestus des Triumphs, aber auch der der Verklärung, der Vergeistigung oder der eines Lichtes. Auch eine Beruhigung könnte man sich vorstellen. Über musikalische Beispiele verfügen wir genug, wir kennen die Möglichkeiten eines Mahler im "Lied von der Erde". Nichts von dem lässt sich hören.

Shostakovich setzt mit einer Erinnerung ein. Eine Flöte beginnt einen Militärmarsch zu plappern, ein Thema, das Shostakovich angeblich mit neun Jahren komponiert hat. Ganz zum Schluss hören wir eine Celesta, die Musik einer Spieluhr. Sie kann heiter sein, mit Witz begabt, wie bei Mozart. Sie kann aber auch zart und liebevoll sein, uns trostvoll wie die Harfe sanft hinübergleiten lassen in den Schlaf, in dem wir werden wie die Kinder. Der romantische Gestus.

Die Spieluhr bei Shostakovich fällt einem auf die Nerven, sie quakelt genauso wie der Militärmarsch am Beginn des Stückes. Die Harfe, als sei sie nicht abzustellen, klappert den Rhythmus der Spieluhr hinterher, dann haucht auch sie das Leben aus. Einfach so. Das war es, mehr nicht. Kein Triumph, eher wie die Bestätigung einer Banalität, die mit keiner einzigen Behauptung mehr verbunden ist, keinerlei Wertung. Ist das schon die Unsterblichkeit ? Oder lässt sich hier nur ein Übergang vernehmen, noch zugewendet der Welt, die nun verlassen wird, und die in ihrem Lärmen, ihrem Militär, nur noch banal und grotesk erscheint? Vor dem Übergang, noch vor der Schwelle, wird der Welt ein letztes Mal der Spiegel vorgehalten. Was Unsterblichkeit ist, können wir nicht wissen, auch wenn wir schon einmal davon gehört haben. Shostakovich lässt uns allein zurück. Himmlische Musik bekommen wir von ihm nicht.

Zwei Monate nach dem Tod des Komponisten, wird die Orchestersuite nach Worten von Michelangelo von seinem Sohn in Moskau uraufgeführt. Die Nächte des Michelangelo und des Shostakovich halten das Unerlöste fest; sie verbergen die Auferweckung unter ihrem Gegenteil und sind damit tröstlicher als jede Mission zur Morgenröte im Auftrag einer Partei, wahrhaftiger als jeder Ruinenwalzer, dass die Sonne wieder scheint.

Es ist erstaunlich, dass die Schriften und Bildbände über Michelangelo, seine Zeugnisse selbst, gerade in den Zeiten der Diktaturen sorgfältige und schöne Editionen erfahren haben. Diesen Zeiten ging es um den "Neuen Menschen". Die Geschichte der Renaissance der Renaissance als Hochamt des Totalitarismus ist noch ungeschrieben. Die Editionen selbst, fängt man erst einmal an, in ihnen zu lesen, sprechen eine eigene Sprache. Sie sind eine Art Flaschenpost, versteckt in der Mimikry an das herrschende Legitimationsbegehren. Shostakovich ist immer auch als der musikalische Meister der Mimikry zu hören. Die Suite nach Gedichten von Michelangelo brauchte diese Technik nicht mehr.


Gedichte Michelangelos. Übersetzt von Thomas Flasch. Mit einem Nachwort von Gustav Seibt, Berlin 2000.

Dmitri Shostakovich. Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti. Op. 145a. Aufnahme mit dem Kölner Rundfunk-Sinfonie-Orchester unter Michail Jurowski, WDR-Capriccio 10777, 1998.

Herman Grimm, Das Leben Michelangelos, 2 Bde., 1860-63; zahlreiche Neuauflagen.

Georg Simmel, Michelangelo, in: ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1911,157-184.


© Joachim von Soosten 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 10/2001
https://www.theomag.de/10/jvs1.htm