Reformation statt Reförmchen

Eine Streitschrift zur Lage der Ev. Kirche in Deutschland

Harald Schroeter-Wittke

Siegfried Eckert: 2017. Zweitausendsiebzehn. Reformation statt Re­förmchen, Gütersloher Verlagshaus 2014. gebunden 272 S. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-08515-9.

Kirchenleitung ist nach Schleiermacher ein höchst komplexes Geschehen, für dessen Reflexion er eine neue Wissenschaftsdisziplin installierte, die Praktische Theologie. Kirchenleitung geschieht nämlich nicht nur durch das, was bei uns heutzutage Kirchenleitung heißt und in Landeskirchenämtern sitzt und leitet, sondern Kirchenleitung geschieht auch durch freie Schriftsteller und solche Leute, die sich mit Bedacht zur Lage der Kirche in der Gegenwart äußern. Siegfried Eckerts Streitschrift ist ein solcher Beitrag zur Kirchenleitung, der längst überfällig war, weil er denen, die zur Zeit die faktische Macht der Leitung in der Kirche haben oder diese an sich ziehen wollen, einen kritischen Spiegel vorhält.

Warum aber soll eine solche Streitschrift im Magazin für Theologie und Ästhetik besprochen werden? Weil Eckert seine politische Kritik ästhetisch grundiert. 2006 hatte die EKD eine Programmschrift vom Stapel gelassen mit der schönen Überschrift "Kirche der Freiheit". Eckert untersucht die Grammatik dieser Programmatik. Er nimmt diese Programmschrift beim Wort und zeigt, dass und warum sie Kommunikationszerstörung betreibt.

Kommunikationszerstörung ist kein von Eckert gebrauchter Begriff. Vielmehr lautete so die erste Publikation des erst 24jährigen Henning Luther in der Zeitschrift Theologia Practica aus dem Jahre 1971. Weil Eckert sich am Ende seiner Streitschrift positiv auf den späten Henning Luther bezieht mit dessen Bändchen "Frech achtet die Liebe das Kleine" (1991), will ich an den frühen Luther erinnern und einige Passagen aus seinem Text „Kommunikationszerstörung. Zum praktisch-theologischen Aspekt eines polit-ästhetischen Problems“ (ThPr 6/1971, 297-315) zitieren (vgl. dazu auch Kristian Fechtner / Christian Mulia [Hg], Henning Luther. Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Stuttgart 2014), bevor ich mich der Eckertschen Streitschrift zuwende.

Luther weist kirchengeschichtlich darauf hin, dass "sich der Kampf um das gerechte soziale Leben auch und gerade als Kampf um die Interpretation der tradierten christlich-religiösen Kommunikationssymbole gestaltete. Immer wenn bestehende gesellschaftliche Formen verunstalteten Lebens durch die tradierten kommunikativen Symbole legitimiert werden sollten, entwickelt sich ein Prozeß, in dessen Verlauf der unerfüllte Anspruch jener Symbole entschieden gegenüber ihrer einseitigen Vereinnahmung durch die Mächtigen reklamiert wurde. Hinter der vermeintlich rein theologischen Auseinandersetzung zwischen orthodoxer Kirche und Ketzern, zwischen orthodoxen Reformatoren und Schwärmern, zwischen spanischem Katholizismus und niederländischem Calvinismus verbirgt sich der Kampf um die Aufrechterhaltung der Kommunikation, d.h. der Interpretation dessen, was die Symbole zur Sprache bringen: Erlösung, Heil, Gerechtigkeit. Der drohenden Unterdrückung des Kommunikationsprozesses, durch die die Herrschenden die von ihnen bestimmte Gestalt des Lebens als Interpretation der tradierten Symbole einseitig allgemein machen, setzen die Unterdrückten ihre Interpretation entgegen, die mit dem dialektischen Charakter der tradierten Symbole ernst macht und auf der noch ausstehenden allgemeinen Einlösung dieser Symbole beharrt. Indem also unterdrückte Gruppen gerade aufgrund der Allgemeingültigkeit der tradierten Symbole beanspruchten, daß folgerichtig auch die interpretative Verständigung über dieselben eine allgemeine und nicht gewaltmäßig erzwungene sein müsse, kam Kommunikation durch die Abwehr ihrer Entstellung immer wieder in Gang. Allerdings war die Geschichte der Unterdrückung von Kommunikation kontinuierlicher als die ihrer Aufrechterhaltung." (304)

Ich lese Eckerts Streitschrift als einen Versuch, der gegenwärtigen Unterdrückung, die durch den in großen Teilen als gewaltmäßig erzwungenen – in heutigem Deutsch heißt das: alternativlosen – Reformprozess innerhalb der EKD an der Basis allenthalben empfunden wird, Sprache zu verleihen unter Rückgriff auf theologische Traditionen, die als utopische noch nicht eingelöst sind. Eckerts Streitschrift erweist sich damit als ein Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kommunikation angesichts kirchenreformerischer Zukunftsplanspiele.

