Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Ambivalenzen

Zum Themenheft "Religion und Musik"

Petra Bahr / Volkhard Krech

Im Vergleich zum Verhältnis von Religion zur bildenden Kunst und Literatur führt die Frage nach der Beziehung von Musik zu religiösen Phänomenen bislang eher ein Schattendasein. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen ist die abendländische Tradition der Verhältnisbestimmung von Kunst und Religion seit der Spätantike bis in die Gegenwart am Streit um die Bilder entlang verlaufen. Die künstlerische Repräsentation des Göttlichen fiel in der Musik allemal unter das Unanschaulichkeitsgebot und war somit grundsätzlich unverdächtiger. Außerdem war Musik, vor allem in Form des Gesangs - der Gebrauch von Instrumenten war immer wieder einmal Gegenstand des theologischen Streites - als Trägerin und Beförderin religiöser Gefühlslagen sowie als musikalisches Transportmittel theologischer Sätze selbstverständlicher Teil liturgischer und andachtlicher religiöser Handlungen. In der seit dem achtzehnten Jahrhundert erfolgten ästhetischen Debatte hatte die Musik darum den Ruf der ancilla ecclesiae. Sie galt nicht als eigenständige, und wenn, dann nur als niedere Kunstform, weil sie hauptsächlich auf die unteren Gemütskräfte wirke. Das hat Konsequenzen für die Deutung der definitorisch als "geistlich" bestimmten Musik. So werden Bachs Kantaten und Passionen immer noch stark über den Verkündigungsaspekt her gedeutet. Die kompositorischen Eigensinnigkeiten der Bachschen Musik und das komplizierte Wechselspiel ästhetischer Kompositionsprinzipien und theologisch bedeutsamer Durchformatierung des musikalischen Materials tritt dagegen immer noch in den Hintergrund. Andererseits wurde die Musik, ganz in der Tradition der artes liberales, als die abstrakteste, universalste Kunstform bewertet, die einerseits durch ihre Nähe zur Mathematik und andererseits durch die harmonische Struktur das ästhetische Konzept der Vollkommenheit und damit die Struktur der göttlichen Schöpfung als "Beste aller Welten" am besten zur Darstellung bringe. Untergründig in dieser Tradition stehend, ist für einige Theoretiker des 20. Jahrhunderts gerade die absolute Musik, die ohne Text oder Programmatik auskommt, eine Art "negativer Theologie".

Diese beiden Linien, Musik als Gefühlsausdruck und Gefühlserweckung einerseits, Musik als hoch strukturiertes, letztlich abstrakt-absolutes Kunstprodukt andererseits, werden beide herangezogen, wenn die Religionsaffinität der Musik belegt werden soll. Im ersten Fall rückt die emotionale Wirkung der Musik in den Fokus reflektierender Beschäftigung, im zweiten Fall werden Struktur- und Formfragen zum Ausgangspunkt der Verhältnisbestimmung. Das ut-pictura-musica-Prinzip und die bleibende Orientierung am Geschichtssinn machen analytische Verhältnisbestimmungen der Musik als Kunstform jedoch bleibend schwer, weil meistens die Lesehilfen und Problemanzeigen des Bildverstehens auf sie übertragen werden - und sei es, dass man, wie in der modernen Musikpsychologie, die Erzeugung innerer Bildsequenzen zum poetischen Prinzip der musikalischen Erfahrung macht. Musik ist dann so eine Art inneres Kino. Das durch den Bilderstreit der christlichen Tradition vorgegebene Thematisierungsgebot ist insofern immer noch der diskursive Rahmen für die Thematisierung von Musik und Religion.

Das vorliegende Heft versteht sich als ein Beitrag dazu, der Debatte um Musik und Religion ein wenig aus ihrem Schattendasein zu verhelfen und einen Aufmerksamkeitsstrahl auf einige Facetten dieser Debatten zu werfen.

Wie im Verhältnis von Religion und Kunst im allgemeinen, so setzt auch die Redeweise von Religion und Musik als einem Teilgebiet der Kunst voraus, dass man es mit zwei gesonderten und als solchen klar identifizierbaren Bereichen zu tun hat. Das ist jedoch alles andere als selbstverständlich, jedenfalls - trotz dem modernen Strukturprinzip funktionaler Differenzierung - nicht unmittelbar evident. Zwar verfügen wir seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert über den Begriff der autonomen Kunst, der die Ansicht einschließt, dass Malerei, Bildhauerei, Musik, Literatur, Architektur und - seit dem 20. Jahrhundert - Film in einem sachlichen Zusammenhang stehen und sich zusammen genommen von anderen Bereichen wie Politik, Wirtschaft und eben auch Religion unterscheiden. Jedoch finden sich auch in der jüngeren Religions- und Kunstgeschichte - so auch in der Musikgeschichte - zahlreiche Mischformen, die sich anscheinend keinem der Bereiche von Religion oder Kunst, in unserem Fall: Musik, eindeutig zuordnen lassen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, dass die beiden Begriffe "Musik", verstanden als reine Kunstform, und "Religion" - folgt man den zahlreichen disziplinübergreifenden Diskursen - nicht (mehr) eindeutig bestimmbar zu sein scheinen - sei es aufgrund definitorischer Probleme, sei es wegen der Diffundierung der mit den beiden Termini bezeichneten Gegenstandsbereiche.

