Vor unseren Augen

I - Warum mir die Kultur der Medienkunst als Theologe wichtig ist

Andreas Mertin

Für Horst Schwebel zum 75. Geburtstag

„Before my eyes“

Die Farbe Schwarz dominiert den ersten Eindruck bei diesem Video. Der Bildschirm ist ganz ins Dunkle gehüllt, nur an zwei Stellen unterbricht Helligkeit das Bild. Der Gesamteindruck ist zunächst der eines Blicks, der einen trifft und verfolgt. Aber man merkt schnell, dass das nicht zutreffen kann. Wir werden nicht in den Blick genommen, sondern bekommen Blicke gezeigt.

Auf der linken Seite sehen wir ganz nah herangezoomt ein Auge, auf der rechten Seite eine Landschaft mit einem Baum und einem brennenden Horizont. Die angesonnene Situation des Betrachters ist unklar. Er kann es nicht sein, der hier blickt, das eigene Sehfeld ist normalerweise nicht so begrenzt. Es kann aber auch kein Blick durch eine Burka oder ein Niqab sein, denn diese verfügen nicht über einen derart breiten Mittelsteg, der die Wahrnehmung begrenzt. Es ist also eher eine symbolische Zusammenstellung. Rechts gibt es etwas zu sehen und links starrt uns ein Auge an. Und zwar blickt es, das wird schnell deutlich, auf das Geschehen, das wir rechts sehen. Denn im Auge spiegelt sich die Szene der rechten Seite. Was wir im Auge natürlicher Weise nicht sehen, ist der Mittelpunkt des Geschehens (der Baum), weil hier die Pupille des Auges die Spiegelung schluckt. Nach etwa 30 Sekunden tritt eine Frau in die rechte Szene und läuft langsam auf den Baum zu. Nach 47 Sekunden des Videos wechselt diese Szene. Wir sehen nun einen Baum links im Vordergrund und rechts davon eine Frau mit einer flackernden Laterne. Sie schreitet langsam (fast lethargisch) auf uns zu.

Im Hintergrund sehen wir eine Landschaft, die am Horizont von einem Gebirgszug abgeschlossen wird, über dem die Sonne untergeht. Die Frau geht nach links aus dem Blickfeld. All dies spiegelt sich auch im gegenüberliegenden Auge. Am Ende blendet die rechte Szene aus in eine abendliche Dämmerung bzw. Nacht, während auf der Seite des Auges die Spiegelung verschwindet. Es sind nun 100 Sekunden vergangen. Wenn dann auf der rechten Seite des Videos wieder etwas sichtbar wird, dann ist es eine Frau im schwarzen Schulterumhang, die vor einem hügeligen Horizont steht, hinter dem sich der rot-orange glühende Schein eines Feuers im aufsteigenden Rauch zeigt. Es ist nicht ganz klar, ob wir hier eine Rückenansicht der Frau vor uns haben oder ob sie in Richtung des Betrachters blickt.

Nachdem das Video rund 120 Sekunden gelaufen ist, sehen wir dieselbe Szene aus etwas veränderter Perspektive. Die Kamera ist nun zurückgefahren und nimmt einen größeren Zusammenhang des Geschehens in den Blick. Wir sehen die Frau vor einer lichterloh brennenden Landschaft, auf der linken Seite der Szene ein dürrer, kahler Baum ohne Blätter, in einiger Entfernung rechts davor die Frau mit der Laterne in der Hand. Sie bewegt sich vor der apokalyptisch anmutenden Szene im Hintergrund, schreitet dann auf den Betrachter zu und bewegt sich langsam nach rechts aus dem Bild. Vor den Augen des Betrachters bleibt eine in Flammen gesetzte Landschaft mit großen Rauchwolken zurück.

Während der ganzen Zeit ist das fast unbewegliche Auge auf der linken Seite des Bildes ein quasi neutraler Betrachter, der – abgesehen von seinem blinden Fleck – das Geschehen auf der gegenüberliegenden Seite spiegelt. Das Augenlid bewegt sich kaum und ermöglicht so, fast den gesamten Ablauf auch im Auge zu verfolgen.

