Globalisierung der Religionen


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1848: Manifest des freien Urchristenthums

Eine Erinnerung

Andreas Mertin

„Aus dem Obigen wird es Jedem klar sein, daß wir dem Prinzipe der Religionsfreiheit huldigen. Wir empfangen diese edle Freiheit nicht erst heute aus der Hand irgend einer Staatsgewalt, wir haben sie seit 15 Jahren als unser unveräußerliches Gut betrachtet, und sie, wenn auch auf Kosten unsrer irdischen Habe und Freiheit, fortwährend genossen. Aber wir behaupten nicht nur unsre religiöse Freiheit, sondern wir fordern sie für jeden Menschen, der den Boden des Vaterlandes bewohnt, wir fordern sie in völlig gleichem Maße für Alle, seien sie Christen, Juden, Muhamedaner oder was sonst. Wir halten es nicht nur für eine höchst unchristliche Sünde, die eiserne Faust der Gewalt an die Gottesverehrung irgend eines Menschen zu legen, wir glauben auch, daß der eigene Vortheil jeder Partei ein ganz gleichmäßiges Recht aller erheische. Bleibt hier eine oder mehrere im Besitze besonderer Vorrechte, so werden sie immer wieder gereizt werden, sich des ihnen gelassenen weltlichen Apparats zu bedienen, um sich selbst zu erheben und Andere zu erdrücken. Wer es aber redlich mit sich und seiner Partei meint, der fürchtet sich vor solcher Schande, vor solchem geistlichen Schaden, der wünscht kein Vorrecht, dessen Versuchungen er und die Seinen nicht gewachsen sein möchten.“

Diese kräftigen und selbstbewussten Worte stehen im 1848 erschienenen Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk, das der baptistische Predigers Julius Köbner verfasst hat. Und er hat der Öffentlichkeit und den Volkskirchen noch viel mehr zu sagen: Über die unselige Verquickung von Staat und Kirche, über die Gefahren, die lauern, wenn kirchliche Funktionsträger vom Staat bezahlt werden, über die Gewalt, die Religionen über andere Religionen bzw. die Konfessionen über andere Konfessionen ausüben, sobald sie nur der Macht teilhaftig sind. Die Zeit, in der er schreibt, ist die der Märzrevolution, es herrscht eine Atmosphäre, die Köbner enthusiastisch macht, und die ihn hoffen lässt, dass die alte Zuordnung von Staat und Kirche endlich zerbricht und die Freiheitsrechte der Menschen in Kraft treten:

Als der allmächtige Gott die Ketten deiner bürgerlichen Unterjochung zerbrach, wurde auch jene Erfindung zu Schanden, durch welche es gelungen war, deine Zunge zu fesseln. Heute freuen sich die Vertheidiger deiner Rechte, politische Wahrheit reden zu dürfen. Aber es freuen sich auch diejenigen deiner Bürger, deren Herz wärmer noch als für politische Freiheit, für Gott schlägt, daß sie christliche Wahrheit reden dürfen, nicht geknebelt durch eine Censur, die nur dem monopolisirten Kirchenthum das Wort gestattete, damit es dir ewig verborgen bleibe, daß Christenthum und Staats-Pfaffenthum ebenso verschieden sind, wie Christus und Caiphas. Deine Priester weinen über den Fall der absoluten Herrschergewalt, ihre treffliche Stütze, aber der Bekenner des freien Urchristenthums wünscht dir Glück zum Besitz edler bürgerlicher Freiheit, wenn du sie dankbar von Gott empfängst und seinem Willen gemäß benutzest.

Das ist der erste Abschnitt des Manifestes und deshalb, man ahnt es schon, wird die Schrift kurze Zeit später verboten und erst 1927, also 80 Jahre danach, neu aufgelegt. Welche Wut Köbners Freiheitsschrift bei seinen staatskirchlichen Gegnern ausgelöst hat, kann man an einigen Schriften gut ablesen. Ich zitiere ein Beispiel. Hermann Heinrich Meyer, lutherischer Pastor zu Victorbur in Ostfriesland in der Nähe von Aurich, schreibt 1859 in seinem Buch „Kirche und Sekten. Blicke in das sektirerische Wesen, sowie in das kirchliche und geistliche Leben unserer Tage, mit besonderer Rücksicht auf die kirchlichen Zustände in Ostfriesland“:

