Wozu geht der Theologe ins Kino?


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Stop making sense!

Zur theologischen Interpretation des Kinos als Imaginationsraum und Affektmaschine (Thesen in polemischer Absicht)

Werner Schneider-Quindeau

1.

Menschen gehen ins Kino, um eine visuelle, affektive Erfahrung zu machen. Sinnfragen spielen insofern eine Rolle, weil sie in jeglichen Narrativen und ihren Visualisierungen überhaupt bedeutsam sind. Das Kino erzeugt diesen Sinn nicht und gibt keine Antworten auf die Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens.

Solche Fragen gehen dem Kino immer schon voraus und spiegeln sich in den Dramaturgien und Inszenierungen der Filme. Zugleich werden symbolische Ordnungen, Weltanschauungen und Wertvorstellungen zitiert, die das Publikum zur Identifikation mit dem Gesehenen einladen. Dabei sind auch implizite oder explizite religiöse Fragen in all ihrer Vielfalt zu entdecken.

Doch neben dem Religiösen sind es politische und soziale, existentielle und allgemein kulturelle Fragen, an denen das Publikum beteiligt wird. Das Religiöse ist eine Perspektive auf Filme unter anderen und vor allem keine Spezialität von Theologen.

Soziologen und Psychologen, Phänomenologen und Kulturwissenschaftler haben ihren je eigenen Blick auf die Religion und eine funktionale Religionstheorie ist kein Ersatz für theologisches Nachdenken.

Theologie denkt über Gott nach, der auch allen subjektivitätstheoretischen und bewusstseinsphilosophischen Begründungen immer noch voraus liegt und mit keinem Begriff und keinem Symbol identifiziert werden kann. Denn die umstandslose Identifizierung von Theologie mit einer wie auch immer gearteten Gestalt religiösen Bewusstseins wäre das Ende der Theologie. Gott hätte in diesem Religionskonzept keinen Raum mehr, selber zur Sprache zu kommen, weil der allgemeine Geltungsanspruch des Religionsbegriffs jegliches Reden Gottes als Form des menschlichen religiösen Bewusstseins begreift. Die schlechte Allgemeinheit des Religionsbegriffs führt nicht zum Gottvertrauen, sondern im besten Fall zum „Geschmack für Unendliche“, der fad und schal bleiben muss, weil ihm die Besonderheit der Zuwendung Gottes fehlt.

Erkenntnistheoretisch geht im Blick auf Gott das Besondere dem Allgemeinen voran und entzieht damit gerade jeglicher Logik der Ein- und Unterordnung ihre Berechtigung. Wird der Begriff der Religion nur weit genug gefasst, dann lässt sich jedes Bewusstsein auch religiös deuten. Schließlich kann es für Theologen dann nur noch um die Dechiffrierung dieser religiösen Dimensionen in der Alltagswelt gehen.

Das Kino ist wie das Museum, der Bahnhof, der Flughafen oder das Fußballstadion ein Ort bewusster oder unbewusster Erfahrung von Transzendenz. Religion wird für das deutende Subjekt zur symbolischen Ordnung schlechthin, weil in ihr der umfassendste Horizont menschlichen Seins zur Sprache kommt. Über die religionshermeneutische Deutung der Wirklichkeit versuchen Theologen eine imperiale Deutungshoheit zurück zu gewinnen, die ihnen seit der Aufklärung bestritten wurde und die sie im gegenwärtigen öffentlichen Leben längst verloren haben.

Der apologetische Grundzug der Theologie als Religionswissenschaft ist unübersehbar: es geht ihr auf Teufel komm raus darum, sich als Wissenschaft im Konzert der anderen sogenannten empirischen Wissenschaften zu legitimieren. Dabei verliert sie weitgehend ihr wissenschaftskritisches Potential.

2.

Der neuzeitlichen subjektivitätstheoretischen Variante des Verständnisses von Religion geht eine Geschichte voraus, die mit einem imperialen Selbstverständnis eng verknüpft war. Wenn heute das scheinbar autonome Individuum eine umfassende Deutungshoheit beansprucht, so war es in der Antike das römische Imperium, das mit umfassender Deutungskompetenz das Leben der Menschen regelte.

