Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Magazin für Theologie und Ästhetik


Cinema mundi

Kulturelle Profile auf der Berlinale 2000

Karsten Visarius

Der Umzug der Berlinale an den Potsdamer Platz ist an ihrem Programm spurlos vorübergegangen. Bald entdeckt man die alten Linien wieder. Sie zeichnen sich schon am Ausschnitt weniger Filme ab, in einer unvermeidlich subjektiven Selektion, zu der der Festivalbesucher schon angesichts der Fülle der gezeigten Filme gezwungen ist. Den Stand der Dinge läßt die Berlinale trotz ihrer Vielfalt immer weniger erkennen. In den einzelnen Filmen jedoch lassen sich bekannte Konstellationen von Kino, Welt und Ich beobachten.

Erst die Geschichte, dann die Bilder - so sehen heute viele Filme aus. Die Radikalen unter den Filmemachern verfahren umgekehrt. Zu dieser Fraktion gehört ohne Frage auch Gordian Maugg. Am Anfang seines dritten Films - nach "Der olympische Sommer" (1993) und "Die kaukasische Nacht" (1996) - standen gefundene Bilder im wörtlichen Sinn: Fotos (und später auch Amateurfilme), die der Anfang des Jahrhunderts geborene Seemann Hans Warns auf seinen Fahrten und in seinem persönlichen Umfeld gemacht hat. Für "Hans Warns - Mein zwanzigstes Jahrhundert" hat Maugg diese Bilder mit Archivmaterial und im Stil der Zeit nachinszenierten Einstellungen zu einer biographischen Erzählung verwoben. Und zwar so, dass die Unterschiede zwischen den Materialschichten sich zu verwischen beginnen, das Dokumentarische plötzlich wie ein "als ob" und das Inszenierte wie ein "so war es" aussieht.

Am schönsten funktioniert dieses Experiment mit der Zeitmaschine Kino in der Stummfilmära. 1914 heuert Hans Warns als Schiffsjunge auf dem Segelschiff "Herbert" an. Und luchst seiner Mutter, die seine Ausstattung besorgt und ihn vor den Mädchen warnt, auch fünf Mark für seinen ersten Fotoapparat ab. Aus seinen Fotos ersteht das Schiffsleben neu, vor unseren Augen, sepiagetönt, verschrammt und durch Zwischentitel humoristisch kommentiert. Die "Herbert" soll Salpeter aus Chile holen, Rohstoff für die deutsche Rüstungsproduktion. Im chilenischen Hafen Iquique wird das Schiff vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht, die Besatzung unter Quarantäne gestellt. Sie dauert ganze sieben Jahre. Die zum Krieg eskalierte Politik verschlägt Hans Warns in ein historisches Abseits, in dem er seine ersten Liebeserfahrungen macht - wenn auch nur als Zeuge, Bote und Liebesbriefschreiber für einen analphabetischen Freund, der der schönen Marisol verfällt. Es ist, als sei ein Fotoreporter Tannhäuser in den Venusberg gefolgt und habe sich dabei erotisch infiziert.

Die Perspektive eines unbeteiligt Beteiligten, der sich in seine Bilder zurückzieht, bleibt für den Fortgang des Films, für seine Rekonstruktion von Biographie und Historie und ihre Verflechtung bestimmend. Auf Dauer macht die Obsession für die Bilder, für die optische Apparatur das Geschehen zur Nebensache, ob es um den Selbstmord der Mutter, um die Heirat mit der praktischen Wilma, um den Aufstieg zum Kapitän oder um die Verwicklung in den Nationalsozialismus geht. Im Zweiten Weltkrieg, auf einem Zerstörer, der britische Handelsschiffe versenkt, sieht Hans Warns zu, wie die ehemalige "Herbert" unter dem Beschuß der eigenen Geschütze untergeht - und damit dem Schiffbruch des eigenen Lebens. Und doch ist diese Katastrophe nur eine Metapher, nur ein Bild mehr. Es geht weiter, sagt der Film, bis in die neunziger Jahre. In den gespenstischen Schattenbildern des Kinos.