Wenn man wollte, könnte man vermutlich das Geschehen, das im Video als Ganzes vor den Augen des Betrachters abläuft, logisch so auflösen wie auf der nebenstehend abgebildeten Skizze. Zwei einander gegenüberliegende Wände zeigen zwei aufeinander bezogene Projektionen. Auf der rechten Seite ein Video, das das Geschehen zeigt, und gegenüberliegend das Video eines Auges, das die Projektion des Geschehens aufnimmt und wiederum spiegelt. Auf diese Weise entsteht ein komplexes Bild-Abbild-Bild-Verhältnis.

Shirin Neshat: „Before my eyes“

Das gerade betrachtete Video ist ein Medienkunstwerk der iranischen Künstlerin Shirin Neshat. Sie wurde 1957 im Iran geboren, verließ 1979 den Iran und ging nach Amerika um Kunst zu studieren. 1990 kehrte sie für einige Zeit in den Iran zurück und schuf unter dem Eindruck der dortigen Verhältnisse die Fotoserie „Women of Allah“, die bis heute sicher zu den bekanntesten ihrer Werke gehören und ihren Ruhm begründeten.

„Die Schwarz-Weiß Bilder stellen bewaffnete islamische Frauen im bodenlangen Tschador dar. Als besonderes Stilmerkmal sind die unbedeckten Stellen der Haut der Dargestellten mit Texten zeitgenössischer iranischer Lyrikerinnen wie Tahereh Saffarzadeh und anderen in der Landessprache Farsi überschrieben. Die aufgebrachten Schriftzüge wirken wie kalligrafische Ornamente.“ (Wikipedia)

1996 verließ Shirin Neshat den Iran endgültig und schuf in der Folge zahlreiche Videos. Zunächst „Anchorage“ in dem das Thema von „Women of Allah“ aufgegriffen wurde. Es folgten Videos wie „Turbulent“ (1998), „Rapture“ (1999) und „Fevor“ (2000). Im Jahre 1999 gewann sie den Internationalen Preis der 48. Biennale von Venedig mit „Turbulent“ und „Rapture“. 2002 war Neshat auf der von Okwui Enwezor geleiteten documenta 11 mit der überaus eindrücklichen Arbeit „Tooba“ vertreten, die auf den Spuren der Sufi-Poesie einen von einer Mauer umgebenen Garten mit einem Baum in der Mitte zeigte. An diesem Baum stand eine Frau. In der weiteren Umgebung sieht man eine Gruppe von Menschen / Reisenden / Flüchtlingen, die dem als Paradies imaginierten Garten zustreben (insofern ein auch aktuell besonders ausdrucksstarker und aktualitätsbezogener Film). Später wechselte Neshat noch einmal ihr Medium und wurde zur Regisseurin. 2009 erhielt sie für ihren Spielfilm Women Without Men (Zanān bedun-e mardān) eine Einladung zur Teilnahme am Wettbewerb der 66. Filmfestspiele von Venedig und wurde mit dem Regiepreis geehrt.

Insofern ist das hier vorgestellte Video eine Rückkehr in die zweite Schaffensphase. Das Video wurde am 18. Juni 2011 auf der Seite der New York Times veröffentlicht und gehört in einen Zyklus von vier Video-Arbeiten der Künstlerin, die im Laufe des Jahres an gleicher Stelle publiziert wurden. Sie folgen den Jahreszeiten (Spring / Summer / Fall / Winter) und reflektieren das Geschehen dieses bewegten Jahres.