Angesichts dieser vergleichsweise unübersichtlichen Situation erscheint es uns ratsam, die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Religion materialorientiert anzugehen. In dieser Perspektive stellen sich zunächst zwei Fragekomplexe. Der eine ist genealogischer, der andere systematischer Natur. Im Zentrum des genealogischen Fragekomplexes steht die Frage, ob Musik - immer verstanden als Kunstform - innerhalb der Religion entstanden sei und sich im Verlauf der Kulturgeschichte von ihr emanzipiert habe, oder ob nicht vielmehr die Religion aus der Musik und anderen Kunstformen resultierte. Jenseits dieser Alternative ist aber auch die Annahme möglich, dass sich Religion und Musik gleichursprünglich ausgebildet und sich unabhängig voneinander entwickelt haben. Man mag diese Fragestellung - zumal mit Blick auf die Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts - für obsolet halten. Allerdings ist sie für die Erforschung der Kulturgeschichte nicht zu umgehen. Und mehr noch beziehen sich auch systematische Erörterungen des Verhältnisses von Religion zu Kunst im allgemeinen und Musik im besonderen - zumeist implizit - auf eine der angeführten Antwortmöglichkeiten.

Im Zentrum systematischer Erwägungen steht die Frage, ob der Musik eine religiöse Qualität inhärent ist. Oder in etwas abgemilderter Form: Bergen Religion und Musik formale Gemeinsamkeiten? Aber auch wenn man grundsätzliche Fragen dieser Art verneint, hat man es in systematischer Hinsicht bei den Relationen zwischen beiden Größen mit folgenden idealtypisch gesonderten Interferenzebenen zu tun:

  1. Eine religiöse Praktik kann musikalische Elemente enthalten. In diesem Fall handelt es sich um religiöse Musik, so wie es religiöse Kunst im allgemeinen gibt.
  2. Musik kann als eine ausdifferenzierte Kunstform auf religiöse Motive und/oder Strukturen rekurrieren (also formal und inhaltlich). In diesem Fall handelt es sich darum, dass Musik - formal oder inhaltlich, also semantisch besetzt - eine religiöse Qualität annimmt.
  3. Musik kann im Produktions- oder Rezeptionsprozess eine religiöse Dignität verliehen werden (entweder als Selbstcharismatisierungen der Künstler oder mittels Sakralisierungen von Musik in der Rezeption). Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich: Musikalische Praktiken, die ihrer Entstehung nach primär religiös sind, können im Rezeptionsprozess als rein musikalisch erfahren und beschrieben werden.

Neben diesen Interferenzebenen stellen sich in systematischer Hinsicht weitere Fragen, wie etwa die folgenden:

  • Kann Musik und ihr Aufführungskontext religiös, quasi-religiös, pseudo-religiös oder ein Religionsersatz sein?
  • Kann Religion ohne musikalische Äußerungsformen auskommen? Oder kann religiöse Musik das Unsagbare besser ausdrücken?
  • Was unterscheidet die musikalische von der religiösen Erfahrung über mögliche formale Gemeinsamkeiten hinaus? Liegt die Unterscheidung im Modus beider Erfahrungen, oder entsteht sie durch eine Zuschreibung?
  • Wenn die Unterscheidung durch eine Zuschreibung entsteht, ist diese Zuschreibung primär psychischer oder sozialer und kultureller Art? Welche Dispositionen braucht die Zuschreibung (Ort, Zeit, Anlass, Rollen usw.)? Und: Muss die Unterscheidung den Akteuren bewusst sein, oder ist sie lediglich ein Problem wissenschaftlicher Beobachtung und begrifflicher Differenzierung?

Die aufgeworfenen Fragen können in diesem Heft selbstverständlich nicht sämtlich und auch einzelne nicht erschöpfend behandelt werden; dies wäre die Aufgabe einer umfassenden religionswissenschaftlich informierten Musikgeschichte und -theorie. Die hier versammelten Beiträge greifen die eine oder andere Frage auf und behandeln sie in unterschiedlicher Intensität, kursorisch oder analytisch.

Thomas Erne zeigt in seiner Interpretation der "Matthäuspassion" von Hans Blumenberg, wie die "schöne Unbestimmtheit" von ästhetischer und/oder religiöser Erfahrung gerade in seiner kategorialen Unentscheidbarkeit die Faszination für die Musik Bachs im nachchristlichen Zeitalter verstehbar mache. Blumenbergs Text über die Passion erweist sich als ein furioses Stück essayistischer Prosa ebenfalls als Text, der auf der Schwelle zwischen negativer Theologie und Ästhetik selbst die Grenzform repräsentiert, die auch den Stoff der Abhandlung prägt. Die Kunst und Schwierigkeit, über Musik und Religion zu sprechen, kommt hier exemplarisch zum Ausdruck.