In seiner experimentellen Schicht ist "Hans Warns" eine Reflexion des Kinobildes, in dessen Synthesen sich Innen und Außen, Bruchstück und geschlossene Erzählung, Dokument und Fiktion vermischen. Und zugleich knüpft Gordian Maugg mit seinem romantischen Subjektivismus, mit seiner Entrücktheit und Verinnerlichung an eine spezifisch deutsche Filmtradition an - den filmischen Expressionismus der zwanziger Jahre, den die Filmhistorikerin Lotte Eisner unter dem Titel "Die dämonische Leinwand" porträtierte. Sie charakterisierte damit die Leidenschaft des deutschen Films, sich in das Seelenleben seiner Figuren zu versenken, ob in Wienes "Caligari", in Murnaus "Nosferatu" oder in Robisons "Schatten". Diese nicht ganz geheure kulturelle Tradition wirkt auch in einem stilistisch ganz anders gearteten Film nach. In "Paradiso - Sieben Tage mit sieben Frauen" hat Rudolf Thome sein Kino der Absichtslosigkeit zur Vollendung gebracht. Ein Kino ohne dramatische Zuspitzungen, ohne Effekte, ohne Ideologie, ein Kino, das jegliche Überhöhung vermeidet und stattdessen den mehr oder minder ziellosen Windungen des Alltags folgt - Thome und seine Bewunderer würden wohl eher sagen: dem ganz banalen Leben.

Ein Künstler, ein Komponist, feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Und er hat dazu in sein Domizil an einem mecklenburgischen See - erworben nach der Wende - die wichtigsten Frauen seines Lebens eingeladen, Frauen, die er geliebt und bis auf seine Ehefrau, die weitaus jünger ist als er, verlassen hat. Milde geht es zu in dieser weiblichen Corona, und wäre nicht der ohne den Vater aufgewachsene Sohn der ältesten Geliebten, der ihn zur Begrüßung mit einem Faustschlag niederstreckt, so wäre von Konflikten, von Schmerzen oder einem Hauch von (Selbst-)Zweifel in diesem Film überhaupt nicht zu reden. Nach dem einmaligen Ausbruch ödipaler Rivalität herrscht aber auch zwischen den Männern nur noch Verständnis, Anerkennung und eitel Sonnenschein. Eine Dauerergriffenheit durchtränkt die Bilder und die Dialoge, so nichtssagend die Worte, so flach die Ansichten, so ereignislos die Handlung auch bleiben. Man plaudert und erinnert sich, man kocht, ißt und trinkt, man hört die Fernsehnachrichten vom Kosovokrieg und vergießt hilflose Tränen. Man flaniert durch die Landschaft, man hört ein Werk des Komponisten, pflanzt Bäume und vergibt sich. Und nach den sieben Tagen, wenn die Gäste abgereist sind, der Eisprung naht und die Stimmung danach ist, zeugen Mann und Frau auch noch ein weiteres Kind. Ach ja, auch eine Schlange findet sich im Paradies. Sie wird in der Stadt ein Terrarium zieren.

Die Idylle, von der man nicht weiß, ob sie Utopie oder Zeitbild der berliner Republik darstellt, ist auf das Archetypische frisiert. Einen Thome verwandten Geist, Adalbert Stifter, hat Arno Schmidt einmal als "sanften Unmensch" bezeichnet. Eigensinn und Provinzialismus, Trivialität und Tiefsinn, Transzendenzverlust und Weltfrömmigkeit sind darin eine eigenartige, in sich durchaus konsequente Mischung eingegangen. Thomes Fürsprecher haben ihn immer wieder als deutschen Rohmer verteidigt. Aber es fehlt ihm ganz und gar die analytische Dimension, die Rohmers Filme zu Sittenbildern der französischen Gesellschaft machen. Mit ihm kehrt das Kino ganz ohne Ironie ins Biedermeier zurück.

Bei Claire Denis ist der analytische Blick zum Stil geworden. In ihrem neuen Film "Beau travail", der von einer Erzählung Melvilles inspiriert wurde, taucht die Kamera ein in eine reine Männerwelt, in die Exerzitien einer Einheit der französischen Fremdenlegion im Golf von Djibouti. Die Regisseurin ist nicht an der naheliegenden politischen Kritik des Militärischen interessiert, und auch nicht an einer Denunziation des soldatischen Mannes. Sie untersucht nicht die Funktion der Legion, die sie in aktuellen Krisen immer wieder übernimmt, sondern die Mechanismen der Attraktion, der Bindungskräfte, die sie unter Männern zu entfalten vermag. Und sie gewinnt dabei das Bild eines fast klösterlichen Ordens, der unter dem Zwang einer radikalen Sublimation einen Kult des Schönen zelebriert. "Beau travail", gute oder schöne Arbeit, Arbeit an der Schönheit - das bezieht sich sowohl auf die Modellierung des eigenen Körpers im physischen Drill über die Choreographien des kollektiven Exerzierens bis zur fetischistischen Pflege der Uniformen, die ein wiederkehrendes Ritual des Waschens und Bügelns erzwingt.

