Resonanzen & Kompetenzen


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Auch der Schlager ist besetzt

Notizen zu einem prekären Verhältnis

Andreas Mertin

Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin,
weder von der Macht der anderen,
noch von der eigenen Ohnmacht
sich dumm machen zu lassen.
[Theodor W. Adorno]

0 – Prolog

Nach einer Buchvorlage von Stephen King inszenierte Regisseur Frank Darabont einen für sieben "Oscars" nominierten, knallharten Knastthriller, dessen Hauptthema die Hoffnung wieder alle Vernunft ist. Du hast keine Chance, deshalb nutze sie könnte auch über diesem Film stehen. Die unterschiedlichen Perspektiven auf Hoffnung und ihren Zusammenhang mit dem Menschsein beschreibt Jan Hawemann in seiner Internet-Film-Kritik so: „Am Anfang dieses Filmes gibt es für uns Zuschauer wohl nichts hoffnungsloseres als das Schicksal von Andrew Dufresne – unschuldig mit einem Strafmaß von zweimal lebenslänglich in das Shawshank-Gefängnis eingeliefert zu werden, in dem gleich am ersten Tag jemand tot geprügelt wird, und das unter dem Regime eines glaubensfanatischen Direktors steht. Die Hoffnung der Verurteilten auf bessere Zeiten, auf ein besseres Leben, auf die Entlassung lässt mit den Jahren der menschenunwürdigen Behandlung nach, da die Hoffnung untrennbar mit dem Menschsein verbunden ist. Andy will jedoch diesen Kreis durchbrechen. Er will sich, sein Menschsein und seine Hoffnung nicht nehmen lassen, und gibt durch das, was er mit seinen mutigen Ausbrüchen in einer Welt voller Mauern erreicht, auch anderen Häftlingen die Hoffnung zurück. Und der grandiose Schluss, den uns Stephen King als Autor der Filmvorlage beschert, entlässt uns trotz aller Enge, Dunkelheit und Brutalität mit dem guten Gefühl, vielleicht auch noch den nächsten Tag gut zu überstehen.“ Die Verbindung von Kultur, Freiheit und Hoffnung greift eine Szene auf, in der Andrew Dufresne für die Bibliothek, die er im Knast aufbauen möchte, Schallplatten geschenkt bekommt und für seine Mithäftlinge gegen die Interventionen der Wärter und Gefängnisleitung Mozarts „Hochzeit des Figaro“ spielt. Nach seiner Entlassung aus dem Straf-Block kommt es zu einer Diskussion mit seinen Freunden darüber, was Musik, was Kultur überhaupt für das menschliche Überleben und für das Menschsein bedeutet.

Diese Szene benennt sehr gut das Dilemma, das auf der Tagung „Schlager und Kirche“ leider nicht thematisch wurde, aber thematisch hätte werden müssen. Welche Werte orientieren uns? Was gibt uns Hoffnung? Was ist der Sinn von Kultur? Andrew Dufresne artikuliert sinnfällig die Differenz zwischen dem, was unser Leben begleitet und dem was unser Leben orientiert. Diese Problemstellung lässt sich auch auf die Frage nach dem Schlager übertragen. 

1 – Fremde Heimat Schlager?

Schlager – sieht man einmal von den populären kirchlichen Gassenhauern ab – kommen im Alltag einer Gemeinde nicht vor. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen mag es daran liegen, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer und die Kirchenmusiker in aller Regel nicht zum traditionellen Milieu derer gehören, die Schlager hören. Das ist eine kulturelle Schranke, die sich auch nicht dadurch beseitigen lässt, dass man nun explizit Schlager als Thema in der Gemeinde aufgreift, denn auch dann wendet man sich ja nur den Schlagerkonsumenten zu, entkommt der Bevormundungsstruktur also nicht. Eher selten dürfte der Fall eintreten, dass kirchliches Publikum von sich aus den Schlager im Gemeindeleben fordert (außer bei Kasualien wie der gewünschten Traumhochzeit und der emotional bewegenden Beerdigung, die, wie ich inzwischen gelernt habe, in die Kategorie des Wunschkonzerts aufgestiegen sind).

