Resonanzen & Kompetenzen


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Kirche und Kunst

Zur Annäherung der kirchlichen Ausstellungspraxis an die Kulturwirtschaft

Andreas Mertin

Wer Kultur sagt, sagt auch Verwaltung,
ob er will oder nicht.

Theodor W. Adorno[1]

0 - Erfolgreiche Praxis?

Kurt Marti überliefert in seinen Notizen und Details aus der Zeitschrift reformatio eine Anekdote von einem wissenschaftlichen Kongress zum Thema Kunst und Kirche in Wien im Jahr 1993. Dort habe ein Diskussionsteilnehmer kritisch zur aktuellen Ausstellungspraxis der Kirchen eingeworfen:

„Die Gefahr besteht heute nicht mehr im Scheitern, sondern in einer erbärmlichen Art des Erfolgs.“[2]

Ich vermute einmal, dass dies sicher auch aus jenem kunstdiskursspezifischen Impuls heraus gesagt wurde, den Pierre Bourdieu in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ als kulturelle Angrenzungsmechanismen der herrschenden Diskurselite beschrieben hat.[3] Wenn also bisher vom Kunstdiskurs ausgeschlossene Gruppen – zu denen seit Beginn des 19. Jahrhunderts sicher auch die Kirchenvertreter gehören – beginnen, wieder im Diskursfeld Kunst tätig zu werden, werden die Diskursregeln so verändert, dass möglichst die alte Distinktion weiter in Kraft bleibt. Diese Erfahrung war noch in den 80er-Jahren im Kunstbetrieb deutlich zu spüren und die damit verbundene Einstellung wabert immer noch in manchem Kunsthistorikergehirn. Wenn Kirche etwas mit der Kunst macht, wenn Künstler etwas in den Kirchen machen, dann ist das angeblich in einer bestimmten Form zweitrangig oder „erbärmlich“. Als Vor-Urteil ist das selbst wiederum ziemlich erbärmlich, denn das Urteil über die Ausstellungspraxis der Kirchen kann nur ein konkretes, aus der Erfahrung zahlreicher Ausstellungsbesuche gewonnenes Urteil sein.

Wer freilich die Kunstaktivitäten der Kirche beobachtet, kann nicht umhin festzustellen, dass hier sehr häufig nach externen Kriterien gearbeitet wird, die denen des Kunstdiskurses zuwiderlaufen. So wird in aller Regel nicht gefragt, was macht eigentlich die Kunst der Gegenwart und was kann ich davon lernen, sondern eher: welches Thema hätten wir denn gerne und welcher Künstler malt uns ein Bild dazu? Das führt dazu, dass es eine Bevorzugung bestimmter künstlerischer Formen etwa der figurativen Malerei in der kirchlichen Ausstellungspraxis gibt. Das ist solange nichts Negatives, solange es auch reflektiert wird.

Nun hat der theo-ästhetische Diskurs des 20. Jahrhunderts präzise gezeigt, dass eine Verknüpfung von kirchlicher Theologie bzw. Ausstellungspraxis mit figurativer Malerei keinesfalls zwingend ist. Man kann auch mit gegenstandsfreier Kunst sehr gut theologisch arbeiten[4] und man kann, wie die Ausstellungspraxis des beginnenden 21. Jahrhunderts gezeigt hat, auch mit Neuen Medien und neuen Kunstformen theologisch produktiv arbeiten.[5] Letztlich geht es also darum, alle Kunst der Gegenwart theologisch zu bedenken, geschieht sie doch in jenem Freiraum, den Gott uns für das spezifisch Menschliche gewährt hat.[6]

Ausstellungstätigkeit in der Kirche ist freilich kein Wert an sich, sondern sollte auch theologisch begründet und vertreten sein. Das Argument Das machen doch alle ist eben keines. Und nur weil viele Menschen in Kunstausstellungen laufen, muss man als Kirche nicht auch noch welche veranstalten. Noch schlimmer ist das Argument, dass man mit Kunstausstellungen in der Kirche jenes Publikum anziehen würde, das sich sonst kaum in eine Kirche verirrt. Dieser pseudo-missionarische Aspekt ist nur noch peinlich. Als kirchlicher „Speck für ästhetische Mäuse“ ist die Kunst vollständig missverstanden.