„Das Jahr 2011 war besonders geprägt vom sogenannten Arabischen Frühling. Ausgehend von der Revolution in Tunesien richteten sich Proteste, Aufstände und Revolutionen in der arabischen Welt in mehreren Staaten im Nahen Osten (Maschrek/Arabische Halbinsel) und in Nordafrika (Maghreb) gegen die dort autoritär herrschenden Regime und die politischen und sozialen Strukturen dieser Länder. ... Geprägt wurde das Jahr auch von dem Tōhoku-Erdbeben und -Tsunami vom 11. März. Infolge der Naturkatastrophe kam es im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I zu einer folgenschweren Unfallserie in mehreren Reaktorblöcken.“ [Wikipedia zum Jahr 2011]

Shirin Neshat hat unter das Video „Bevor my eyes“ in der New York Times einen kurzen Kommentar geschrieben:

As spring ends, we grieve what has been lost and cherish what has been gained. We measure the rise and fall of our hopes in the Middle East and remember the catastrophic earthquake in Japan — a natural disaster erupting into a human one. As we enter a new, uncertain season, our destination is unknown, yet we travel against the flames of fear toward the promise of a better future ahead.

Erkennbar kontextualisiert Shirin Neshat damit das Video präzise. Es greift das vorherige Video „Spring“ auf („As spring ends“) und führt eine Art Bilanz des Bisherigen durch. Und es ist eine katastrophische Bilanz: der Untergang der Hoffnungen im Blick auf den arabischen Frühling, der zwar eine Region in Flammen setzte, aber keine wirkliche Befreiung von den Diktatoren brachte. Und die Erschütterung der Welt durch das Erdbeben in Japan samt menschenbedingter Atomkatastrophe in Fukushima. Was daraus wird, was daraus werden kann, ist unbekannt. Und dann, im Video dramatisch umgesetzt, heißt es: „yet we travel against the flames of fear toward the promise of a better future ahead“ – aber diese Bewegung ist im Video eine Bewegung zurück auf den Betrachter zu.

Das Sommer-Video von Shirin Neshat ist somit eine Fortsetzung des ganz anders gearteten Videos zum Frühling, das sich unter dem Titel „Egypt in my heart“ mit Ägypten beschäftigte und dabei eine Performance des Liedes „Inte Omri (You Are My Life)“ durch die ägyptische Kult-Sängerin Umm Kulthum (1904-1975) zeigte. Shirin Neshat notiert zu diesem ersten Video:

In the past months we have witnessed uprisings against oppressive regimes across the Middle East, from Tunisia to Egypt, Bahrain, Iran and Libya. In all these nations, young protesters have been central in demanding reform. As spring arrives, so too do the seeds of a new era for the Muslim world. This video is a tribute to those youth. It features Umm Kulthum, the singer known as the Mother of Egypt. At her death in 1975, she was widely regarded as the most significant Muslim artist of the 20th century. She sang about earthly and spiritual love, as well as solidarity in the struggle for justice. Hers was a voice of hope out of crisis — as vital this season as it was in the past.

Dabei ist der unmittelbare Bezugspunkt zwischen den beiden Videos der Text des Liedes „Inte Omri“, in dem es heißt: „Your eyes took me back, to the days that have gone by. They tought me to regret the past and its pain. All I saw before my eyes saw you, it’s a lifetime wasted. How can they count those days as a part of my life?” Und später heißt es im Liedtext: Bring your eyes close so that my eyes can get lost in the life of your eyes.”

Rückblick, Nahblick bzw. Augenblick und Vorausblick bestimmen also diese Videos. Was liegt vor unseren Augen, was nehmen wir jetzt wahr, was wollen wir sehen und wo ist der blinde Fleck in unserer Wahrnehmung?


Reflexion

Wenn man Shirin Neshats Videokunstwerk “Summer – Before my eyes” einmal vom unmittelbaren politischen und zeitgeschichtlichen Kon-Text des arabischen Frühlings und des verheerenden Erdbebens vor der Küste Japans löst und auf seine formale Komposition blickt, dann ergeben sich – zumindest für den kunsthistorisch interessierten Betrachter - extrem viele assoziative Verknüpfungen. Das Video erweist sich quasi als eine Art Zwiebel, bei der man Schicht für Schicht ablösen kann, um zum Innersten zu kommen. Und jede diese Häutungen legt einen weiteren kunsthistorischen Bezugspunkt frei.