Die zweite Schranke ist die inhaltliche Ausrichtung der Schlager der Gegenwart. Sie sind in aller Regel von einer ideologischen Struktur, die zentralen Elementen biblischer Verkündigung zuwiderlaufen, sei es dass das Schicksal als das Menschleben leitende Element begriffen wird, sei es, dass Sonne, Mond und Sterne als Leitmedien vorgestellt werden, sei es, dass die Flucht aus dem Alltag in die Träume als bewährte Problemlösungsstrategie gegen alle Veränderungsideen gestellt wird. Hier die Spreu vom Weizen zu trennen ist eine immense Herausforderung. Dabei hilft der Rekurs auf den Schlager vor 1945 wenig, er zeigt allenfalls, was Schlager hätte leisten können, wenn er etwa wie der amerikanische Folk offen und vielfältig geblieben wäre. Insgesamt kann man die ideologische Struktur des deutschen Schlagers nach 1945 mit guten Gründen als Form des Eskapismus bezeichnen.

Die dritte Schranke ist die musikalische Grundstruktur, die über simple Tonfolgen und vor allem eine eintönige Rhythmisierung nicht hinauskommt und hinter der Ausdifferenzierung des kirchenmusikalischen Angebots weit zurücksteht. Man müsste also bewusst Differenziertes gegen Entdifferenzierendes eintauschen, wollte man auf Schlager „setzen“. Das spricht freilich nicht dagegen, ihn zu thematisieren.

Das zentrale Argument für den Schlager scheint daher vor allem die Tatsache, dass es ein benennbares Milieu gibt, welches den Schlager hört. Dieses Milieu lässt sich gut beschreiben als das traditionelle Milieu. Erhebungen über dieses Milieu liegen im Blick auf den Schlager kaum vor, so dass man zu Spekulationen gezwungen ist. Aus der Tatsache, dass es Menschen mit bestimmten Interessen in der Gemeinde gibt, kann ja noch nicht geschlossen werden, dass diese ihre musikalischen Interessen in der Gemeinde auch gespiegelt sehen wollen. Es gibt zudem auch die zynischen Schlagerhörer, die im Schlager eine willkommene Art der temporären Regression sehen, die mal die Schlager-Sau rauslassen wollen, weil es so schön ist, mal alle Reflexionen hinter sich zu lassen. Das geht mit Alkohol, aber auch mit Schlager. Eine Frage wäre also die nach den im Gemeindeleben artikulierten Bedürfnissen. Eine weitere Frage wäre die nach Liedern, die man mitsingen kann, und was sie inhaltlich vertreten.

2 – Die notwendig scheiternde Beheimatung der Kirche im Schlager

Die Kirche ist nicht im Schlager beheimatet. Und das ist auch gut so. Man mag es meinetwegen für elitär halten, aber nach 15 Minuten Schlagerkonsum sträubt sich alles in einem und man sagt: das ist es nicht, wofür Jesus Christus am Kreuz gestorben ist, das ist es nicht, was wir unter der Rechtfertigung verstehen, das ist es nicht, was wir unter den ersten und den letzten Dingen verstehen. Es ist ja nicht so, als ob der Schlager nicht religiöse Motive oder Sätze aufnehmen würde, aber er kastriert sie (mir fällt kein anderes Wort dazu ein), so dass sie von den Zuhörenden nicht mehr fruchtbar gemacht werden können. Mit anderen Worten: Schlager ist bestenfalls schlechte Theologie. Und da scheint es mir unzureichend zu sein zu sagen, er schadet aber nicht. (Er will doch nur spielen.) Oder: er ist die Rebellion der Konservativen gegen die reflexiv gewordenen modernen Lebensverhältnisse. Das ist zu wenig.

Ich kann angesichts bestimmter Lieder der Pop- und Rockmusik, über die ich gearbeitet und geschrieben habe, dezidiert sagen, warum sie religionsproduktiv und theologisch interessant sind.