1 - Grundüberlegungen

Ich greife im Folgenden auf Überlegungen zurück, die ich zuletzt 2005 in der Festschrift für Horst Schwebel unter dem Titel „Kunst und Kirche in der Praxis. Zur Begegnung zweier Erfahrungsräume in einem Raum“[7] vorgelegt habe. Damals schrieb ich:

Kunstausstellungen im kirchlichen Kontext dienen weniger dem Nachweis der Bedeutsamkeit von Religion auf dem Gebiet der Kunst, sondern sie sind ein Testfall, wie viel Spielraum in der Kirche - nach deren eigenem Verständnis - vorhanden ist.

Die Ausstellungspraxis der christlichen Kirchen differenziert sich in verschiedene Bereiche. So gibt es überregional wirksame Ausstellungen zu Anlässen wie dem Kirchentag, der documenta[8] oder auch kirchenhistorischen Jubiläen. Hinzu kommen Ausstellungen, die regelmäßig in einer Kirchengemeinde, oft in einer Citykirche veranstaltet werden. Letzteres bedarf noch näherer Überlegungen. Denn grundsätzlich stellt sich die Frage: warum eigentlich kirchliche Kunstausstellungen? Warum sollten Kirchengemeinden in Konkurrenz zu Galeristen, Museen, Kunstmessen usw. treten? Warum nicht lieber gleich mit der Gemeinde in säkulare Ausstellungen gehen? Darauf lassen sich mehrere Antworten geben:

Denkbar wäre zunächst, dass die kirchlichen Ausstellungen etwas präsentieren, was im normalen Kunstbetrieb nicht bzw. nicht mehr angemessen vorkommt, also z.B. ein bestimmtes religiöses Thema. In diesem Sinne werden heute immer wieder Bestandsaufnahmen religiös belangvoller Themen in kirchlichen Ausstellungen mit moderner Kunst präsentiert. Die Hälfte der Ausstellungen der evangelischen Kirche zur documenta hatten derartige Konzepte. Sie behandelten Themen wie das Abendmahl, das Christus- und Menschenbild oder auch das Thema Liebe und Eros in biblischer Tradition. Da jedoch heutzutage religiöse Motive in der bildenden Kunst der Gegenwart gerade einmal 4% ausmachen, geraten immerhin 96% der Gegenwartskultur aus dem Blickfeld. Das kann daher nicht der alleinige Weg für die Auseinandersetzung mit der bildenden Kunst sein.

Denkbar wäre zweitens, dass die kirchlichen Ausstellungen etwas präsentieren, was auch im normalen Kunstbetrieb vorkommt, aber dass sie es spezifisch für ihre Mitglieder präsentieren. Dies geschieht z.B. im Rahmen des Kirchentages. Hier wird den Gläubigen konzentriert vor Augen geführt, was auf dem Gebiet der bildenden Kunst im Augenblick aktuell ist, welche künstlerischen Fragestellungen die Künstler zurzeit angehen. In dieser Weise war z.B. 1995 auf dem Kirchentag in Hamburg ein Querschnitt durch die gesamte aktuelle Kunst der Bundesrepublik Deutschland zu sehen.[9] In Anerkenntnis des Kontinuitätsbruchs in der religiösen Wahrnehmung der Kunst wird sozusagen eine Art Wahrnehmungsschulung geleistet. Das ist eine wichtige Aufgabe kirchlicher Kunstausstellung und sie kann ebenso innerhalb wie außerhalb kirchlicher Räume stattfinden.