Schon Henning Luther hatte die Kirchenreformbemühungen seiner Zeit scharf kritisiert: "Die verblüffend offenen Konzepte einer technokratischen Kirchenreform verstehen Kirche analog zu anderen gesellschaftlichen Systemen der Konflikt- und Krisenvermeidung und Loyalitätssicherung als Dienstleistungsbetrieb für emotionale Zuwendung. Die religiös determinierten Symbole dienen hier nicht mehr der intersubjektiven Verständigung, auch nicht einer reduziert theologischen, sondern dazu, präverbal durch die Stimulation von Affekten nichts anderes als äußere psychische Stabilität herzustellen. [...] Nicht der spezielle Inhalt der kommunikativen Symbole ist relevant, sondern ausschließlich welche Affekte in welchem Ausmaß durch eine bestimmte religiöse Kommunikation produziert werden." (305)

Gegenüber den Missständen seiner Zeit sieht Henning Luther allein in der Verbindung von Ästhetik und Politik als Politästhetik die Möglichkeit, kirchenreformerische Prozesse zu kommunizieren. So analysiert er die Sprache kirchlicher Verlautbarungen und nennt eine doppelte Kommunikationszerstörung beim Namen: Als herrschendes Grundmodell von Kommunikation macht er das autoritär-rezeptive Modell aus, bei dem "der Kommunikationsinhalt vor jedem konkreten Kommunikationsprozeß bereits festgelegt ist" (310). Als zweite Form der Kommunikationszerstörung benennt er die verbalistisch reduzierte Kommunikation, der zudem auch noch eine starke milieusoziologische Engführung eigen ist.

Über 40 Jahre nach Luthers Diagnose der Kommunikationszerstörung diagnostiziert Eckert anhand der EKD-Programmschrift "Kirche der Freiheit" ähnliches, wenn auch mit feuilletonistischen Mitteln. Diese sind insofern sachgemäß, als Eckert die Popkulturalisierung der Lebenswelt mitvollzogen hat, zu der es dazu gehört, Inhalte unterhaltend vorzutragen. Dies gelingt ihm in hervorragender Weise.

Vorweg: Sein Buch hat mir Spaß gemacht zu lesen! Es ist mit Verve geschrieben, mit Leidenschaft, aber auch mit Zorn, mit Mut und Unmut, mit Liebe und Frechheit. Der Popanz einer bei vielen Depressionen oder Burn-Out auslösenden Gesamtlage unserer Kirche wird in Frage gestellt, bisweilen lächerlich gemacht, so dass ich häufiger ins Schmunzeln und Lachen geraten bin – ein erster Schritt, um von dem Gefühl los zu kommen, von dem gefühlten Monster der Kirchenreform gänzlich gefressen zu werden. Nur so lässt sich den Herausforderungen Paroli bieten und werden die wahrlich nicht geringen Aufgaben, die auf uns zukommen, gestaltbar.

Mithilfe von eingestreuten Thesen aus Luthers 95 Thesen gegen den Ablasshandel von 1517 macht Eckert in seiner sprachlichen Analyse der Programmschrift deutlich,

  • wie stark die Ökonomisierung als bestimmende Denkkategorie und –haltung in unserer Kirche Einzug gehalten hat,
  • wie dadurch böse Unterstellungen und Misstrauen untereinander wachsen und wachsen,
  • wie sich durch den Druck, der auf allen Ebenen durch das Konkurrenzdenken erzeugt wird, eine schleichende Lähmung allerorten breit macht,
  • wie alle Lebensäußerungen (und damit auch Kultur und Kunst) zu Beiwerken dieses ökonomischen Denkens in der Ev. Kirche werden.

Demgegenüber behauptet Eckert, dass die EKD den Ernst der Lage noch gar nicht erkannt habe: "Nicht die äußeren Faktoren sind existenzgefährdend, der innere Zustand der Kirche stellt die viel größere Gefahr dar." (26) Diese Gefahr führt Eckert den Leserinnen und Lesern in den ersten beiden Kapiteln vor: "Die getriebene Kirche" – "Die ausbrennende Kirche", um dann in zwei Kapiteln seine Vision zur Diskussion zu stellen: "Die Kirche ohne Spielführer" – Die reformationsbedürftige Kirche".

Und das Beste bzw. Schlimmste zum Schluss: Bislang ist noch überhaupt kein Nachweis darüber erbracht, dass die bislang vorgenommen Reformumstellungen der letzten 10 Jahre irgendetwas eingespart hätten. Stattdessen hat z.B. die Umstellung des Finanzsystems enorme Beträge verschlungen, ohne dass Einsparungen in Sicht wären, von den Beratungskosten, die sich die Kirche gegönnt hat, einmal ganz zu schweigen.

Bei vielen, die führend an diesen Kirchenreformplänen der letzten 20 Jahre mitgewirkt haben, wird Eckert sich unbeliebt machen. Aber das gehört dazu, wenn man kirchenleitend tätig ist. Es wäre dem Buch zu wünschen, dass die Kirche hier als Imperium nicht zurückschlägt, sondern als Leib Christi ein offenes Ohr hat für die Sichtweisen, die Schmerzen, die Einsichten, die Abbrüche, die Widersprüche, die Bedenken, die Utopien, die in diesem Buch Sprache gefunden haben.

Ein Letztes: Das Buch wird auch viele Trittbrettfahrer haben, die am liebsten alles so hätten, wie es immer schon war. Aber eine solche Vereinnahmung dieses Buches kann nur auf unzureichende Lektüre zurückgeführt werden. Denn Eckert geht es um Reformation, nicht um Sandkastenspiele, nicht darum, noch einmal glimpflich davon zu kommen, sondern um die Wahrheit des Evangeliums gepaart mit Gottvertrauen in unruhigen Zeiten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/91/hsw17.htm
© Harald Schroeter-Wittke, 2014