  • Metallica bringt in „Until it sleeps“ das Ringen Jesu in Gethsemane mit dem Ringen eines unheilbar an Krebs Erkrankten in Verbindung und zeigt auf der Textebene, dass der existentielle Schrei des Leidenden seinen Ausdruck, nicht aber unbedingt eine befriedende Antwort braucht. Und die visuelle Inszenierung des Stückes zeigt, dass es zumindest eine historische Narratio gibt – die zentrale Erzählung des Christentums – nach der ein bestimmtes Leiden einen Sinn hatte. Und Metallica verknüpft beides so, dass nicht das Leiden Christi zur Befriedung des Leidens eines heutigen Menschen missbraucht werden kann.
  • Madonna greift Matthäus 25 auf und zeigt in „Like a prayer“, dass die Logik von Erlöser und Erlösung nicht ans Geschlecht oder die Rasse gebunden ist, dass Nachfolge heißen kann, ganz simpel seinem humanitären Impuls zu folgen, dass dieser Einsatz aber eben oft eines Impulses von außen bedarf – der Intervention des Heiligen wie sie sagt. Der Befreiungstheologe Mark D. Hulsether hält den Clip zu „Like a prayer“ für einen der wirkungsmächtigsten Beiträge zur Befreiungstheologie, die er je in den Massenmedien der USA gesehen habe.
  • R.E.M. zeigen in „Losing my religion“, wie der Verlust aller konventionellen Orientierung dennoch nicht den Verlust der Identität bedeuten muss, sondern einen neuen Weg eröffnet, der zur Identitätsbildung führt. Und sie zeigen dies u.a. am Beispiel des Ungläubigen Thomas und mit der Bilderwelt von Caravaggio.

Man könnte noch weitere Beispiele aus der populären Musik nennen, die in nuce theologische Kerngedanken enthalten, ohne als Illustrationen des Religiösen entworfen worden zu sein.

Schlager, so habe ich es wahrgenommen, greifen dagegen durchaus religiöse Motive auf, allerdings nur, um sie dann unendlich zu trivialisieren. Glaube, Liebe, Hoffnung von Mara Kayser hat mit der paulinischen Botschaft nur noch wenig zu tun. Helene Fischer mag eine revolutionäre Erneuerung der Schlagerbranche sein, aber es tut mir leid, ich kann sie so oft hören wie ich will, ich sehe und höre keine Schnittstelle zur Botschaft des gekreuzigten Gottes. Und bitte ersparen Sie mir die Trivialität, man brauche bei ihren Liebesliedern doch nur an Jesus oder Gott zu denken. Das ist eine Beleidigung meiner Intelligenz.

Schlagersänger betreiben diese gefühlige Elementarisierung, wenn ich ihren Produzenten glauben darf, weil die Konsumenten das wollen und weil das erfolgreich ist. Das trifft freilich auch für die Schwarz-Weiß-Logik der Gnosis in der Frühzeit des Christentums zu. Es mag verführerisch sein, sich an der Warenlogik der Welt zu orientieren, aber ich sehe nicht, dass uns das theologisch weiterbringt. Und so ganz glaube ich ihnen auch nicht. Es gibt ein Interesse daran, dass die Menschen sich nicht über ihre Verhältnisse erheben, dass sie der wiederholte Bruch des Vertrauens durch den Partner nicht zur grundsätzlichen Frage nach dem Geschlechterverhältnis führt, dass der Schlager Opium für das Volk bleibt und nicht nur Opium des Volkes ist, um diese marxistische Differenzierung aufzugreifen.

Alles hat seine Zeit, popkulturell durchaus kongenial umgesetzt von Pete Seeger in Turn, turn, turn, ist schlagermäßig eben nicht mit Champagner oder Tee umgesetzt. Die biblische Gestaltung der Krise der Weisheit ist keine Trivial-, sondern Weltliteratur. Und sie passt so gar nicht zur schlagermäßig aufgepeppten Wellnesstheologie des 21. Jahrhunderts. Töten hat seine Zeit, Krieg führen hat seine Zeit, Sterben hat seine Zeit – da schluckt der Schlagerfreund und belässt es doch lieber bei der Auswahl der Getränke: Champagner oder Tee. Nein, das Buch Kohelet ist keine Veranstaltung des „Welches Schweinderl hätten sie denn gerne?“, es konstatiert, es gibt: Zeit zu gebären und Zeit zu sterben, … Zeit zu töten und Zeit zu heilen … Zeit für den Krieg und Zeit für den Frieden. Das hört man heute nicht gerne, wo wir alle ein bisschen Frieden wollen, aber es steht nun einmal da im Buch Kohelet. Und weil es da steht, müssen wir uns daran abarbeiten. Vieles in der Bibel gefällt mir nicht, aber es bildet den unhintergehbaren Horizont, vor dem ich meine theologischen Gedanken akzentuieren und verantworten muss.