Denkbar wäre drittens, dass die kirchlichen Ausstellungen etwas präsentieren, was auch im normalen Kunstbetrieb vorkommt, aber sie präsentieren es in einem Kontext, über den der Kunstbetrieb nicht verfügt und in der Regel auch nicht verfügen kann, also z.B. in einem religiös genutzten Raum. Das ist sozusagen ein Angebot der christlichen Religion an die säkulare Kultur der Gegenwart. Und dieses Angebot lautet: für ein gewisse Zeit Gast in den Räumen der Kirche zu sein. Diese Begegnung von Kunst und Religion bleibt auch 200 Jahre nach ihrer Emanzipation und Autonomiewerdung spannend und sie geschieht nicht ohne Konflikte. Wenn wir uns in einem religiös genutzten Raum mit moderner Kunst auseinandersetzen, was geschieht dann mit unserer Wahrnehmung, wie beeinflusst der religiöse Kontext die Kunstwerke und wie die Kunstwerke die religiösen Erfahrungen? Was hat uns dieser Gast zu erzählen? Hier können alle Beteiligten Erkenntnisse über Kunst und Religion gewinnen.

Eine tragende Beobachtung dabei ist, dass wesentliche Momente der Gestaltwerdung von Kunst und Religion durch Prozesse der Inszenierung und der Vergegenwärtigung bestimmt sind. Die institutionellen Räume der Religion sind wie die Räume der Kunst inszenierte Räume. Wobei deren Inszenierungen sich nicht nur aus den objektiven Erfordernissen des Kultes bzw. der Kunst entwickeln, sondern auch auf die Bedürfnisse und Erwartungen der Besucher reagieren müssen. In diesem Sinne suchen die Räume von Kunst und Religion, suchen Kirchen, Museen und Galerien den Besucher einzustimmen auf das, was ihn erwartet und sie beschwören dazu den ganzen Kosmos und damit auch die Geschichte des jeweiligen Bereichs der Lebenswelt. Wer sich alles aus dem Kopf schlägt, was er von der Geschichte und der Gegenwart von Kunst und von Religion weiß, kann keine ästhetische Erfahrung an Kunstwerken und keine religiöse Erfahrung im kirchlichen Kontext machen. Kunst und Religion begegnen wir immer in der Form der Inszenierung und der Vergegenwärtigung. Das bedeutet auch, dass im Kontext dieser Institutionen eine bestimmte Form der Reflexion, man kann auch sagen: des Umgangs, der Deutung und der Erfahrung gepflegt wird. Ein Altartriptychon unterliegt im Kunstmuseum anderen Erfahrungs- und Deutungsformen als in einer Kirche. Und das gleiche gilt für autonome Werke. Um das Spannungsgefüge dieser Erfahrungen geht es.

Dieses Spannungsgefüge kann nun im Kirchenraum inszeniert werden. Damit würde man einem bestimmten Trend aktueller Kunstausstellungen folgen und dementsprechend nicht nur eine Anzahl verschiedener Kunstobjekte zeigen, sondern zugleich den Besuchern gezielt ein Wahrnehmungsangebot unterbreiten. Das heißt, es entsteht zwischen dem Besucher und dem Veranstalter eine Art Vertrag: Der Aussteller verspricht und der Besucher erwartet, dass mehr geschieht, als die parallele Platzierung einzelner Objekte, vielmehr werden diese in einen Zusammenhang gebracht. Räume werden verwandelt, Themen gebündelt, Zeit perspektivisch erfasst. Inszenierungen schlagen dem Blick des Besuchers Schneisen, d.h. sie suchen diesem die Betrachtung der einzelnen Kunstobjekte im Zusammenhang zu erleichtern. In dem von uns zu erörternden Kontext ginge es also etwa darum, der Lebendigkeit religiöser und ästhetischer Erfahrungsprozesse anhand der Veränderung der Werk- und Raumwahrnehmung nachzugehen. Wenn die gewohnte religiöse Rauminszenierung, z.B. vor dem Altar verändert wird, welche Erfahrungen werden damit ausgelöst? Nehmen Besucher diese Veränderung ästhetisch wahr? Und wie verbinden sie diesen sinnlichen Wahrnehmungsprozess mit dem religiösen Standort, den religiösen Codes, die mit dem Altar und dem Weg zum und vom Altar verbunden sind? Die Kunst-Inszenierung möchte m.a.W. im Kopf des Betrachters etwas in Gang setzen.