Es geht um ein Dasein, das sich selbst zum Ziel hat. Und das deshalb jede Störung, ob von außen oder von innen, ausschließt. Von einem solchen Ausschluß handelt die Geschichte des Films, von einem Fall, in dem das Diktat der Sublimierung versagt. Aus der Perspektive des Ausgeschlossenen, in einem Tagebuchmonolog der Erinnerung ist der Film erzählt, als Drama eines Mannes, der ins Nichts gestürzt ist. Unehrenhaft aus der Legion entlassen, verbringt der Unteroffizier Galoup leere Tage in Marseille, während seine Gedanken um ein verlorenes Zentrum kreisen - Gemeinschaft oder Tod, diese Devise ist ihm buchstäblich auf den Leib geschrieben, in einer Tätowierung, die uns die letzte Einstellung des Films zu lesen gibt. Mit äußerster Diskretion beschreibt Claire Denis eine erotische Bindung, die nicht zur Sprache kommen darf. Durch einen jungen Rekruten sieht sich Galoup der Zuneigung seines Kommandeurs beraubt. Die Kränkung, die er verspürt, treibt ihn zu dem Versuch, den Rivalen in den Tod zu schicken. Die Askese, die der Film auch stilistisch zelebriert, bringt zugleich ein wahnhaftes Delirium hervor. Es verdichtet sich in der gewaltsamen Schönheit der Landschaft und verschafft sich Gehör in einer Filmmusik, die vom Beat der Diskotheken bis zu Opernchören Benjamin Brittens reicht.

Wenn "Beau travail" die gleichsam literarischen Tugenden des französischen Kinos fortführt, Formvollendung, Präzision der Beobachtung, Indirektheit des Sinns, so demonstriert "Magnolia" von Paul Thomas Anderson, der Gewinner des Goldenen Bären, die Unverblümtheit, Emotionalität und missionarische Selbstgewißheit, die das amerikanische Kino auszeichnen. Und die es,gerade wenn es ernst wird, immer wieder zu einem Forum der Verhandlung moralischer Fragen gemacht haben. Anfangs scheint sich der Film in einer Vielzahl von Geschichten, Schauplätzen und Figuren zu verlieren. Er erzählt von einem sterbenden alten Mann, von einem sexistischen Medienstar, von monströs klugen Kindern, die in einer Fernsehshow gegen Erwachsene antreten, von dem krebskranken Showmaster, von einer drogenabhängiggen jungen Frau, die einen schwarzen Polizisten kennenlernt, von einem kleinen Angestellten, dem alles mißlingt. Alexander Kluge hat einmal den vielzitierten Satz geprägt: Es ist alles eine Frage des Zusammenhangs. "Magnolia" überläßt es nicht dem Zuschauer, den Zusammenhang seiner Motive zu entdecken. Nach einer verwirrenden und faszinierend temporeichen ersten halben Stunde klärt der Film die familiären oder beruflichen Beziehungen zwischen seinen Protagonisten; und wenn das nicht gelingt, hilft die narrative Konstruktion nach. Das Spektrum der Themen, Zerfall der Familie und des urbanen Lebens, Kriminalität, Sexismus und Medienmißbrauch, Krankheit und Tod bündelt Anderson im Brennpunkt der Frage nach Schuld und Vergebung. Es ist erstaunlich und bewundernswert, daß der Film diese Bedeutungsschwere zu tragen vermag. Schließlich geht über die schuldige Welt, über das nächtliche Los Angeles sogar ein wahrer Froschregen nieder. Man sieht und staunt und glaubt: Es fallen Frösche vom Himmel.


© Karsten Visarius 2000
Magazin für Theologie und Ästhetik 6/2000
https://www.theomag.de/06/kv2.htm