Globalisierung der Religionen


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Nicht jenseits von Religion – aber auf dem Weg zu einem „post-religionalen“ Paradigma

Eine kommentierende Beschreibung des Theologischen Vorschlags der Internationalen Theologischen Kommission von EATWOT

Reinhard Kirste

In diesem Dokument, das im Jahre 2012 in der Internet-Zeitschrift VOICES[1] der EATWOT-Theologen[2] veröffentlicht wurde, geht es darum, die religiösen Veränderungen weltweit nicht nur zu analysieren, sondern weitergehende Konsequenzen daraus zu ziehen. Die vielschichtigen Phänomene lassen sich nicht einfach mit den Begriffen Säkularisierung, neue Spiritualität oder einer unbestimmten Religiosität umschreiben oder in der Spannung zu fundamentalistischen religiösen Gegenbewegungen erklären. Darum hat die Kommission einen „theologischen Vorschlag“ erarbeitet.

Die Verfasser sehen keineswegs eine Zeit der Religionslosigkeit heraufkommen. Es geht also nicht um „Post-Religiosität“. Aber es mehren sich die Stimmen, die artikulieren, dass bisherige religiöse Denk- und Lebensmuster nicht mehr greifen und so eine neue Haltung entsteht, die Religiosität und Spiritualität in einer bisher noch ungewohnten Weise zum Lebensinhalt macht. Die Autoren folgern daraus mit einer sprachlichen Neubildung ein „post-religionales“ Paradigma, in dem die Dogmen und Rituale, überhaupt die Eigentümlichkeiten und Identifikationsmuster der Religionen in ihrer Relativität gesehen und übersprungen werden (sollten). So haben sich z.T. bereits neue ungewohnte und unerwartete Weisen von Religiosität jenseits der traditionellen Religionen entwickelt. Diese sind dabei, sich auch zahlenmäßig beachtlich zu etablieren.

Der lateinamerikanische Theologe José María Vigil[3] gehört zu den wichtigen Initiatoren dieses Textes. Aber der hier vorgelegte Text ist keine Einzelarbeit, sondern das Ergebnis gemeinsamen Suchens und Fragens innerhalb von EATWOT.

Welche Wirkungen und Reaktionen dieses Dokument auf Dauer hervorrufen wird, ist derzeit schwer abzuschätzen. Es scheint eher die theologische Tendenz zu geben, den „Vorschlag“ als eine Außenseiterposition darzustellen. Das wäre jedoch zu bedauern, weil hier die Gefahr europäischer oder nordamerikanischer Interpretationsdominanz nicht gegeben ist. Die LeserInnen mögen darum selbst die Tragfähigkeit der Analysen und Begründungselemente prüfen. Es steht jedoch außer Frage, dass die hier angestoßene Debatte dringend geführt werden muss.

Der „theologische Vorschlag“ der EATWOT-Kommission ist in drei Abschnitte gegliedert:

  1. Zur Hypothese eines post-religionalen Paradigmas
  2. Hauptelemente eines post-religionalen Paradigmas – Definitionsversuche
  3. Synthese und Konsequenz angesichts der unmittelbaren Neuorientierung („Transit“)
1. Vorüberlegungen und mögliche Begründungen für die Hypothese eines „post-religionalen“ Paradigmas

Die Autoren sehen das Christentum in Europa und Amerika sowohl den Katholizismus wie den Protestantismus in einer tiefen Krise. Was aber kommt nach dieser Krise? Immer mehr Beobachter im globalen Kontext sind der Meinung, dass das bisherige Verständnis von „Religion“ und „Religionen“ zur Disposition stehe. Das komme auch daher, dass die traditionellen Religionen den tiefen kulturellen Veränderungen auf der Welt offensichtlich nicht genügend Rechnung tragen und sich auch nicht von ihren eigenen Konditionierungen befreien können. So entsteht die Hypothese eines "post-religionalen Paradigma" aus der Frage nach dem Aussehen einer künftigen Gesellschaft. Hier kommen sehr entgegengesetzte Phänomene zusammen, oft verbunden mit religiösem Konservatismus, spirituellen und charismatischen Erweckungen oder einem neuen Atheismus. Das zeigt sich verstärkt in einigen geografischen Bereichen im Zusammenhang mit der zunehmenden Verstädterung in der Welt.  Besonders betroffen sind Jugendliche und Erwachsene und ihr (erschwerter) Zugang zu Bildung, Kultur und Technik. Auch scheint sich eine weniger offenkundige Konfrontation zwischen Wissenschaft und Religion anzubahnen, die neue Vorstellungen von Religion im Verständnis der Kulturanthropologie aufkommen lässt.