Es wäre aber Augenwischerei, wollte man nun so tun, als ob die Inszenierung von Kunst in der Kirche unproblematisch sei. Davon kann keine Rede sein. Die eine Grenze ist die Vermittlung mit der Religion, genauer mit den Gläubigen. Die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Kunst - und hier sowohl mit der Literatur, der Musik wie der bildenden Kunst - als ureigenstes Anliegen der Gemeinde zu begreifen, fällt vielen Gemeindegliedern heute noch schwer. Kunst ist irgendwie ein Hobby, etwas Pittoreskes oder Interessantes, wenn nicht sogar Luxus und Verschwendung. Auf keinen Fall erscheint die Begegnung und Auseinandersetzung mit der Kunst aber als ein genuin religiöses Anliegen. Zeitgenossenschaft - religiös wie ästhetisch - wird so nur schwer möglich.

Die zweite und ebenso gravierende Grenze ist die kulturgeschichtliche Verdinglichung, mit der der Kirche wie der Kunst heute begegnet wird. Die klassische Erfahrung ist es, dass viele Besucher den Kirchenraum nur noch als musealen Raum wahrnehmen. Man kann diese Besucher nach einem Wort des Künstlers Georg Meistermann als Baedecker-Christen bezeichnen. Sie sind auf der Suche nach verbürgten kulturgeschichtlichen Fakten und Objekten. Eine Kirche ist danach umso bedeutender, je stärker sie den großen architektonischen Formen Romanik, Gotik, Barock oder Klassizismus entspricht, und um so unbedeutender, je mehr sie sich von dieser historischen Bausprache entfernt. Interessant und der Würdigung wert ist das kulturgeschichtlich Zertifizierte, m.a.W. das, mit dem man keine abweichenden, verstörenden und d.h. lebendigen Erfahrungen macht. Aber Erfahrung ist immer Differenzerfahrung, Abweichung von den Erfahrungen, die man bisher gemacht hat. Baedecker-Christen begreifen jedoch Kunst wie Religion als geronnene Formen der Vergangenheit, die keine lebendigen Erfahrungsräume mehr eröffnen können. Nach ihren Vorstellungen soll eine Kirche sich möglichst als ideale Plattform dieses Interesses darstellen. Und viele Kirchen gehen darauf ein. Landauf, landab erfährt man so in den ausliegenden Kirchenprospekten mehr über die baugeschichtliche wie religionsgeschichtliche Vergangenheit als über das religiöse Leben der Gegenwart.

Eine Inszenierung, die Kunst im religiösen Kontext situiert, muss nach Feldern und Codes suchen, an denen sich Gemeinsamkeiten und Differenzen von Kunst und Religion aufzeigen lassen, wo sie anschaulich werden. Ein solches gemeinsames Feld ist zunächst einmal der Raum selbst. Auch nach dem Durchgang durch die Moderne unterliegen Räume einer religiösen wie ästhetischen Struktur. Kunst und Religion beziehen sich positiv wie negativ auf Räume. Diese positive wie negative Form der Raumbezogenheit von Kunst und Religion hält bis in die Gegenwart an. Die Frage ist, zu welchen Grenzüberschreitungen es kommt, wenn die weiterentwickelten Raumbezüge von Kunst und Religion in einem gemeinsamen Kontext aufeinandertreffen. Das lässt sich nicht von vornherein beantworten, es will ebenso experimentell am eigenen Leibe, mit den eigenen Sinnen überprüft sein.

Darüber hinaus muss den Besuchern einer kirchlichen Kunstausstellung durchaus aber auch die Erfahrung vermittelt werden, dass und wie sich die bildende Kunst von inhaltlichen Vorgaben gelöst hat und dennoch das ehemals religiöse Formen- und Ausdrucksvokabular unter den Bedingungen ihrer inzwischen errungenen Autonomie weiter reflektiert. Auch in der zeitgenössischen Kunst werden ehemals religiös geprägte Formen künstlerisch genutzt und bearbeitet. Zu diesen Formen gehören z.B. das Triptychon[10] und das Kreuz, aber auch komplexere Inszenierungen. Trotz einer langen Emanzipationsgeschichte ist es nicht möglich, bei der Betrachtung derartiger Formen ganz von ihrer religiösen Vorgeschichte zu abstrahieren, selbst wenn die Werke ganz säkular konzipiert sind.