Der Religionswissenschaftler Jakob Taubes und neuere religionshistorische Studien haben die Entstehung des Begriffes „Religion“ einer spezifischen spätrömischen Identitätspolitik zugeordnet, die eng mit der Etablierung des Christentums als Staatsreligion verbunden war.

„Religion ist ein lateinischer Begriff, der ursprünglich den bürgerlichen Kult des römischen Staates bezeichnete. Die biblische Literatur kennt diesen Ausdruck nicht. Und doch werden noch immer jene Gemeinden, deren Erfahrungen in den Büchern des Alten Testamentes reflektiert sind, als ‚Religionen‘ klassifiziert. Dies ist kein beiläufiges philologisches Detail, das nur den Linguisten oder den Exegeten interessiert. Das Schicksal der Christenheit ist in diese Sprachverschiebung eingebettet wie in eine Nussschale. Was einst ein Weg des Heils war, eine Hoffnung auf die Erlösung des Menschen, ist zu einer etablierten Religion im Herrschaftsbereich der Welt geworden. In dem Begriff r e l i g i o war Rom siegreich über die Hoffnung auf Erlösung.“[1]

Religion war eine Kategorie imperialer Strategie, um die Zugehörigkeiten und Bindungen der Menschen zu ihrem Gott oder ihren Göttern feststellen zu können. Bis heute hat diese Kategorie wenig von ihrem usurpatorischen Charakter verloren. Mit der Aufklärung wurde das Religiöse zu einer wesentlichen und universal gültigen Bestimmung des Menschen überhaupt erklärt.

Die problematische Allgemeinheit dieses Begriffs von Religion ebnete die Besonderheiten der Glaubenstraditionen ein, um sie religionsphänomenologisch oder religionssoziologisch erheben zu können. Theologie, die mit Vernunft und Verstand nach dem Gott Israels und dem Vater Jesu Christi fragte, wurde im Kontext einer vorherrschend empirischen Wissenschaftlichkeit zur Religionswissenschaft, wobei ihr Schwerpunkt auf der christlichen Religion liegt.

Die Differenzen und Gemeinsamkeiten beispielsweise des jüdischen und des christlichen Glaubens werden unter dem religionswissenschaftlichen Blick eher zweitrangig, wenn nicht sogar völlig unbedeutend. Die Entstehung von frühem Christentum und rabbinischem Judentum, die in Bezugnahme und Abgrenzung eng aufeinander bezogen war bevor es im 4. Jahrhundert n. Chr. zur imperialen Etablierung von „Religion“ kam, haben Forscher wie Peter Schäfer[2] und Daniel Boyarin[3] überzeugend nachgewiesen.

In dem Kapitel „When the Kingdom Turned to Minut”: The Christian Empire and the Rabbinic Refusal of Religion” macht Boyarin deutlich, wie sehr die staatliche Definition des jüdischen Glaubens als Religion dem Selbstverständnis der Rabbinen widersprach.

„The Rabbis, in the end, reject and refuse the Christian definition of a religion, understood as a system of beliefs and practices to which one adheres voluntarily and defalcation from which results in one’s becoming a heretic.”[4]

Der Jerusalemer und der Babylonische Talmud sind als Sammlungen verschiedener rabbinischer Richtungen, die sich vor allem mit der praktischen Umsetzung der Tora im Alltag beschäftigen, das Gegenteil eines geschlossenen Lehrsystems. In der Vielfalt der Auslegungen wird gerade die Souveränität Gottes gegenüber dem Menschen und seinen Verstehensbemühungen gewahrt. Gott ist weder in ein Bild (vgl. die Bedeutung des Bilderverbots) noch auf den Begriff zu bringen. Sowohl Bild als auch Begriff sind Ausdruck des menschlichen religiösen Selbstbewusstseins, das sich auf diese Weise einen religiösen Ordnungsrahmen mit entsprechenden Herrschaftsansprüchen schafft.

Von der Antike bis zur Neuzeit dient der Begriff der Religion dazu, sich eine wissenschaftliche oder politische Deutungshoheit über die vielfältigen Glaubensweisen zu verschaffen. Das fromme Selbstbewusstsein muss sich den Begriffen und den Bildern fügen, um den kommunikativen Anforderungen des Religionsdiskurses zu genügen.