Religionen im heutigen Sinne gibt es, so meinen die Autoren, erst seit der Steinzeit. Die heute (noch) existierenden Religionen sind vergleichsweise jung, die älteste, der Hinduismus, besteht gerade einmal 4500 Jahre, die jüdisch-christlichen Traditionen sind etwa 3200 Jahre alt. Was aber haben die Menschen in der „Steinzeit“ für (religiöse) Vorstellungen gehabt oder gar vor 5-6 Millionen Jahren? Festzuhalten bleibt, dass die Menschheit vom Übergang der reinen Nomadenkultur der Jäger und Sammler hin zur Ackerbauerkultur sich quasi neu erfinden musste. Hier liegen vermutlich das Bedürfnis und die Erfahrung von Transzendenz. Alles war dann auf „Religion“ zentriert und strukturiert: Weisheit (und Unwissenheit), Glaube, Kultur, Sinneserfahrungen, Identität, sozialer Zusammenhalt und das Gefühl von Identität und Zugehörigkeit der Angehörigen derselben religiösen Tradition. "Kultur ist die Form der Religion, und Religion ist die Seele der Kultur", so zitieren die Autoren den evangelischen Theologen Paul Tillich. So konzentrieren sich die Autoren auf religiöse Impulse, den sie lieber mit dem unscharfen Begriff der Spiritualität benennen wollen  

2. Hauptelemente eines post-religionales Paradigmas – Definitionsversuche

So postulieren die Autoren im Sinne einer angemessenen Konzeptualisierung Spiritualität als die tiefgreifende Dimension (Tillich), um die Notwendigkeit und die Strukturen unseres Lebens in größeren Zusammenhängen und in ihren entscheidenden Motivationen (man denke an die Mystiker) (besser) zu verstehen.

Seit dem Neolithikum muss man sich nämlich fragen, durch welche internen Mechanismen Religion(en) ausgeübt und wie Gesellschaften durch sie gesteuert werden. Die Kommission nennt folgende Gesichtspunkte:

  • Die Schaffung und Einführung einer eigenen Sicht von Welt und Kosmos
  • Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Lebens
  • Welterklärung und Zukunftsorientierung durch die Erzählung von Mythen
  • Behauptung von Offenbarung als dem Willen Gottes
  • Betonung göttlicher Legitimierung, die zu Gehorsam und Glaube nötigt und die Gesellschaft entsprechend (hierarchisch) strukturiert. 

In diesem Zusammenhang bedeutet „post-religional“ nicht eine Religiosität nach der Religion, also nicht post-religiös. Es wird weiterhin die spirituelle Dimension im Leben der Menschen und der Gesellschaft geben. So bedeutet dieses „post“ weder „nachher“ noch „später“, aber durchaus Ansätze zu einer Überwindung bisheriger (etablierter) Religion(en). Das heißt dann, dass „Religion“ ohne Dogmen und ohne soziale Kontrolle und Unterwerfung auskommen wird und muss. Sie wird quasi aus ihrem „neolithischen“ Gehäuse entlassen.

Wenn also Religionen etwas anderes werden, als was über sie traditionell gedacht wurde, dann ist Folgendes zu beachten:

  • Religionen sind historische Phänomene im Rahmen konkreter soziokultureller Gestaltung. Auf diese Weise entsteht „Kultur“ in sozialen, regionalen und globalen Zusammenhängen, die sich erheblich verändert haben.
  • Religionen sind Annäherungsversuche an das Geheimnis des menschlichen Wesens und seiner innewohnenden Transzendenz.
  • Es gilt anzuerkennen, dass Religionen menschliche Konstruktionen sind, die allerdings in der Geschichte als göttliche Triebkräfte verstanden wurden und damit Absolutheitscharakter gewannen.
  • Daraus folgt die Notwendigkeit, die Wirklichkeit in Verbindung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen in ihrer Relativität zu akzeptieren und damit bisherige Interpretationen zu revidieren. Das heißt zugespitzt: keine Religion ist ewig.
  • Spiritualität in ihrer Vielfältigkeit kann sowohl Hinderung wie Motivationsschub für sozio-kulturelle Veränderungen sein, sie bleibt jedoch ein menschliches Charakteristikum. Im post-religionalen Paradigma gibt es keine Monopolansprüche mehr.
  • Das Ende bisheriger Religionssysteme mit ihrer Absicherung durch „Heilige“ Schriften und autoritative Äußerungen ist ernst zu nehmen. Damit entfällt die Möglichkeit, sich auf absolute, göttlich offenbarte Wirk- und Handlungsweisen zu berufen und damit Kontrolle über menschliches Denkens auszuüben.
  • Die Autoren fordern ein bewusstes Ja zur kulturellen Transformation und damit zu einem Systemwechsel weg von Gesellschaftsbildern, die entweder durch neolithische Strukturen und später durch die agrarische oder technisch-industrielle Revolution  geprägt waren. Diese Transformation darf man getrost als eine neue Achsenzeit bezeichnen.

