Pack die Gucci-Tasche ein, die Apokalypse kommt!

Vorstellungen ausgewählter Videoclips XLIII

Andreas Mertin

Darf man Madonna an den Maßstäben von Kunst messen? Immerhin sind einige ihrer Videoclips auch im Museum of Modern Art vertreten. Und vom Selbstanspruch her will Madonna eigentlich immer die Beste und natürlich auch die Hippste sein. Und seitdem Lady Gaga ihr Abramović-Steckenpferd reitet und auch Björk im MOMA ausgestellt wird, ist ja selbst Popkultur zumindest scheinbar Kunst. Wohlan, vergleichen wir einmal Madonnas neuestes Werk „Ghosttown“ über die postapokalyptische Heilige Familie mit einem Werk der zeitgenössischen Kunst.


Madonna: Ghosttown (5:18 – 2015) (https://vimeo.com/124447208)

Am Anfang: die Ankündigung des Endes. Blinkender Bildschirm mit dem vielsprachigen Hinweis auf eine wichtige Nachricht. Dann die unheilschwangere Zwischeneinblendung: A YEAR FROM NOW – und im Hintergrund verschwommen das Bild einer explodierenden Atombombe. Der Nachrichtensprecher verkündet die Vernichtung von New York, Paris, London und Los Angeles. Schnitt. Madonna liegt auf dem Bett einer heruntergekommenen Wohnung – schick gekleidet selbstverständlich – und lauscht den Nachrichten im Fernsehen. An der Wand ein Kruzifix sowie Erinnerungsfotos. Sie geht zum Spiegel, küsst ein Foto, hängt sich ein Kruzifix um und drückt eine Kerze aus. Sie verlässt die Wohnung mit einem Golfschläger in der Hand – was sollte man auch sonst in postapokalyptischen Zeiten mit sich herumschleppen?

Außerhalb der Wohnung brennen auf der Straße und in den Hauseingängen diverse Feuer, Madonna findet einen Zylinder, auf dem Boden krabbelt eine Vogelspinne. Madonna setzt sich den Zylinder auf, eine Ratte krabbelt durchs Bild während Madonna in die Madison Ave einbiegt. Brennende Autos, ein Wolf streift durch die Stadt. Madonna erkundet einen abgebrannten Spielplatz. Ein Mann kocht sich auf einem Grill einen Kaffee. Madonna findet einen uralten Telefonhörer und versucht verzweifelt, nach Hause zu telefonieren. Da das erwartungsgemäß nicht gelingt, zerschlägt sie mit ihrem Golfschläger herumliegende Möbel. Das schreckt den Mann am Grill auf, der zum bereitliegenden Gewehr greift und Madonna mit dem Zielfernrohr anvisiert. Im Fadenkreuz verfolgt er sie, aber Madonna läuft davon (und der Wolf rennt herbei). Ein kleiner junge sitzt auf dem Sofa und wird offenbar auf das Geschehen aufmerksam. Madonna und der Mann stehen sich gegenüber – er mit dem Gewehr im Anschlag, sie mit dem Golfschläger in der Hand. Der Junge verlässt sein Versteck. Madonna und der Mann belauern sich. Der Mann wirft sein Gewehr weg, Madonna entledigt sich ihres Golfschlägers. Sie tanzen einen postapokalyptischen Tango. Sie kommen sich nahe und der kleine Junge tritt hinzu. Händchenhalten laufen die drei – nein nicht in den Sonnenuntergang – sondern ins postapokalyptische Los Angeles, nicht ohne dass auch noch der Wolf hinzugeeilt wäre. Nur die Spinne und die Ratte fehlen. Dafür hat Madonna einen roten Teddybären in der Hand. Noch einmal ein kurzes Flackern des Bildschirms und das war es.

Was sich in der Paraphrase wirr und überaus lächerlich anhört, ist es auch. Liest man die Beschreibung in der englischsprachigen Wikipedia, kommt man unschwer zur Einsicht, dass es sich hier um eine komprimierte Form von Kitsch handelt: „the song was inspired by the imagery of a destructed city after armageddon, and how the survivors carry on with their lives, with love being the only thing they can hold onto.“

Man könnte das Ganze als Inversion des Kinofilms I am Legend lesen (Mann mit Gewehr, Frau, Kind, Hund), aber das würde ihm doch zu viel Ehre zukommen lassen. Tatsächlich ist es eher eine Modeinszenierung als irgendetwas sonst. Die Darstellung in der englischen Ausgabe der Wikipedia liest sich jedenfalls wie der Bericht von einer Modenschau:

Madonna's look in the video was styled by B. Åkerlund, wife of Jonas, who blended contemporary fashion trends like military-bandleader-Victorian and gave it her signature characteristics. She created a leather greatcoat with a billowing cape, from designer label Chrome Hearts, considering the rock-n-roll silhouette of the video. … Rest of the ensemble included leather, metallic combinations, green silk vest from A.F. Vandevorst, and cotton clothing from Greg Lauren. The lace shorts Madonna wore was vintage, and Åkerlund burnt up the singer's Agent Provocateur bra and applied dirt on it for giving special effects. The whole inspiration for Åkerlund behind the look was Jonas, as well as the couple's interest in rock-n-roll. Madonna approved the design, saying that "It was magical... It perfectly represented the vibe that we wanted to bring to the video." She also asked for a golf club and pocket knife to make the look more edgy.

Sagen wir ehrlich: So trendy haben wir uns die Apokalypse schon immer vorgestellt. Bevor es losgeht, gehen wir am besten schnell noch mal schoppen. Pack die Gucci-Tasche ein, die Apokalypse kommt! In der Gestaltung gelangt der Re­gis­seur Jonas Åkerlund in diesem Clip nicht über die Werbeästhetik von Bettina Rheims hinaus. Insgesamt könnte man sagen: Madonna nähert sich – vermutlich eher ungewollt – Lady Gaga an, bei deren Clips die Accessoires auch immer eine große Rolle spielen.

Nun könnte man, wenn man so einen Clip dreht, sich ja für eine Sekunde fragen, was wohl eine Atombombe für eine Stadt wie Los Angeles bedeuten würde – und warum unter den vier Städten dieser Welt, die es bei dieser apokalyptischen Vision trifft, ausgerechnet Los Angeles ein Zielpunkt sein sollte. Und wenn es Los Angeles träfe, wie sähe die Stadt nach einem Atomschlag (und nicht nur nach einer von Terroristen gezündeten schmutzigen Atombombe) aus?

Es gibt eine Studie, die den Wirkungen einer derartigen Atombombe auf amerikanische Großstädte nachgeht und wenig Hoffnung macht, man könne im Zentrum eines atomaren Angriffs irgendwie unbehelligt davonkommen und anschließend auch noch durch die Straßen spazieren – in denen tatsächlich noch nicht vollständig pulverisierte Poster von Madonnas Album Rebel Heart herumhängen. Das ist nur absurd und in einer gewissen Weise auch krank, weil es den Eindruck vermittelt, eine  atomare Katastrophe sei auf irgendeine Weise handhabbar.

Absurd ist allein schon der Gedanke, dass – wie in Madonnas Video – nach einem Atomschlag der Fernseher und die Raumbeleuchtung noch funktionieren könnten. Und auf die Idee, dass jemand nach der atomaren Apokalypse mit einem Gewehr samt Zielfernrohr(!) rumläuft, kann man wohl nur in Amerika kommen, oder weil man zu viel I am Legend gesehen hat. Nicht einmal als allegorisches Theaterspiel – auf das Madonna ja sonst so viel wert legt – macht das Alles Sinn. Es ist ein zur Groteske geronnenes Klischee. Und die Inszenierung ist nicht zuletzt  ein Hohn auf die Opfer des amerikanischen Atomschlags auf Hiroshima und Nagasaki.


Moon Kyungwon und Jeon Joonho: El fin del mundo

Aber man kann auch anders mit dem Thema umgehen. Erinnern wir uns: 2012 hatten Moon Kyungwon und Jeon Joonho in der documenta-Halle in Kassel eine Video-Installation gezeigt, die fragte: Wie werden künftige Menschen nach einer Apokalypse versuchen, unser heutiges Leben zu verstehen? Diese Arbeit gehörte seinerzeit zu den herausragenden Werken der dO­CU­MENTA(13). Auch diese Arbeit spielte mit zwei Zeitebenen: einer, in der sich die Apokalypse ereignet und das Leben auf der Erde zerstört und sie dauerhaft kontaminiert. Und eine, in der lange Zeit später eine neue Generation von Menschen versucht, anhand der spärlichen verglühten Überreste das Leben der Vorfahren zu rekonstruieren. Und auch hier geht es um Emotionen, um Hoffnungen und Ängste, um das Berührt-werden von Gegenständen wie von Menschen. Und auch hier gibt es ein Ende, das positiv gestimmt ist, den Ausbruch/Aufbruch aus den bestehenden Verhältnissen. Die Künstler beschreiben ihr Setting so:

In the late 21st century, following a catastrophe on Earth, most of the world is under water, and majority of humans have died. Survivors now live in a dangerous environment. In this world of chaos, where all order, values, national governments and social systems have collapsed, a small number of corporations maintain a new system of human society. The companies gathered the survivors together, gave them “citizenship,” and provided them with comfortable lives and the benefits of civilization. Using survivors’ labor, the corporations now compete with one another in order to acquire hegemonic control of the new world. Survivors complete dangerous tasks and go through a strict screening process before they finally attain citizenship from one of the companies.