Georg Klein geht der genealogischen Frage nach und bezieht sich dabei auch auf ethnologisches Material - ein Verfahren, das aus den kulturgeschichtlichen Entwürfen des 19. Jahrhunderts bekannt ist. Von hier aus behandelt er dann auch Musik und Religion in systematischer Hinsicht. Seine zentralen Fragen lauten: Was hat Musik kultfähig gemacht? Und: Auf welches religiöse Problem bezieht sich noch die säkularisierte Musik als autonome Kunstform? Im Anschluss an den Berliner Religionswissenschaftler Klaus Heinrich lautet seine Antwort: Musik taugt zur Dämonenbeschwörung und verarbeitet das Prinzip von Formsetzung und Formzerstörung.

Barbara Gundlach Sonnemann behandelt Fragen des religiösen Tanzes. Auch sie thematisiert zunächst genealogische Fragen zur Entstehung des Tanzes und leitet von dort aus zu systematischen Aspekten über. Sie entwirft ein Modell zur Bestimmung des religiösen Tanzes, das aus vier Determinanten besteht: Funktion und Ort, mittelbares Ziel, Beteiligte sowie Methoden und Techniken. Dabei lässt sie die oben aufgeworfene Frage absichtlich offen, ob der Tanz zu einem religiösen durch die Akteure oder die Zuschauer wird. Vielmehr bestimmen erst alle vier Komponenten zusammen den religiösen Tanz.

Gabriele Hofmanns Artikel widmet sich buddhistischen Motiven im Werk Richard Wagners - vor allem im "fliegenden Holländer" und "Parsifal". Ihre leitenden These ist, dass Wagner am Buddhismus die Gedanken von Reinkarnation und - wie an der Lebensgeschichte Buddhas exemplarisch deutlich wird - die Erlösung durch die Erfahrung der Sünde hindurch fasziniert und inspiriert hat. Das Beispiel Wagner lässt sich als ein Beispiel für diejenige Interferenzebene von Musik und Religion verstehen, auf der Musik religiöse Motive - hier in Gestalt der Handlung der Oper und des Librettos - aufnimmt und verarbeitet. Hier könnte sich eine Untersuchung zur Frage anschließen, ob sich auch auf der musikalischen Themen- und Motivebene ein Niederschlag buddhistischen Gedankenguts zeigt.

Klaus Röhring führt mit einer Analyse von Dieter Schnebels Missa brevis vor, wie neue Musik und alte liturgische Traditionen zusammenkommen und so den ursprünglichen Charakter religiöser Liturgik gerade mit den Mitteln der Irritation eingeübter Hörerfahrungen neu zur Geltung bringen. Der Handlungscharakter der Musik wird ebenso Thema wie die Grenzverwischung von Text und Musik: Die Musik wird vom Komponisten als Sprache verstanden, die Stimmungen drastisch artikuliert, während die überlieferten Texte der Missa in der musikalischen Arbeit an der menschlichen Stimme selbst zum Klangzeug werden. Die Trennung von Musik und Text, zwischen musikalischem "Träger" und religiösen Text, verschwimmt.

Joachim von Soosten reflektiert über Dimitri Shostakovitchs "Suite nach Gedichten von Michelangelo Buonarroti für Bass und Orchester" vor dem Hintergrund Michelangelos Skulptur "la notte" vom Grabmal des Giuliano de' Medici. Dabei geht er dem Zusammenhang von Nacht, Schlaf und Unsterblichkeit - wie das letzte Stück der Suite betitelt ist -, nach.

Eine Auffälligkeit der vier zuletzt genannten Beiträge besteht darin, dass sie sich dem Verhältnis von Musik und Religion nicht nur im allgemeinen, sondern anhand der Musik mit anderen Ausdrucks- und Erfahrungsformen widmen: der körperlichen Bewegung (Barbara Gundlach Sonnemann), dem Wort (Gabriele Hofmann), dem Bild bzw. der Skulptur (Joachim von Soosten) und dem der Musik auf- bzw. unterlegten Text (Klaus Röhring). Ist Religion möglicherweise in besonderer Weise am Phänomen der Synästhesie beteiligt oder stellt sich mit ihm ein? Die mit Sigmund Freud einsetzende Erklärung von Religion als Erzeugung und Ausdruck eines "ozeanischen Gefühls", die sich in der Religionspsychologie fortsetzte, ist jedenfalls mit dieser Möglichkeit vereinbar. Und die in den Beiträgen anklingenden Motive und Semantiken von Trance, Einheit alles Lebenden, Eins-sein und Ganzheit, Sehnsucht nach dem Ur-Zustand, Zustand fehlender Gespaltenheit, Vereinigung, Trost, Erlösung, Nacht, Schlaf und Unsterblichkeit lassen sich vor diesem Hintergrund interpretieren.


© Bahr / Krech 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 10/2001
https://www.theomag.de/10/bk1.htm

 
Der  Buch-per-Klick-Bestell-Service
Faber / Krech (Hg.) Kunst und Religion, Studien zur Kultursoziologie und Kulturgeschichte, Würzburg 1999