Während im normalen Kunstbetrieb derartige Crossover kaum ins Bewusstsein geraten, allenfalls beiläufig geschehen, zwingen sie bei einer Präsentation derartiger Werke im religiösen Kontext stärker zum Nachdenken. Der Betrachter ist in einem ständigen Zwiespalt, ob er sich funktionalen Objekten des religiösen Kultes, Kunstwerken im Rahmen des religiösen Kultes oder autonomen Werken der Gegenwartskunst gegenübersieht.

2 - Kulturwirtschaft

Meines Erachtens muss eine Kirche bzw. eine Gemeinde sich zunächst grundsätzlich im gerade beschriebenen Sinne Gedanken machen, warum sie sich mit Kunst im eigenen Kontext auseinandersetzen sollte und will bevor sie sich den formalen Aspekten zuwendet. Ich finde es eine Schwäche kirchlicher Interventionen, dass sie sich oftmals eher den kulturwirtschaftlichen Aspekten als den theologischen Aspekten der Begegnung von Kunst und Kirche zuwendet. Ein Beispiel dafür ist die Broschüre „Kunst in Kirchen. Eine praktische Ausstellungshilfe“[11] die meine Landeskirche gerade aufgelegt hat, die aber auf einer von der Landeskirche Hannover 2006 erstmalig publizierten und von den Kunst- und Kulturbeauftragten 2012 neu edierten Ausgabe basiert. Im Vorwort zum Heft heißt es:

Diese Handreichung will eine Ausstellungshilfe sein für Kunst in Kirchen. Sie beantwortet Fragen, die in der Vorbereitung, bei der Durchführung und im Nachklingen von temporären Ausstellungen im Kirchenraum entstehen können. Dabei geht es weniger um grundsätzliche Fragen nach der Bedeutung von Kunst in der Kirche als vielmehr um ganz praktische Hilfestellungen.

Genau das ist aber ein Problem. Seit 3000 Jahren gibt es eine überaus kontroverse und wechselhafte Debatte darüber, warum und mit welchen Implikationen man sich mit Bildern im religiösen Kontext auseinandersetzen sollte. Eines der 10 Gebote beschäftigt sich explizit mit dieser Frage:

„Du sollst dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“

Im Kultkontext soll es keine Objekte geben, die ein kultisches Eigenleben entwickeln können. Klar ist, dass Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner sich davon emanzipiert haben, aber es bleibt doch bedenkenswert und begründungspflichtig – gerade auch in einer unierten Kirche. Selbst wenn also eine Handreichung darauf verzichten möchte, den Gemeinden in dieser Frage theologische Vorgaben zu machen, muss sie meines Erachtens aber dennoch die Gemeinden darauf verweisen, dass es ihre erste Aufgabe ist, ein theologisches Modell für die Begegnung mit Kunst zu entwickeln und nicht einfach bloß Kunstausstellungen zu betreiben, nur weil heute Pizzerien, Sparkassen, Krankenhäuser oder Industrie- und Handelskammern das auch machen. 

Eine temporäre Kunstausstellung in der Kirche sollte ein Ereignis und Geschenk für die Kirchengemeinde, die Öffentlichkeit, die Mitwirkenden und ausstellenden Künstlerinnen und Künstler sein. Die Idee, eine Ausstellung im Kirchenraum zu realisieren, muss also langsam wachsen.

Weder Ereignis/Event noch Geschenk ist eine Kunstausstellung – das gälte allenfalls für eine Bilderausstellung. Kunst ist zunächst einmal eine Form der Wahrheit, die durchaus mit der Wahrheit des Evangeliums in Konkurrenz treten oder mit ihr in Konflikt geraten kann.[12]

Es ist nun nicht so, als ob diese Aspekte in der Handreichung ganz verdrängt würden, aber sie werden in einer Weise erörtert, die durch und durch funktional ist:

» Wir machen die Ausstellung, weil...
» Die Ausstellung soll uns als mittel- und langfristigen Nutzen dies bringen ...
» Unsere Motivation ist...
» Unsere konkreten Ziele heißen ...
» Wir wollen an dieser Ausstellung folgende Personen, Institutionen und ... beteiligen ...