This film is divided into two separate screens: one for the man and the other for the woman. The film simultaneously depicts how the male character continues to work on his art even through the catastrophe and how the female character, a descendant of the survivors, becomes aware of the aesthetic senses after the catastrophe. The woman is sent by Tempus, one of the remaining companies, to a remote archive and happens upon the place where the man worked long ago, coming into contact with traces of the man that transcend time and space.

Der Betrachter blickt also auf zwei Leinwände: rechts ist er in der erzählerischen „Gegenwart“ und schaut der Frau zu, wie sie in einem aseptisch anmutenden Labor, isolierte Elemente aus der Vergangenheit zu rekonstruieren sucht. Es ist ein post-apokalyptisches Szenario, kalt, steril, ohne Leben und Chaos. Auf der linken Seite sieht man einen Raum, in dem der Mann mit verschiedenen Materialien arbeitet, zum Beispiel am Schmuck eines Weihnachtsbaumes (der dann auf der rechten Seite rekonstruiert wird). Wenn man nichts von Weihnachtsbaumketten weiß, wie rekonstruiert man sie – formal, funktional, intentional?

Szeneübergreifend wirkt ein Hund, der zwar nur auf dem linken Video auftaucht, dennoch aber Resonanzen auf dem rechten Video auslöst. Er scheint in mythischer Weise mit dem Tod verbunden zu sein.


This is not the end my friend

Vergleicht man die beiden Inszenierungen, dann fällt auf, dass für Madonna bzw. ihren Regisseur Åkerlund die apokalyptische Einfärbung nur ein Vorwand für eine Modenschau ist: „It perfectly represented the vibe that we wanted to bring to the video“ (Madonna). Die Apokalypse der Welt ist Staffage, nicht wirklich ein existentielles Thema. 2003, zu Beginn des damaligen Irakkrieges hatte Madonna noch anders agiert und die Modenschau als zugespitzte Kritik am amerikanischen Kriegskult inszeniert. Davon kann nun keine Rede mehr sein. Madonna geht es in Ghosttown keinesfalls um das Ende der Zeiten oder den Untergang der westlichen Zivilisation. Der Schaden, den Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen an Leib und Leben erleiden müssten, wird mit etwas kitschiger Liebe weggebügelt. Hauptsache man/frau hat überlebt. Was für ein schaler Triumph der Heiligen Familie. Ein bisschen wirkt sie wie eine modernisierte Whitney Houston, die in ihrem ebenfalls an der Apokalypse orientierten Song „My love is your love“ bekundet hatte:

If tomorrow is judgement day / And I'm standin' on the front line /
And the Lord ask me what I did with my life / I will say I spent it with you ...
If I wake up in WW 3 / I see destruction and poverty /
And I feel like I want to go home / It's okay if you commin' with me.

Genau so ist es: If I see destruction and poverty, it’s okay if you commin‘ with me. Ganz im Sinne von Rainer Langhans und der Kommune 1: Was interessiert mich der Vietnam-Krieg, wenn ich Orgasmusprobleme habe.

Nicht zuletzt klingt das alles nach dem trivialen Love ist he answer von Utopia:

Tell me, are we alive, or just a dying planet? What are the chances?
Ask the man in your heart for the answers

Letztlich spielt das Kunstwerk von Moon Kyungwon und Jeon Joonho doch in einer ganz anderen Liga. Hier geht es tatsächlich um den Zusammenbruch einer Zivilisation und um das Bemühen, das Leben gerade auch in Kenntnis der Gründe für den Untergang fortzusetzen – Collapse and Recovery hieß dementsprechend auch ein Leitthema der documenta. Bei Moon Kyungwon und Jeon Joonho wird die Apokalypse nicht trivialisiert und auch nicht sensualistisch aufgebauscht und es wird auch keine idyllische Zukunft der happy few entworfen. Der Verlust des Vergangenen ist und bleibt spürbar und das Leben am Tag danach ist eingeschränkt. „Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun“ (Horkheimer / Adorno).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/95/am505.htm
© Andreas Mertin, 2015