In der Antike ging es vor allem um die Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Häresie, mit der ein normativ aufgeladener Begriff von Religion operierte. Die Rede von Gott hatte sich spezifischen religionspolitischen Voraussetzungen zu unterwerfen. Gott als das freie Gegenüber zum Menschen, der sich in einer besonderen Geschichte, nämlich in der Geschichte Israels und in der Geschichte Jesu Christi mit den Menschen verbunden hat, verliert seine unverwechselbare Ansprechbarkeit. Denn Gott ist vor allem Name, der im Sprachspiel der Anrufung seine wesentliche Bedeutung besitzt. Die Weigerung der Rabbinen im spätrömischen Reich, ihren Glauben an Gott mit einer Religion zu identifizieren, rechnet ganz anders mit Gottes Wirken als eine staatlich approbierte Religionspraxis, die Gottes Handeln meint verwalten und darüber verfügen zu können.

Das Erbe des römischen Kaiserkultes hat das Christentum als Staatsreligion angetreten. Wer sich der institutionalisierten Religion verweigerte, galt auch staatlicherseits als unsicherer Kantonist. Eine der Wurzeln des christlichen Antijudaismus hängt mit diesem imperialen Charakter des spätantiken Religionsverständnisses zusammen, weil gerade die Besonderheit des jüdischen Volkes in seiner Geschichte mit Gott immer ein Stachel im Fleisch vorherrschender allgemeiner Religionsbegriffe und Religionspolitik war und ist.

Was für die Antike das Imperium ist für die Moderne das autonome sich selbst und seine Welt beherrschende Subjekt. Sein Anspruch könnte auch im Werbeslogan eines Bestattungsunternehmens zusammengefasst werden: „Ich regele alle Dinge selbst, auch die letzten“ So ist die Religionswissenschaft der Totengräber der Theologie.

Ob Jude, Muslim, Hindu, Buddhist oder Christ: alle Glaubensweisen sind Spielarten eines sich selbst setzenden religiösen Bewusstseins, das sich philosophisch, phänomenologisch oder soziologisch verallgemeinern lässt.

Prophetische Religionskritik hat bereits im alten Israel im Namen der Unverfügbarkeit und Freiheit des barmherzigen Gottes gegen dessen Inanspruchnahme durch die jeweilige herrschende religiöse Praxis Einspruch erhoben. Denn ein Gott, der zur Projektion der eigenen Wünsche und Interessen wird und der durch den Begriff der Religion abgelöst wird, ist ein Götze. Dagegen hält die prophetische Religionskritik am Eigensinn der Glaubensweisen gegen ihre Vereinnahmung in einem allgemeinen religiösen Bewusstsein fest und entwickelt die universalen Implikationen aus der Besonderheit des Glaubens.

Die Unterscheidung zwischen Glaube und Religion macht den Dialog zwischen in ihrer jeweiligen Eigenart Verschiedenen überhaupt erst zu einer unverzichtbaren Aufgabe, die als kritische Selbstreflexion verstanden wird. Karl Barths Beschreibung der „Religion als Unglaube“ (Kirchliche Dogmatik, Bd. I/2, S. 324 ff.) muss man nicht zustimmen, aber die kritischen Anfragen an die umstandslose Identifizierung von Theologie und Religion sind auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Religionskritik ernst zu nehmen.

„Ist die Religion mit ihrer Dogmatik, ihrem Kultus, ihren Lebensordnungen der primitivste oder vielleicht vielmehr der intimste und intensivste Bestandteil der Technik, mittelst derer der Mensch mit seinem Dasein fertig zu werden versucht? … Sind die Götter nur die Spiegelbilder und Garanten der Bedürfnisse und des Vermögens des in Wirklichkeit einsamen, auf sich selbst und sein eigenes Wollen, Ordnen und Schaffen angewiesenen Menschen?“[5]

3.

Filme sind in ihrer jeweiligen Gesamtheit als Werke sui generis ernst zu nehmen. Sie sind weder Material für Metaphernmaschinen, die in jedem Fensterkreuz oder in jedem Weinglas bereits einen Verweis auf das Kreuz Jesu oder das Abendmahl wieder zu finden glauben. Sie wollen keinen Sinn produzieren, sondern unterhalten, indem sie einen Imaginationsraum für die eigenen Affekte und Sinnvorgaben eröffnen.