Behalten Sie dazu immer das Publikum im Auge, das Sie anziehen möchten und welchen „Gewinn und Nutzen" dieses aus Ihrem Ausstellungsvorhaben ziehen soll. Seien Sie vorsichtig, dass Sie sich nicht mit einer zu großen Ausstellungsidee verzetteln und dabei Ihr Ziel aus den Augen verlieren, Menschen zu erreichen und anzusprechen.

Ist es der Sinn von Kunst, Gewinn und Nutzen zu bringen? Das mag vielleicht ein Sekundäreffekt sein, steht aber im Dialog von Kunst und Kirche doch hoffentlich nicht im Zentrum. Das sind doch Fragen, die Kulturdezernenten in Stadtverwaltungen stellen, aber es sollten nicht die Fragen sein, die religiöse Menschen vorrangig stellen, wenn sie sich mit der Kunst auseinandersetzen wollen.

Als ersten Schritt empfiehlt die Broschüre, Künstlerateliers aufzusuchen. Das ist eine Entscheidung mit weitreichenden Konsequenzen. Man befindet sich, um es böse zu sagen, sofort auf der Ebene der sozialdemokratischen Kleinkunst. Wenn ich etwas über Gott lernen will, sollte ich zunächst die Bibel lesen und den den Gemeindegottesdienst aufsuchen und nicht das Arbeitszimmer des Pfarrers. Wenn ich etwas über Architektur lernen will, gehe ich nicht ins nächste Architekturbüro das Reihenhäuser entwirft. Ich orientiere mich an den Meilensteinen der Architektur,[13] versuche zu verstehen, inwiefern die Behausung des Menschen über Jahrtausende in bestimmten Formen entwickelt wurde und warum manche Bauten wie etwa das Pantheon in Rom bis in die Gegenwart Impulse für die Architektur vermitteln. Und nach und nach kann ich erkennen, wie sich in vielen architektonischen Gestaltungen Ideen verkörpern, der Stand einer Gesellschaft spiegelt und dem Menschen räumlich Heimat gegeben wird. Ich versuche mit anderen Worten zu verstehen, was Architektur ist. Ähnliches gilt für die Kunst. Eine Gemeinde, die Kunst ausstellen möchte, sollte Museen besuchen. In Museen wird gezeigt und reflektiert, welche Bedeutung die Kunst in der Geschichte der Menschheit für die Menschen hat (und nicht nur hatte). Eine Gemeinde, die Kunst ausstellen möchte, sollte Kunsthallen besuchen. In Kunsthallen wird gezeigt, welche Kunst der jüngeren Zeit für so bedeutsam gehalten wird, dass sie der nächsten und übernächsten Generation als überlieferungswert empfohlen wird. Eine Gemeinde, die Kunst ausstellen möchte, sollte die documenta, eine Kunstmesse oder eine Galerieausstellung besuchen, denn dies sind die vom Betriebssystem Kunst etablierten Vermittlungsagenturen zeitgenössischer Kunst, bei denen man sein Auge schulen kann im Blick auf die Wahrnehmung künstlerischer Zeitgenossenschaft. Und dann und erst dann sollte man unter Umständen mit Atelierbesuchen beginnen, denn diese sind eher Ausnahmekontexte für Kunsterfahrungen als Orte der Kunstwahrnehmung. Oftmals dienen sie weniger der Einsicht in die experimentelle Situation, Kunst zu schaffen, als der pittoresken Schau. Um sich aber ein Urteil bilden zu können, was das ist, das ich da im Atelier sehe, ist Urteilskraft nötig, die sich in der Begegnung mit der Kunst in Geschichte und Gegenwart ausbildet.