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Intermezzo: Eine Verbeugung vor Pete Seeger (1919-2014),
Auftritt New York City 2012

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Zurück zum Schlager. Nein, die Kirche ist nicht im Schlager beheimatet und sie ist meines Erachtens auch nicht im Schlager zu beheimaten. Und auch das ist gut so. Sonst müsste sie sich winden und drehen, sie müsste Lug für Gott vorbringen, seine Botschaft ins Gegenteil verkehren, nur damit sie die Menschen nicht verstört. Die biblische Botschaft ist aber eine verstörende Botschaft, eine zutiefst verstörende Botschaft, bei der jede Faser unseres Körpers schreit: Nein, das will ich nicht. Wer den Skandal der biblischen Botschaft nicht geradezu physisch verspürt, wer ihn nivellieren will, macht das, was Hiob seinen Freunden vorhält: Wollt ihr für Gott Verkehrtes reden und zu Gottes Gunsten Trug vorbringen?

Und nein, der Schlager ist nach meiner Empfindung auch nicht jener Musikbereich, der uns im Gegenüber zum Exodus die Beheimatung lehrt. Für mich ist der Schlager untrennbar mit dem sehnsüchtigen Wunsch zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens verknüpft (2. Mose 16, 3). In der Frage der Beheimatung folge ich doch lieber Ernst Blochs Gedanken aus dem Prinzip Hoffnung:

"Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."

Heimat im Schlagerkontext aber heißt Einverständnis / Konfirmation mit dem Bestehenden (und nicht Konfirmation auf Gott), es ist tatsächlich die Rebellion der Konservativen, die das Vergangene (die Fleischtöpfe) für besser halten als die Gegenwart (die Wüstenwanderung) und das zu Erwartende (das gelobte Land).

3 – Kein bisschen Frieden – Zeit für den Streit?

Deshalb, so habe ich lange Zeit gedacht, kein bisschen Frieden, sondern Zeit für den Streit um die Kultur, um das Bewahrens- und Erhaltenswerte. Sorge tragen um das, was wir der nächsten und übernächsten Generation weitergeben wollen. Festhalten an der Narratio von Exodus und Wüstenwanderung und Gelobtem Land. Daran halte ich auch weiter fest, bin mir nur nicht mehr sicher, ob dies auch noch Ziel meiner Kirche ist. 2008 habe ich in der Zeitschrift Musik und Kirche unter der Überschrift „Glanz oder gar nicht – Kunst und Kultur heute“ (Musik und Kirche 06/2008, S. 378-385) Folgendes geschrieben:

„Es gehört jedoch meines Erachtens zu den grundsätzlichen Aufgaben eines aufgeklärten Individuums, für das, was Kultur sein soll, Sorge zu tragen. Es geht darum, was im Blick auf die kommenden Generationen kulturell vermittelt werden soll. Es geht um die Frage, ob das, was seit Platon zur kulturellen Überlieferung gehört, dass nämlich jede Generation der nächsten vermittelt, was von dem auf sie Gekommenen noch tradierbar ist, heute noch eine wahrgenommene  Sorge ist.

Kulturelle Bildung hieße dabei gerade nicht, Einübung in die Kultur im Sinne einer affirmativen Übernahme. Wenn es eine Lehre aus den ästhetischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gibt, dann lautet sie: was wir vermitteln müssen, ist nicht Einverständnis, nicht Nützlichkeit, sondern Differenz oder auch Dissidenz im Sinne der Genese dieses Begriffs im 16. Jahrhundert, als er jene charakterisierte, die nicht der Staatsreligion angehörten. Wenn die staatstragende Kultur, wenn die Kirchen und Verbände zu solchen Rahmensetzungen nicht mehr bereit ist, weil sie sich mit der medialen Grundversorgung begnügen, dann müssen wir ... eben Parallelkulturen im Sinne eines kulturellen Pluralismus schaffen.

Was heißt das? Meines Erachtens kann man heute nicht mehr darauf vertrauen, dass sich Institutionen wie die Kirche ... für die Kunst ... einsetzen. Stattdessen unterliegt auch die kulturelle Landschaft einer Individualisierung, die es erzwingt, dass der einzelne Kulturinteressierte die Tradierung der Kultur zu seiner Sache macht, d.h. für sie Sorge trägt. Wenn auch in den Kirchen inzwischen die Mediatisierung nahezu vollständig abgeschlossen ist, dann gilt es durch überzeugende individuelle Initiativen Gegenkulturen zu schaffen, von denen man nur hoffen kann, dass sie die Situation nachhaltig beeinflussen. ...