Ob sich Sinn überhaupt hervorbringen lässt, erscheint mir fraglich. Denn das Telos (der Sinn oder das Ziel) des Lebens ist weder intellektuell noch praktisch herstellbar. Sinn ist selber ein Geschenk, dem der Mensch nach-denken, aber den er nicht vor-denken kann. Filme wissen darum, indem sie solche Spielräume des Nachdenkens eröffnen: spannend, bewegend, leidenschaftlich, realistisch und surreal.

Entscheidend für die Filme sind nicht die Sinnnarrative, sondern die Blicke, die auf der Leinwand und zwischen Publikum und Leinwand geworfen werden. Die Kamera hält dabei spielerisch Einstellungen fest, denen die Zuschauenden folgen, wobei mit Einstellung sowohl eine technische als auch eine interpretierende Dimension gemeint ist.

Woran Menschen glauben, worauf sie hoffen und wie sie lieben, zeigen Filme, indem sie dem Publikum unterschiedliche Perspektiven auf den Glauben, die Hoffnung und die Liebe eröffnen. Um diese Perspektiven zu verstehen, können die unterschiedlichsten Interpretationen hilfreich sein.

Wenn Theologinnen/Theologen ihre Filmwahrnehmung auf eine religiöse Interpretation verengen, berauben sie sich des Reichtums und der Freiheit eines interdisziplinären und vielfältigen Blicks. Es hat zweifellos etwas „Pfäffisches“, wenn die Theologie nun meint, sie sei in religiösen Interpretationen besonders kompetent, denn sie muss dabei allerdings ständig bei den anderen Wissenschaften und Interpretationsweisen Anleihen aufnehmen.

Dass religiöse, ja sogar konfessionelle Traditionen bei der Bild – und Filmproduktion bedeutsam sind, ist damit gar nicht bestritten. Allerdings werden sie im Imaginationsraum des Kinos durch Inszenierung und Dramaturgie, durch Montage und Schnitt in anderer Perspektive sichtbar. Ich könnte auch sagen, sie werden als Filmmaterial „säkularisiert“.

Apokalypsen beispielsweise, die starke Wurzeln in Glaubenstraditionen haben, gewinnen im Kino einen Schauwert, der vor allem mit den überwältigenden Bildern zu tun hat und auf Gott dabei völlig verzichten kann. Rauchen und Morden im Film sind keine Handlungsimperative, sondern dramaturgische Mittel, um durchaus sehr Unterschiedliches zu visualisieren. Auch Sinnkonstrukte werden im Kino zum Material der Gestaltung des unterhaltsamen Imaginationsraums.

4.

Mein Interesse gilt nicht so sehr dem Religiösen im Film, auch wenn das "fascinosum et tremendum" zur Spannung und Entspannung jedes Kinobesuchs gehört. Auf der religionsphänomenologischen Suche nach Analogien zwischen Film und Religion wird eine Fülle von Ergebnissen zu Tage gefördert, die allerdings für die Betrachtung des einzelnen Films wenig Interessantes beitragen.

Der populäre Film ist angereichert mit religiösen Deutungs- und Assoziationshorizonten, die allerdings im Kontext anderer Großerzählungen zu einem Mix aus Mythos, Religion und effektvollem Kino verschmolzen werden, die vor allem einen Zweck erfüllen sollen: der Unterhaltung und Zerstreuung der Massen. Das Religiöse verleiht dem populären Kino den Anschein von Erbauung und transzendenter Sinnhaftigkeit. Nur über eine komplexe religiöse Deutung gewinnt der Film dann auch den Charakter einer "Sinnmaschine".

Demgegenüber glaube ich, dass das Kino primär eine ‚Affektmaschine‘ ist, die ein Publikum für eine begrenzte Zeit emotional zu bannen vermag. Der Lust an Spannung und Entspannung, die durch das Zuschauen erzeugt wird, hat sich auch das Religiöse im Film zu fügen. Es ist eine Dimension menschlicher Welt- und Selbsterklärung unter anderen. Mein „Geschmack fürs Unendliche“ ist im Kino durchaus begrenzt. Das Irdisch-Begrenzte, Handfeste und die Wirklichkeit Erhellende, bei dem Versuch so genau wie möglich hinzuschauen, erscheint mir aufschlussreicher.