Wenn aber Jemand daraus schließen wollte, daß sie [die Baptisten] stets gute Patrioten und feste Stützen des Thrones und der bestehenden staatlichen Ordnung der Dinge wären, der lasse sich daran erinnern, was anno 1849, wo so Manches, das bis dahin in den Herzen der Menschen verborgen war, zu Tage trat, auf ihrer Versammlung zu Hamburg geschehen ist. Da ist nemlich Namens derselben ein „Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk" erlassen, das über den Sturz der alten Obrigkeiten laut jubelt, dem deutschen Volke zum Besitz seiner neuen Errungenschaften Glück wünscht, den Aufruhr selbst aber mit keinem Wort verurtheilt. Da sehen wir sie plötzlich, als ob sie sich ganz und gar selbst untreu geworden wären, zum allgemeinen Staunen auf demselben Wege mit jenen tollen demokratischen Wühlern, die vor Freude und Wonne nicht schlafen konnten, daß endlich die Zeit des wahren Paradieses gekommen sei, wo die Frucht vom Baum der Erkenntniß Gutes und Böses zu essen nicht mehr verboten war, und der Lebensbaum der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit so lieblich und mächtig grünte und wuchs, daß die Zedern auf Libanon Nichts dagegen sind. Wie ist es denn aber nun möglich, daß dieselben, die sich für die wahre Gemeinde der Heiligen halten, und sonst mit den Weltkindern Nichts zu schaffen haben wollen, plötzlich so demokratisch benebelt sind, daß man seinen eigenen Augen nicht traut? Ist das etwa die bittere Frucht eines unbewachten Augenblicks? Mit nichten. Der revolutionäre Schwindelgeist, der nur Freiheit predigt, um selbst freie Hand zu bekommen, der nur stille steht, wenn ein Stärkerer über ihn kommt, und sich nicht eher beruhigt, als bis er Alles platt gemacht und sich selbst auf den Thron gesetzt hat, steckt ihnen tief im Herzen und documentirt ihren Abfall von Gottes klarem Worte. Daher passen die Baptisten auch besser ins Land, das hinter dem Weltmeer liegt, wo es von Sekten aller Art wimmelt und die Menschen von Freiheit und Dollars leben, als in ein Europäisches Land, wo die kirchlichen und staatlichen Dinge von einer göttlichen und darum festen Ordnung getragen werden.“ (Seite 273)

Auch das ist eine kräftige Sprache, nur dass sie im Interesse der bestehenden Ordnung und der sie stützenden Religion eingesetzt wird. Jenen „tollen demokratischen Wühlern“ war zunächst leider kein Erfolg beschieden, „der Lebensbaum der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ kam in Deutschland erst sehr viel später zum Blühen. Aber „demokratisch benebelt“ war Köbner mit seinem Manifest sicher nicht, ganz im Gegenteil, er ist von außerordentlicher Klarsicht.

Köbners Manifest ist auch heute noch bedenkenswert und in zweierlei Hinsicht interessant: Zum einen berufen sich die Kirchen zurzeit positiv auf den Beitrag, den sie zur Religionsfreiheit geleistet hätten. Anders als in den vom Islam dominierten Ländern, so sagen sie, wäre in den vom Christentum beeinflussten Ländern die Religionsfreiheit garantiert. Köbner erinnert mit seinem Manifest daran, wie es wirklich war:

Jede herrschende Kirche ist eine verfolgende, inquisitorische, mag sie römisch oder protestantisch sein; das haben nicht nur die Zeiten der Ketzerverbrennungen, nicht nur die Zeiten der Reformation, das haben auch unsere Tage dargethan. Protestanten sind nicht nur von der katholischen Kirche in Baiern unterdrückt worden, Lutheraner sind von der unirten Kirche in Preußen noch viel schrecklicher verfolgt und so lange mit Gefängnißstrafe, Raub des Eigenthums etc. etc. gehetzt worden, bis sie zu Tausenden den heimathlichen Boden verlassen und sich jenseits des Meeres eine Zufluchtsstätte suchen mußten. Ebenso ächt staatskirchlich betrug sich die reformirte Kirche Hollands gegen die dortigen sehr zahlreichen Altreformirten, welche ihre Unabhängigkeit behaupten wollten.

Dem wird man kaum widersprechen können und es ist eine Mahnung, immer wieder danach zu fragen, inwieweit die jeweils herrschende Religion oder Konfession anderen Religionen oder Konfessionen die Luft zum Atmen nimmt.

Zum anderen skizziert Köbner in seinem Manifest eine Formel, die heute allen Religionen und allen Religiösen weltweit zur Unterschrift vorgelegt werden könnte (und sollte):

Wir behaupten nicht nur unsere religiöse Freiheit, sondern wir fordern sie für jeden Menschen, ... wir fordern sie in völlig gleichem Maße für Alle, seien sie Christen, Juden, Muslime oder was sonst.

Dieses Bekenntnis zur Religionsfreiheit (auch der Nicht-Gläubigen) muss eine Grundformel jedes religiösen Menschen, jeder Religion und jedes Staatswesens dieser Erde werden. Und das, um es klar zu sagen, scheitert nicht erst an irgendwelchen fanatischen islamistischen Gläubigen, es scheitert dort, wo ein Land den Bau von Minaretten untersagt oder wo Christen einen Exklusivitätsanspruch erheben, der sich über allen anderen Institutionen und Religionen erhebt.

Im Rahmen der Globalisierung der Religionen bedürfte es heute eines religiösen Manifestes, das vermutlich viel weitergehender und vor allem verpflichtender sein müsste, als der (zudem ja auch polemisch gehaltene) Entwurf von Julius Köbner.

Die Prinzipien jedoch, die er zum Abschluss aufstellt: das überzeugende Wort - die reine, gesunde Vernunft – die Redlichkeit, wären vermutlich / hoffentlich heute konsensuelle Prinzipien.

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Beim WDL-Verlag gibt es nicht nur eine PDF-Version des Manifests (PDF) mit Kommentar, sondern auch eine kostengünstige Printversion: Wehrstedt, Markus; Wittchow, Bernd (Hg.) (2006): Julius Johannes Wilhelm Köbner, Manifest des freien Urchristenthums an das deutsche Volk. [(1848)]. 1. Aufl. Berlin: WDL-Verl.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/92/am484.htm
© Andreas Mertin, 2014