Künftig geht es nicht mehr um den Appell an die Institutionen, sich um die Kultur zu kümmern. Diese Institutionen werden gesellschaftlich weiterhin an Bedeutung verlieren. Statt dessen gehört es zu den Pflichten des einzelnen Individuums, das sich für die kulturelle Tradition interessiert, in der Verbindung mit anderen Individuen für die Kultur Sorge zu tragen, sie zur eigenen Kultur zu machen – jenseits aller nationalen, religiösen oder gesellschaftlichen Grenzziehungen. Ob das gelingen kann, kann nicht vorhergesehen werden. Ich würde aber auch nicht sagen, dass es ein aussichtsloses Projekt ist. Deutlich ist es aber, dass es nicht mehr reicht, die Gesellschaft, die Kirche, allgemeiner: die Institutionen in die Pflicht zu nehmen. Dafür ist die Entwicklung der Funktionalisierung schon zu weit voran geschritten. Insbesondere in den Kirchen unterliegt die Kultur in den letzten Jahren einer dramatischen Instrumentalisierung. Die Eigenbedeutung der Künste wird hier weder wahrgenommen noch geachtet. Zeichen setzen kann und muss man, indem man es anders macht, indem man wieder in punktuellen Durchbrechungen etwas von dem aufscheinen lässt, was die Kunst in unserer Kultur sein könnte: realer Ort der Freiheit zu sein.“

Heute, sechs Jahre später, bin ich mir nicht sicher, ob man es nicht hätte schärfer formulieren müssen, ja ob man nicht davon ausgehen muss, dass die Kirche gar nicht mehr für die avancierte Kultur eintreten will. Wer durch Europa fährt, trifft allenthalben auf die herausragenden Kulturleistungen des Christentums aus den letzten 1500 Jahren. Ob man in Florenz bei Giotto oder Masaccio den Aufbruch zur Entdeckung des Menschen studiert oder in Brügge und Gent bei van Eyck die realistische Darstellung des Menschen in der Natur, ob man in Venedig bei Tizian und Tintoretto die Farbe, das Licht und die Bewegung studiert oder in München bei Dürer die Selbst-Bewusstwerdung des Menschen im Sinne der Christusidentifikation – all das ist ohne das Christentum kaum denkbar. Ich wüsste nicht, auf was ich verweisen sollte, wenn ich das Christentum meiner konfessionellen Prägung der letzten 20 Jahre in den Blick nehme. Ja, es hat in der Kulturdenkschrift die Schlagersängerin Michelle gewürdigt und sich für die Vertreibung des Kunstwerks von Georg Baselitz entschuldigt. Aber wenn man die kulturellen Aktivitäten der Kirche in der jüngsten Zeit vergegenwärtigt, dann bleibt nicht viel.

Heute ist ihr allein schon der kulturelle Anspruch verdächtig. In einem Papier meiner Landeskirche heißt es:

„Die Vorliebe für Musik einer besonderen Stilrichtung und Gattung ist stark vom jeweiligen kulturellen Milieu abhängig. Deshalb darf es bei der Frage bestimmter Musikwünsche keine musikalisch-theologische Bevormundung durch das Kulturmilieu der Funktionsträger geben."

Sicher darf es das nicht – aber gibt es das überhaupt? Ich kenne keinen Pfarrer, der seine musikalischen Vorlieben gegen die Intention seiner Gemeindeglieder durchsetzt. Die Pfarrer, die ich kenne, sind mit mir aufgewachsen, sie lieben Rock’n’Roll, Deutsch-Rock, Hip-Hop, Rap, Heavy Metall, Folk, Jazz, Klassik verschiedener Epochen, aber mir ist im Gottesdienst oder bei Kasualien nicht ersichtlich, dass sie dies „theologisch-bevormundend“ durchgesetzt hätten. Ich persönlich liebe popkulturell Madonna, Metallica oder R.E.M. und bin überhaupt nicht traurig darüber, dass in Gottesdienst und Predigt derlei keine Berücksichtigung findet (erwarte es auch nicht) und protestiere nur schwach, wenn wiedermal in Unkenntnis der Sachverhalte, Madonna durch eine Bischöfin der Blasphemie bezichtigt wird. Was soll aber die rhetorische Figur, Pfarrer würden ihre musikalischen Vorlieben theologisch-bevormundend durchsetzen? Es dient der Vorbereitung des Arguments, andere, die ihre Musikwünsche durchsetzen wollen, hätten ein Recht dazu – schließlich täten die Pfarrer das ja auch. Es wird ein Zerrbild entworfen, um nun im Ton der moralischen Entrüstung „gleiches Recht für alle“ zu fordern. Wenn Pfarrer darauf bestehen, dass kirchliche Kasualien in den religiös bedingten kulturellen Ausdrucksformen ihrer Kirche durchgeführt werden, verteidigen sie doch nicht ihr Kulturmilieu! Sie verweisen darauf, dass sie sich selbst – vielleicht sogar gegen alle ihre subjektiven kulturellen Vorlieben -, in eine Tradition begeben, die für die rites de passage in der Kirche mit vielen Variationen erprobt und bewährt wurde, und die nun zur Anwendung kommt.