Ich will nun gar nicht die Broschüre Schritt für Schritt durchbuchstabieren. Ich sehe nur die Gefahr der kulturwirtschaftlichen Pragmatik, die alles zerstört, was die Kunst für Menschen bedeuten könnte und sie auf atmosphärische Raumausstattung reduziert. Es ist, als ob man seine Theologie nach dem Wellness-Faktor aussucht. Ich weiß, das machen viele, aber das ist kein Gegenargument. Es ist banausisch. Wenn ernsthaft erörtert wird, ob und wie mit der geplanten Kunstausstellung eine meditative Stimmung erzeugt werden kann, sind wir längst im Bereich des Emotional Design gelandet. Man kann sich nicht beschweren, dass Buchhandlungen inzwischen nur noch eine Rubrik Esoterik und nicht mehr Religion oder Christentum haben, wenn man in der Gemeindepraxis denselben Trend pflegt. Kunstwerke im religiösen Raum dienen auch nicht dazu, die vorhandenen Prinzipalstücke hervorzuheben. Wer kommt nur auf diese Ideen? Nicht einmal Sparkassen versuchen, mit der ausgestellten Kunst ihre Geldautomaten ins bessere Licht zu setzen. Und bei Gott – sie stellen auch keine Kunstwerke aus, die nur Geldscheine oder Kreditkarten zeigen. Man kann an der Kunstsammlung der Deutschen Bank sehen, wonach Banker fragen: nach guter Kunst und nach guter junger Kunst. Und die Beantwortung dieser Frage ist schon Herausforderung genug. Ich sehe nicht, warum die Kirchen hinter den Anstrengungen der Banken zurückbleiben sollten.

Sicher bedarf es – wenn man erst einmal die grundlegenden Voraussetzungen für die Arbeit mit der Kunst geschaffen hat – auch bestimmter organisatorischer Kompetenzen. Dass in der Kirche aber immer die formalen Fragen vor die inhaltlichen Fragen gestellt werden, ist doch bedenklich.[14] Noch die beste formale Durchführung einer Ausstellung macht noch keine gute Ausstellung.

„Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen“ hat Adorno in den Minima Moralia geschrieben.[15] Das muss man den Gemeinden sagen, dass sie sich bewusst das Chaos, die Abweichung, die Differenz ins Haus holen. Und dass das nichts Negatives ist, sondern überaus produktiv, für die Gemeinde, für die Theologie, für den Einzelnen.


IMPULSFRAGEN
  • Welche Werke der Bildenden Kunst kommen im Kirchenraum meiner Gemeinde vor?
  • Aus welchen kunsthistorischen Epochen stammen sie?
  • Handelt es sich um Kunstwerke oder Kunsthandwerk?
  • Für Kunstwerke der Vormoderne: Welche theologischen Konzeptionen vertreten die Werke?
  • Hat sich die Gemeinde einmal intensiv mit den künstlerischen und theologischen Konzeptionen der Kunstwerke auseinandergesetzt?
  • Werden diese Konzeptionen von der Gemeinde / dem Presbyterium, den Kirchenältesten / mir geteilt?*
  • Wie machen wir im Gemeindealltag Übereinstimmung und Differenz deutlich?
  • Welche Bedeutung hat die Bildende Kunst im theologischen Denken der Kirchengemeinde?
  • Ist Bildende Kunst in der Kirche Ausstattungsstück, Illustration biblischer Geschichte(n) oder steht sie für sich selbst?
  • In welchem Verhältnis stehen die Werke der Kunst, die die Gemeinde ausstellen will, zum sonstigen Kunstbetrieb? Könnten sie auch im örtlichen Kunstverein oder einer Kunsthalle ausgestellt werden?
  • Inwiefern macht sich die Ausstellungspraxis der Gemeinde als evangelische / katholische Praxis kenntlich?**
  • ....

Erläuterungen

*   Ein klassisches Problem wären etwa antijudaistische Darstellungen auf neuzeitlichen Gemälden. Wenn man die Kunstwerke als Argumente ernstnimmt, wie verhält man sich dann? Ähnliches gilt auch für manche Mariendarstellungen.