Gleichnisse des Himmelreichs in ihrer Multiperspektivität, die das Nach-denken anregen und das Mit-empfinden hervorrufen, die also ästhetisch, ethisch, intellektuell und affektiv das Publikum unterhaltsam herausfordern, gilt es im Kino zu entdecken.

5.

Allerdings taugt nicht jeder Film in gleicher Weise zum Gleichnis. Bei manchen fehlt die Tiefenschärfe, um eine solche gleichnishafte Kraft zu entfalten. Sie bleiben oberflächlich, sind primär von kommerziellen Verwertungsinteressen und konventionellen Seherfahrungen geleitet und ihnen fehlt eine geistliche Dimension, die im je besonderen Werk entdeckt werden kann. Neben der visuellen Gestalt der Filme ist ihr narrativer Charakter von Bedeutung für ihre ästhetische Form, ihren ethischen Gehalt und ihre Wirkung. Es sind Alltagsgeschichten wie "boy meets girl", die die Popularität des Kinos begründet haben.

Mit dem Film ist sowohl eine Erweiterung der Wahrnehmung, die sich vom Raum-Zeit-Kontinuum zu lösen vermag, als auch eine Steigerung der Wirkung verbunden, die durch die akustische und visuelle Präsentation innerpsychischer Prozesse erzielt wird. Filmgeschichten intendieren Identifikationsvorgänge, die vielgestaltig sind. Die "Mythen des Alltags" (R. Barthes), in denen die kulturellen Bemühungen zu Selbstverständlichkeiten geronnen sind, dienen den Filmgeschichten als "deja-vu" und als Möglichkeiten der Verunsicherung und Veranlassung zu neuer Perspektive.

Dass die Filme "Gleichnisse des Lebens" erzählen, hängt mit ihrer Multiperspektivität und mit ihrem Ort auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zusammen. Als Gleichnis sind sie wirklich und in Wirklichkeit sind sie nur ein Gleichnis. Sie zeigen uns eine Geschichte und lassen uns mit Auge, Ohr, Herz und Verstand teilnehmen, wobei wir zugleich unterhalten und belehrt, erschüttert und erfreut, gelangweilt und gefesselt werden können.

Die ästhetische Wirkung von Gleichnissen ist offen und die Intentionen der Autorinnen und Autoren können scheitern. Die Notwendigkeit dieser Offenheit ist durch ihr nicht eindeutig definierbares Verhältnis zur Wirklichkeit begründet. Ob eine Liebes- oder Familiengeschichte die Zuschauenden überzeugt, hängt an der ästhetisch gestalteten und inhaltlich konstruierten Gleichnisfähigkeit. Bleiben die Geschichten an der Oberfläche der individuellen und sozialen Beziehungen oder eröffnen sie den Blick in Tiefenstrukturen, die sich den Augen entziehen?

Gleichnisse spitzen alltägliche Geschichten zu, dramatisieren und entspannen, machen Schweres leicht und geben Leichtem Gewicht, vereinfachen Wirklichkeit, z.B. durch klare Unterscheidungen zwischen gut und böse, hässlich und schön, real und fiktiv, doch zugleich wird Wirklichkeit in ihnen komplexer, indem das Böse auch gut, das Hässliche schön und das Fiktive real ist. In Gleichnissen werden mehrdeutige und der begrifflichen Identifizierung entzogene Wahrnehmungsräume und Zeiterfahrungen erschlossen, in denen Einstellungen, Identifikationen und Erkenntnisse wechseln und sich dauernd verändern können. In dieser Form verweisen sie auf das Leben, dessen Buntheit und Fülle sie wahren. Jeder Film enthält das Versprechen ein solches "Gleichnis des Lebens" zu sein.