Man fragt mich auf der Tagung zum Schlager: „Gibt es einen für alle Milieus und Kulturen gültigen objektiven Maßstab für gute oder schlechte Musik zum Lobe Gottes?“, wohl wissend, dass noch nie jemand in der evangelischen Kirche nach 1945 derartiges behauptet hat, um im nächsten Schritt die Frage nach der Qualität für obsolet und alles für rechtens erklären zu können. In meinen Alpträumen frage ich mich, ob man so nicht auch die Theologie der Deutschen Christen hätte rechtfertigen können - milieuspezifische Anpassung theologischer Verkündigung an „unser Volk und seinen Führer“. Dass es keinen benennbaren objektiven Maßstab gibt, ist doch kein Grund dafür, die zugrunde gelegten Maßstäbe nicht zu benennen und nach ihrer Relation zur christlichen Botschaft und auch zu den allgemeinen kulturellen Standards zu fragen.

Dabei geht es nicht um gut oder schlecht. Es geht um die Frage, ob etwas evangeliumsgemäß ist oder nicht. Und meines Erachtens ist es dabei die Aufgabe der Apologeten der Trivialkultur, aufzuzeigen, inwiefern diese mit der christlichen Verkündigung kompatibel ist. Aber vielleicht habe ich da auch falsche Vorstellungen von Theologie und reformatorischer Wortbindung. Wenn schon der Umstand, dass man studiert hat, dass man sich mehrere Sprachen aneignete, um die Bibel im Urtext lesen zu können, einen kulturell verdächtig macht (verbildet), weil man nun nicht mehr dazu gehört, dann gehört man vermutlich wirklich nicht mehr dazu.

Vielleicht gehört zur Hinwendung zum Schlager notwendig die ostentative Distanzierung von der so genannten Hochkultur. Ich habe jedenfalls seit langem nicht mehr auf einer kirchlichen Veranstaltung so viel Intellektuellenverachtung gehört wie auf der Schlager-Tagung meiner Landeskirche. Ich hatte gedacht, da werde einem nun gezeigt, wie religionsproduktiv die Schlagerbranche sei, wie ein weites Feld für neue theologische Einsichten brachliege und auf theologische Erkundung warte.

Statt auf theologische Erkenntnisse zu verweisen, wird aber nur den Kritikern ihre angebliche hochkulturelle Brille vorgehalten, wird ihnen vorgeworfen, sie seien verkopft, wird unterstellt, sie seien elitär und arrogant, da wird insinuiert, die biblischen Propheten hätten sich auch gegen die Hochkultur ausgesprochen (und nicht nur gegen die Herrschenden, die die Kultur exklusiv an sich banden statt sie allen zukommen zu lassen) und man habe eine Ekelschwelle vor populärer Kultur. Da wird Jesus zum Helden der kleinen Leute und man unterstellt, damit würde er auch zum Widerpart der kulturell Ambitionierten.

Ich bin müde geworden angesichts dieses Zirkus‘. Es mag ja sein, dass ich persönlich bei der Hochkultur als einer zentralen Errungenschaft auch der kirchlichen Kultur stehen (aber sicher nicht stecken) geblieben bin und die Karawane Kirche nun, nachdem sie 20 Jahre einen allerdings auch von mir mit betriebenen Zwischenstopp bei der Popkultur eingelegt hat, zur Trivialkultur weiterzieht. Doch Nathan der Weise, der wusste Bescheid - Der kannte ne Oase und die war nicht sehr weit! Aber man muss an dieser Karawanentour nicht teilnehmen. Es wird Zeit, Abschied zu nehmen und zu neuen Wegen aufzubrechen.

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Digestif: Schlussakkord
Eure Mütter: Die Sonne von Sorrent

Alternativ auf der Karte:

Verlorene Lieder

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Deine Liebe ist wie Gras ....

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Empfehlung des Hauses:
Henne oder Ei

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/am469.htm
© Andreas Mertin, 2014