Allerdings muss man eingestehen, dass mit diesen Gesichtspunkten keineswegs alle Widersprüchlichkeiten aufgelöst werden können. Es ist sogar fraglich, ob so ein post-religionales Paradigma das einzige (künftige) Leitbild sein kann, zumal Religionen – global gesehen – durch ihre Geschichte unterschiedliche Elemente des Neolithischen, des Agrarischen, der Industrialisierung und der Verstädterung in sich bergen. Damit kann, global gesehen, keine generelle Aussage über dieses Paradigma gemacht werden. Es ist eben ein theologischer Vorschlag!

3. Synthese und Konsequenz: Sich dem unmittelbaren Übergang stellen – Facing the immediate transit

Es ist wichtig, sich auf diese Metamorphose einzustellen, deren genauere Konturen allerdings bisher schwierig zu erkennen sind. Die Autoren schauen darum auf die Beurteilungen von Anthropologen. Diese sprechen von einer „Passage“ von der paläolithischen zur neolithischen Gesellschaft, der dann. die agrarische Revolution folgt, eine ausgesprochen schwierige Veränderung. Vielleicht ist die menschliche Spezies heute in einer ähnlichen Situation. Darum gilt es, diesen Transit, diese Veränderungen, kompetent zu begleiten. So muss das Augenmerk auf neue sich entwickelnde religiöse Bewegungen gelenkt werden. Die künftige Gesellschaft wird darum weder geozentriert im bisherigen Offenbarungsverständnis (etwa von Schöpfung und Kosmos) oder religiös zentriert sein. Damit werden die alten kosmologischen Vorstellungen und (eschatologischen) Visionen hinfällig. Vielmehr gilt es, „religionale“ Religionsverständnisse  zu fördern. Das heißt konkret, dass sich Religionen neu strukturieren müssen, sich in neuem ungewohntem Rahmen interpretieren und dabei fragen, was von den bisherigen Dogmen und Glaubensvorstellungen übrig geblieben ist. Viele Menschen sind inzwischen nicht mehr bereit, sich an die (bisherigen) Religionen anzulehnen, um spirituell zu überleben. Sie riskieren Neues.

„Und wenn das Flugzeug abhebt und das Unterstützungssystem seiner Räder verlässt und sich selbst auf ein neues Hilfssystem stützt, nämlich das der Flügel, so muss sich auch der größte Teil der Menschheit den Momenten der schwierigen Balance unterziehen, wenn sie sich von einer Achsenzeit in die andere hinüber begibt. Das ist völlig anders als bisher und bis zu einem gewissen Ausmaß in keiner Weise vergleichbar und kompatibel. Dieser Wechsel geht jedoch nicht automatisch vor sich.“

Angesichts einer solchen Analyse erwarten die Autoren einen geistigen Tsunami aufgrund der unabsehbaren Risiken, die alle bisherigen Be-Gründungen von Religion  betreffen. Eine verantwortliche Theologie muss darum als Begleiterin in diesem unvermeidbaren „Transit“ auftreten, „in dem wir uns bereits befinden“. Dies hat einen theoretischen und einen praktischen Aspekt. Die so entstehenden „religionalen Religionen“ müssen von tiefer humaner Qualität geprägt sein; das gilt grundsätzlich, aber auch auf den Einzelnen bezogen. Die hier einzufordernde Aufmerksamkeit kann auch der vorliegende EATWOT-Vorschlag nur bedingt leisten. Darum laden die Autoren ein, auf diese „einfache Präsentation des post-religionalen Paradigmas“ zu reagieren.

Die Diskussion ist angestoßen und dringend, denn die Herausforderung einer Neubestimmung von Religion, Religionen, Spiritualität und Religiosität ist unausweichlich in einer Welt, deren globale Veränderung in rasanten säkularen und zugleich „religiösen“ Schritten vorangeht.

Anmerkungen

[1]    VOICES Nr. 2/2012 (January-March), vol. XXXV Nr. 2 (2012), S. 261-272 in spanischer, portugiesischer, italienischer und englischer Sprache. Der Text zum Download im Internet (abgerufen 03.11.14): http://internationaltheologicalcommission.org/VOICES/VOICES-2012-1TheologicalProposalMultilingual.pdf.

[2]    EATWOT ist die englische Abkürzung für Ecumenical Association of Third World Theologians, die „Ökumenische Vereinigung von Theologinnen und Theologen der Dritten Welt“. Sie wurde 1976 in Daressalem (Tansania)  gegründet. Zu ihr gehören Theologinnen und Theologen aus verschiedenen Konfessionen, besonders aus Afrika, Asien und Lateinamerika.

[3]    Mehr zu J.M. Vigil, dem Sekretär der Internationalen Theologischen Kommission von EATWOT: http://textmaterial.blogspot.de/2012/04/nicht-nur-lateinamerika-religioser.html

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/rk02.htm
© Reinhard Kirste, 2014