Der Blick des Menschen, das Auge, das seine Umgebung wahrnimmt, interpretiert und spiegelt, sind ein Dauerthema der abendländischen Kunst seit Jan van Eyck und seinen Kollegen der altniederländischen bzw. flandrischen Malerei am Anfang des 15. Jahrhunderts. Sie fragten in ihren Werken nach dem Verhältnis von Blick (des Betrachters), Auge, Seele, Spiegel und Fenster. (Die Aufklärung wird dem dann noch die Lampe bzw. Laterne hinzufügen.)

Das Auge und das Licht bzw. die Finsternis im Verhältnis zur Seele ist aber auch in der gleichen Zeit ein Thema der großen theologischen Entwürfe, wie wir nicht zuletzt anhand der „Visione Dei“ von Nikolaus von Kues (1401-1464) beobachten können, der sich in seinem Schreiben auf die zeitgenössische Kunst bezieht. Nach Nikolaus von Kues ist es „notwendig, dass, wer Theologie auf mystische Weise treibt, sich über jedes Denken und jede Einsicht hinaus, auch indem er sich selbst verlässt, in die Finsternis hineinwirft“.

Der Blick auf Menschen, die ihrerseits einen Blick auf die Landschaft und das Geschehen vor ihnen werfen, ist aber nicht zuletzt ein Thema des beginnenden 19. Jahrhunderts, vor allem in der romantischen Kunst, wie ein kurzer Blick auf das Oeuvre von Caspar David Friedrich zeigt. Und das, was dieser Blick wahrnimmt, wird dann vom künstlerischen Realismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Das kärgliche Leben der Menschen, ihre Arbeit auf dem Feld und das drohende Scheitern an den Realitäten des Lebens.

All das spiegelt sich im Blick der Kunst und all das finden wir in dem kurzen Video von Shirin Neshat gespiegelt. Man kann sich natürlich fragen, ob dies bei ihr eine bewusste Komposition ist, ob sie an van Eyck, Memling, Dürer, Friedrich oder Millet dachte, als sie das Storyboard ihres Videos entwickelte. Diese Frage ist aber meines Erachtens zweitrangig. Wichtig ist, dass ein Aufbau wie in ihrem Video ohne die Vorarbeiten ihrer künstlerischen Vorgänger nicht möglich gewesen wäre.

Van Eyck und Hans Memling – Der Blick

Das Auge und der Blick waren lange kein eigenes Thema der Malerei. Erst mit der frühen niederländischen Malerei wird das Spiel mit dem Blick auf den Blick in der Kunst thematisch.

Hans Belting hat in seinen Buch „Spiegel der Welt. Die Erfindung des Gemäldes in den Nieder­landen“ ein Kapitel der „gemalten An­thro­pologie des Blickes“ gewidmet.

„Der ‚doppelte Blick‘, zu dem der Mensch fähig ist, wurde damals der wahre Schlüssel zu einer Malerei, welche die bloße Sichtbarkeit gerade in dem Augenblick wieder in Frage stellte, da sie sie erstmals in vollem Umfang verwirklichte ... Was der Stifter vor seinem inneren Auge sieht, sehen wir, die Betrachter des Gemäldes, vor unserem äußeren Auge. Der Maler macht also, statt nur das Sichtbare abzubilden, in seinem Werk dasjenige sichtbar, was wir sonst nicht sehen könnten.“ (79)

Hier zeigt sich die Nähe zur Konzeption des Blicks beim Video von Shirin Neshat, die uns auch einen doppelten Blick vor Augen führt, dessen was wir sehen bzw. dessen was wir vergegenwärtigen und dessen, was medialer Spiegel des Betrachteten ist.