Daher ist jeder Kinobesuch von einer Neugierde begleitet, auch wenn die Enttäuschungen "wie im richtigen Leben" nicht ausbleiben. Denn ob der Film sein Versprechen einlöst, hat mit dem imaginären Potential des Films und des Publikums zu tun. Wo der eine ein Gleichnis seines Lebens in seiner Kultur entdeckt, ist für die andere die Geschichte und ihre Bilder ohne Geist und Sprache. Dies markiert nicht nur ein interkulturelles Problem, sondern betrifft bereits die intrakulturelle Rezeption.

Aber ohne Filmkunst in ihrer Gleichnisfähigkeit würde auch der populäre Erfolgsfilm ohne Innovation und Phantasie bleiben, so dass für den Filmmarkt das Laboratorium der Künstlerinnen und Künstler ein unverzichtbares Experimentierfeld ist.

Gleichnisse verlangen nach einer durchgestalteten Form, weil sie gerade durch ihre spezifische Formgebung über sich selbst hinausweisen wollen. Wie in den biblischen Gleichnissen sind Filme, die in der verdichteten Form des Gleichnisses uns begegnen, Medien der Offenbarung, aber keinesfalls die Offenbarung selbst.

In der Filmkunst wird das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft in ihrer Zeit phantasievoller, exakter, geistreicher und reflexiver präsentiert als im kommerziellen Erfolgsfilm. Das Verhältnis von Kunst- und Erfolgsfilm ist der Beziehung von Kreation und Konfektion in der Mode vergleichbar: jede Konfektion wird auf Dauer langweilig, wenn sie sich nicht mit neuen Ideen aus den Kreationen der Haute Couture speist. Das Überraschende und Skandalöse, das Anstößige und Sperrige, das zum Nachdenken über kulturelle Selbstverständlichkeiten anregt, verlangt auch formal und ästhetisch nach Wagemut und Kühnheit.

Aufmerksam und provoziert, begeistert und entsetzt wird ein Publikum nur dort, wo es im Kino seinen eigenen Augen nicht mehr traut. Gleichnisse lösen Irritationen aus, spielen mit dem Perspektivwechsel, stellen ungewöhnliche Bezüge und Konstellationen her und suchen nach neuen Wahrnehmungs-, Erkenntnis- und Glaubensformen. Und wenn Jesus das Reich Gottes in der Form des Gleichnisses ankündigt, dann geht es ihm um dieses Perspektivwechsel, um neue Horizonte menschlichen Glaubens, Hoffens, Liebens und Erkennens.

Im Gleichnis wird der Sämann zu einem genaueren Hinweis auf das Gottesreich als die begriffliche Abstraktion „Geschmack fürs Unendliche“. Gleichnisse sind konkret, anschaulich, sinnlich, kontext- und erfahrungsbezogen, während der Begriff der Religion eher eine Deutungshoheit reklamiert, die sich der schlichten existentiellen Frage „woran der Mensch glaubt“ entzieht. Im Gleichnis sind die Gegenwart und die Zukunft des Reiches Gottes eng miteinander verwoben: denn im Gleichnis geschieht bereits, was in Wirklichkeit noch aussteht. Hier ist Wirklichkeit, was real als Fiktion erscheint.

Gerade in den Alltagsgeschichten mit ihren überraschenden Wendungen entwirft Jesus die Perspektive des Reiches Gottes. Gerechtigkeit und Vergebung, Barmherzigkeit und Umkehr und das Vertrauen auf Gottes Schalom werden im Gleichnis aus verschiedenen Blickrichtungen erkennbar. Und der Verweis auf das Handeln Gottes verweigert die unmittelbare Identifikation seines Reiches mit den Hervorbringungen menschlichen Handelns. Das biblische Gleichnis will die Hörerinnen und Hörer ermutigen, in der alltäglichen Gegenwart bedeutsame Hinweise auf das Reich Gottes zu entdecken. Sie bedürfen dazu keiner besonderen religiösen Kompetenz und auch eine usurpatorische Deutung des Alltags als religiös ist im Gleichnis überflüssig. Die besondere Struktur der Szene verweist auf die besondere Verheißung Gottes. Die Wahrnehmung dieser Zeichen, in denen Gottes Reich inmitten der Welt als Gleichnis begegnet, geht dem Handeln voran. Deshalb kann der neugierige Glaube im Kino die Wahrnehmung solcher Gleichnisse entdecken, die ihre Qualität im Durchblick auf Gottes Wirklichkeit erweisen, die gerade nicht-religiös oder in einer besonderen Begriffssprache sich artikuliert.