** Die Kenntlichkeit, um das zu betonen, besteht nicht in einer irgendwie gearteten Inhaltlichkeit der Ausstellungspraxis. D.h. die Kunst muss nicht christlich/evangelisch/katholisch sein, sondern der Umgang mit der Kunst muss christlich/evangelisch/katholisch sein. Das kann etwa ein Konzept der Bildung, des Freiraums, der Freiheit, der Begegnung usw. sein.

Anmerkungen


[1]    Adorno, Theodor W. (2003): Kultur und Verwaltung. In: Theodor W. Adorno: Soziologische Schriften I. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1708), S. 122–146.

[2]    Marti, Kurt (2010): Notizen und Details 1964-2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Unter Mitarbeit von Hektor Leibundgut. Zürich: TVZ, Theologischer Verlag Zürich. S. 1015.

[3]    Bourdieu, Pierre (2000): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 658).

[4]    Schwebel, Horst (1968): Autonome Kunst im Raum der Kirche. Hamburg: Furche.

[5]    Vgl. Mertin, Andreas (2007): Speculum. Yves Netzhammer. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 47. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/47/am214.htm. Mertin, Andreas (2007): Von Höhlen und Medien. Julia Oschatz. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 47. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/47/am213.htm.

[6]    Mertin, Andreas (2012): Eine protestantische Sicht auf die Kunst. Zehn Grund-Sätze. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 14, H. 77. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/77/am391.htm.

[7]    Mertin, Andreas (2005): Kunst und Kirche in der Praxis. Zur Begegnung zweier Erfahrungsräume in einem Raum. In: Matthias Ludwig (Hg.): Kunst - Raum - Kirche. Eine Festschrift für Horst Schwebel. Zum 65. Geburtstag. Münster: LIT, S. 121-131.

[8]    Schwebel, Horst (2004): Kunstausstellungen in Kirchenräumen am Beispiel der documenta-Begleitausstellungen. In: Gerhard Kilger, Wolfgang Müller-Kuhlmann und Ursula Warnke (Hg.): Szenografie in Ausstellungen und Museen 01. Essen: Klartext, S. 116–123. Online verfügbar unter http://sites.google.com/site/hschwebel/aufsatz10. Vgl. dazu jetzt auch: Mertin, Andreas (2013): Zwischen Ikonographie und Autonomie. Die Evangelischen Begleitausstellungen zur documenta 7-12 (1982-2007). In: Josef Meyer zu Schlochtern (Hg.): Kunst, Kirche, Kontroversen. Der Streit um die kirchlichen Begleitausstellungen zur documenta: Schöningh Paderborn.

[9]    Gräb, Paul (Hg.) (1995): Kunst zum Kirchentag '95. Ausstellungskatalog. Unter Mitarbeit von Andreas Mertin. Maulburg: Verl. Kunst und Kirche.

[10]   Mennekes, Friedhelm (1995): Triptychon. Moderne Altarbilder in St. Peter Köln. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Insel.

[11]   Evangelische Kirche von Westfalen (2013): Kunst in Kirchen. Eine praktische Ausstellungshilfe. Bielefeld.

[12]   Schwebel, Horst (1988): Wahrheit der Kunst - Wahrheit des Evangeliums. Einer Anregung Eberhard Jüngels folgend und widersprechend. In: Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, S. 135-145.

[13]   Kastorff-Viehmann, Renate (2010): Meilensteine der Architektur. Baugeschichte nach Personen, Bauten und Epochen: Alfred Kröner Verlag Stuttgart.

[14]   Das gleiche gilt auch für den Band Zentrum für Medien Kunst Kultur Hannover; Kunstdienst der Evangelischen Kirche Berlin (Hg.) (2002): Kirchenräume - Kunsträume. Hintergründe, Erfahrungsberichte, Praxisanleitungen für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst in Kirchen ; ein Handbuch. Münster: Lit-Verl. (Ästhetik - Theologie - Liturgik, 17).

[15]   Adorno, Theodor W. (2004): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 4: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft), S. 254

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/87/am467.htm
© Andreas Mertin, 2014