Geht es bei der Rolin-Madonna darum, den Blick und die Vergegenwärtigung der inneren Schau zu beobachten, so geht es bei van Eycks Christusporträt um etwas anderes:

„Wir sehen in realistischer Nahsicht die menschli­che Physiognomie desjenigen, der in seiner Doppelnatur als ‚Gottmensch‘ den Leib-Seele-Dualis­mus des Menschen begrün­det hat und zugleich überbietet. Das Doppelfenster im Auge ist, wie bei den Porträts, ein verstecktes Zeichen für die unsichtbare Natur, die in der sichtbaren Natur enthalten ist. Die Frontalität des Gesichts, mit dem unbewegten Blick, ist keineswegs ein Zugeständnis des Malers an die Aura der Ikone, sondern eine Echtheitsgarantie für das Aussehen Christi.“ (85)

Das Auge bzw. der Blick als solcher tritt hier in den Vordergrund. Wir müssen durch die Augen hindurch blicken, müssen das Verborgene im Sichtbaren erkennen.

In etwas anderer Weise ist Hans Memling (1440-1494) dieses Problem angegangen. Auch er musste sich damit beschäftigen, wie etwas, was zunächst nicht „vor Augen liegt“ dennoch wahrnehmbar wird und vergegenwärtigt werden kann. Sieht man von der medialen Präsenz aktueller Ereignisse im Fernsehen ab, dann ist auch das Geschehen in Ägypten oder in Japan für uns so fern, wie die Madonna samt Christuskind für den Stifter des folgenden Gemäldes von 1487. In beiden Fällen geht es nicht um die Abbildung eines Geschehens, sondern um die Vergegenwärtigung, das Präsent-Machen, die produktive Einbildungskraft.

Erkennbar spielt Memling in komplexerer Weise mit dem Zusammenhang von Bild, Blick, Fenster, Tür und Spiegel. Angesonnen wird uns ein Paradox, dass nämlich Stifter und Madonna samt Kind sich im selben Raum befinden und wir sie qua Gemälde dabei sehen können. Aber der Stifter blickt die Madonna nicht an, wir können ihn beim Schauen beobachten und erkennen, dass er sich im Modus der Inneren Schau befindet. Es gibt keine direkte Kommunikation zwischen dem rechten Teil des Diptychons und dem linken. Allerdings legt uns ein Detail des linken Bildes nahe, dass sich dennoch alle im selben Raum befinden.

Der Hohlspiegel über dem Kopf des Christuskindes spiegelt beide – Madonna und Stifter – in einem Raum. Es gibt also diesen gemeinsamen Raum (wenn auch nur in einem Spiegel und nicht von Angesicht zu Angesicht). Nun aber kommt ein Detail hinzu (ähnlich wie im Video von Shirin Neshat): der Hohlspiegel zeigt, dass der Betrachter selbst sich noch einmal außerhalb dieses imaginierten Raumes befindet und durch ein Fenster (oder eine Tür oder einen Rahmen) auf das Geschehen blickt. Was hier eigentlich „vor unseren Augen“ liegt, ist nur autoreflexiv zu bestimmen.

Albrecht Dürer

Am Beginn des 16. Jahrhunderts hat Albrecht Dürer, der sich auf seinen Reisen für die Kunst von van Eyck interessierte, selbst noch einmal ebenso ironisch wie reflektiert darauf Bezug genommen, was „vor unseren Augen“ liegt. Sein doch so harmlos wirkender Feldhase nimmt dennoch in seinem Auge die ganze Welt in den Blick, spiegelt nicht nur den Innenraum des Ateliers von Dürer, sondern verweist durch die Fenster auf den Außenraum, die Welt draußen.

Gleiches gilt für Dürers Selbstporträt von 1500 bzw. 1509. Man muss schon die Überlegungen von Nikolaus von Kues zur Gottesschau aus dem Jahr 1453 mit einbeziehen, um die Radikalität des Bildes von Dürer zu begreifen. Es ist ja das eine, dass wir hier so etwas wie eine frühe Christusidentifikation vor uns haben, das andere ist aber die Reflexion über die Bedeutung und die Leistungsfähigkeit des Blicks. Wenn wir in der Alten Pinakothek vor Dürers Bild stehen, sehen wir nicht nur einen selbstbewussten Bürger, der sich in der Art eines Christusbildes präsentiert, sondern auch einen, der in der Art der Visione Dei auf die Welt blickt. Diana Bormann-Kranz beschreibt in ihren „Untersuchungen zu Nikolaus von Kues“ dessen Argumentation:

„Der Betrachter des Bildes macht die Erfahrung, daß der Blick aus dem Bild ihn immer betrachtet unabhängig von dem jeweiligen Standpunkt des Betrachters. Der Blick aus dem Bild konzentriert sich scheinbar auf das jeweilige betrachtende Individuum; wenn der Betrachter jedoch seinen Standort wechselt, macht er die Feststellung, daß der Blick aus dem Bild ihn an geänderten Positionen mit gleicher Intensität anblickt wie an dem ursprünglichen Standort. Der Blick aus dem Bild scheint also mit dem Betrachter die Position zu verändern. Die sinnliche Erfahrung führt den Betrachter zu der Erkenntnis, daß der Blick aus dem Bild zugleich alle Betrachter und jeden einzelnen mit der gleichen Intensität anschaut. Hinzu kommt noch die Erfahrung, daß der Blick aus dem Bild sich zu verändern scheint, obwohl der Betrachter weiß, daß das Bild fest und unveränderlich ist, so daß eine Veränderung des unveränderlichen Blicks vorzuliegen scheint.“

Bosch und Breughel – Die Hölle und die Katastrophe

Keiner der bisher benannten Künstler hatte das Katastrophische als solches im Blick. Wie auch unsere heutigen Politiker reden wir lieber über „blühende Landschaften“ als über „verbrannte Erde“. Allenfalls bei Albrecht Dürer taucht die Hölle auf Erden auf. Bei Hieronymus Bosch (1450-1516) finden wir dann erstmals einen brennenden Horizont, der ansatzweise über die Darstellung der menschlich verursachten Hölle auf Erden hinausgeht und ins grundsätzlich Katastrophische ragt. In seiner Versuchung des Heiligen Antonius (um 1505/10; hier im Detailausschnitt) wird das apokalyptische Geschehen der in Flammen gesetzten Welt, das bisher in der Regel dem Höllenteil seiner Gemälde vorbehalten war, auf die gesamte Welt übertragen. Die Welt steht in Flammen.

Pieter Breughel der Ältere (1525-1569) erweitert dann das Szenarium ins Globale, der Triumph des Todes (1562) scheint allgegenwärtig und unentrinnbar zu sein, vor allem aber losgelöst von allem endzeitlichen Geschehen.

Hier sind wir endgültig bei dem angelangt, was Menschen Menschen antun, also bei dem, was auch im Fokus der Video-Arbeit von Shirin Neshat steht: „our destination is unknown, yet we travel against the flames of fear toward the promise of a better future ahead“.

Caspar David Friedrich und Millet

Ob Shirin Neshat bei der Konzeption ihres Videos bewusst auf Vor-Bilder von Caspar David Friedrich (1774-1840) zurückgegriffen hat, kann man in Frage stellen, mir scheint es aber durchaus evident zu sein. Zu sehr drängen sich bestimmten Figuren-Licht-Horizont-Kombinationen aus dem Bildgedächtnis auf.

Bedenkt man die inzwischen bekannten politischen Implikationen der Bilder Caspar David Friedrichs, sein Engagement für die Befreiungskriege gegen Napoleon und seine Klage über die einsetzende politische Restauration, dann liegt es nahe, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen.

Auch Friedrich ging es um den Aufbruch zur Freiheit (seines Landes), auch Friedrich beklagte den politischen Rückschlag und die nicht eingelöste Hoffnung der gescheiterten politischen Umwälzung. 

Weniger naheliegend ist vielleicht der darüber hinausgehende Bezug auf die späten schon dem Symbolismus zuneigenden Arbeiten von Jean-François Millet (1814-1875), die die Landschaft in ein mystisches Licht tauchen.