An diesem strukturellen Zusammenhang zwischen Film und biblischer Botschaft in der Form des Gleichnisses setzt für mich der Dialog zwischen Theologie und Film an, wobei die Autonomie der Filmkunst eine konstitutive Voraussetzung für die Erfindung originärer Gleichnisse ist wie die Freiheit der Theologie bei der Interpretation biblischer Gleichnisse.

Ich suche nicht nach der religiösen Dimension in den Filmen, auch nicht nach der Adaption biblischer Geschichten und Gleichnisse in filmischer Darstellung, sondern weitaus aufregender und den Wahrnehmungshorizont von Theologie und Kirche produktiv erweiternd finde ich die Frage, was mir an gegenwärtigen "Gleichnissen des Lebens" im Kino erzählt wird und in welcher Form dies geschieht.

Und ich erfahre in den Filmen als Gleichnissen, welche Bedeutung die Angst und das sexuelle Begehren, die Gewalt und die Spielregeln der Macht, das Geld und die Schönheit, die Familie und die Liebe für die individuellen, sozialen, kulturellen, politischen und ökonomischen Bereiche unseres Lebens besitzen. Die Götter der Gegenwart, wie sie mir im Kino begegnen, sind in der Regel innerweltlich, säkular und zur Tarnung hängen sie sich gelegentlich auch ein religiöses Mäntelchen um.

Und im Kino gehen diese Geschichten ins Auge, indem mir zunächst eine nüchterne Distanzierung verweigert wird und ich selber auf unterschiedlichen Ebenen meiner Phantasie und meiner Gefühle an dem Geschehen auf der Leinwand beteiligt bin. In den Gleichnissen werde ich selber in die Geschichten hineingezogen, sie betreffen mich und fordern geradezu affektive Reaktionen.

Analog geht es mir im Kino. Die Filme laden ein, sich an den kulturellen, politischen und sozialen Selbstverständigungsprozessen der Gegenwart zu beteiligen. Nicht religiöse Deutung, sondern Geistesgegenwart ist gefragt.

Leider hat der Film als kulturelle Praxis im Dialog zwischen Kirche und Kultur eher periphere Bedeutung. Aber in den jüngeren Generationen wächst die Aufmerksamkeit für den Film, weil im Kino Gleichnisse des Glaubens entdeckt werden können, die zur Erweiterung der bisherigen Wahrnehmung beitragen. Theologen/Theologinnen gehen ins Kino, um den Milieus von religiösen oder moralischen Deutungshoheiten zu entkommen. Das Kino als Imaginationsraum wird zum Fluchtpunkt, an dem sie sehen und schweigen, sich überraschen lassen und voller Neugier und Lust Gleichnisse finden, die ihrem Glauben an den befreienden Gott Flügel verleihen. Auch die scheinbar allmächtige religiöse Deutungskompetenz können sie zu Hause lassen. Die Gabe des Sinnes, den Gott jedem Menschen versprochen hat, zeigt sich, so dass auch der Unsinn in Gestalt von Unrecht und Unfriede sichtbar wird. Weder die Filme noch das Publikum produzieren den Sinn, sondern gelungene Filme verweisen wie funktionierende Gleichnisse auf den Sinn, der nur geschenkt und umsonst zu haben ist. Sie müssen den Sinn nicht „machen“, sondern sie können ganz entspannt dem „stop making sense!“ vertrauen.

Anmerkungen

[1] Jakob Taubes, Vom Kult zur Kultur, S. 373, Hrsg. v. Aleida und Jan Assmann, München 1996

[2] Peter Schäfer, Die Geburt des Judentums aus dem Geist des Christentums, Tübingen 2010

[3] Daniel Boyarin, Borderlines, The Partition of Judaeo-Christianity, Philadelphia 2004

[4] Boyarin, a.a.O., S. 224

[5] Karl Barth, Kirchliche Dogmatik Bd. II/1, S. 337

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/86/wsq3.htm
© Werner Schneider-Quindeau:, 2013