Vielleicht entspricht das dem, was der britische Philosoph und Theologe Nathanael Culverwel in der Mitte des 17. Jahrhunderts unter Aufnahme von Sprüche 20, 27 (Die Leuchte des Herrn ist des Menschen Geist) so formulierte: „Aus diesem Grunde begreifen die Platoniker den Geist des Menschen als Kerze Gottes, damit er Gegenstände erhelle und bestrahle und mehr Licht auf sie werfe, als er von ihnen erhält . . . Und wahrlich, er (der Mensch) möge sich nur diese eingepflanzten Ideen, diese Lichtsamen in seinem äußeren Auge, als die keimtragenden Prinzipien seines geistigen Auges vorstellen . . . (Aristoteles) war seinem eigenen Wissen auch nicht voraus, . . . sondern hat offen eingestanden, daß sein Verstand nackt auf diese Welt kam. Er zeigt Euch . . . eine abrasa tabula . . . Das läßt ihn die Fenster der Sinneswahrnehmung öffnen, um die ersten Morgenstrahlen, das frühe Glitzern des Morgenlichts, zu begrüßen . . . Da er keine angeborenen Farben, Bilder oder Gemälde in seinem äußeren Auge wahrnehmen konnte, konnte er auch keine Signaturen in seinem Geist finden, bis irgendwelche äußeren Objekte sich seinem sanften und fügsamen Verstand aufgeprägt hatten, der jedem Siegel gleichermaßen verfügbar war.“ (N. Culverwel zit. nach Abrams, Spiegel und Lampe, 1978)

Auch Shirin Neshat verknüpft ihre Video-Arbeit nicht mit unmittelbaren Szenen des arabischen Frühlings, der Aufstände und der Niederschlagung der revolutionären Hoffnungen. Sie schafft vielmehr eine Stimmung, ein Gefühl, das auf das visuelle Gedächtnis und Gefühlsreservoir der Kulturgeschichte der Menschheit Bezug nimmt.


Shirin Neshat – Blick zurück nach vorn

Das alles ist nur ein kleiner Teil dessen, was sich in dem Medienkunstwerk „Before my eyes“ von Shirin Neshat spiegelt bzw. in seiner Wahrnehmung im Voraus gesetzt ist.

Medienkunst begreife ich als eine völlig neue Art und Weise, Altes und Neuestes in den Blick zu nehmen. Sie knüpft mit ihren besten Vertretern an die Kunst der großen Meister des beginnenden 15. Jahrhunderts an. So wie dort in äußerster Konzentration über den Blick und das Auge, über Wahrnehmung und Erkenntnis „in der Malerei“ und „mittels der Malerei“ nachgedacht wurde, so zeigt uns auch die Medienkunst der Gegenwart wie komplex das ist, was „vor unseren Augen“ liegt und unsere Reflexion anregt. Die Medienkunst kann Fragestellungen im Medium der Kunst reflektieren, die auch solche der gegenwärtigen Philosophie und Kulturtheorie sind, Fragen nach Virtualität und Realität, nach den großen und den kleinen Erzählungen. Anders als der Mainstream des Kinofilms ist sie nicht an die Unterhaltungsfunktion gekoppelt. Sie löst, so könnte man spekulativ sagen, das ein, was Walter Benjamin sich einmal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der avancierten Form des Kinos erhoffte, bevor dieses von Hollywood umschlungen wurde. Und das ist auch der Grund, warum mir die Kultur der Medienkunst als Theologe wichtig ist, weil sie über die Bewegungen der großen Kunststile und Kunsttendenzen der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hinausführt.

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„The reflecting eye“ - um diese Anspielung auf Bill Violas Erstlingsarbeit „The reflecting pool“ aufzunehmen - zeigt uns nicht eine wirkliche Lichtspiegelung, nicht eine „Reflexion“ im Sinne einer bloßen Wiedergabe (das wäre schlechte Kunst), sondern ist bereits eine Reflexion im Sinne des kritischen Nachdenkens und Gestaltens, der Perspektivierung des Geschehenen und des Geschehens. Der reflektierende Pool bei Viola, das reflektierende Auge bei Neshat zeigen uns eine Realität, die sich eben in einem Pool, in einem Auge normalerweise nicht wahrnehmen lässt, und doch in ihm reflektiert wird.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/98/am524.htm
© Andreas Mertin, 2015