Paradigmen theologischen Denkens II


Heft 84 | Home | Heft 1-83 | Newsletter | Impressum und Datenschutz

Auschwitz-Oper

Über Mieczyslaw Weinbergs Oper „Die Passagierin“

Wolfgang Vögele

1. Im Jahr 1968 nach Auschwitz

Eine vergessene Oper über Auschwitz? Man könnte die Augenbraue hochziehen und die Stirn runzeln. Wer im Kopf noch einen kleinen Rest an Achtundsechziger-Bewusstsein gespeichert hat, dem kommt ein apodiktischer Satz Theodor W. Adornos in den Sinn. Der schrieb, allerdings schon 1951, in seinem Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“ Das war ein vieldeutiger Satz, den Adorno selbst später relativierte und uminterpretierte. Denn was war mit Gedichten gemeint? Jedes Gedicht? Gedichte über Auschwitz? Oder standen Gedichte für die gesamte Kultur?

Hier ist nicht von einem Gedicht, sondern von einer Oper zu erzählen. Die Oper wurde nach Auschwitz geschrieben und erzählt von diesem Konzentrationslager. Mieczyslaw Weinbergs wieder entdeckte Oper „Die Passagierin“ stammt aus dem Jahr 1968. Es ist nicht bekannt, ob der polnisch-jüdische Komponist Adornos Diktum kannte, als er in der Sowjetunion an dieser Oper schrieb. Das Jahr 1968 markiert einen bestimmten Stand in der europäischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust, in der Zeit des Kalten Krieges und der Studentenbewegung. Im Jahr 1968 endeten die sog. Auschwitz-Prozesse mit der Verurteilung einer Reihe von Aufseherinnen und Aufsehern. Die Majdanek-Prozesse sollten erst sieben Jahre später beginnen.

Viele wegweisende Filme, Bücher und Serien, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzten, waren damals noch gar nicht erschienen. Die amerikanische Fernsehserie „Holocaust“ wurde zum ersten Mal 1978 gesendet. Steven Spielbergs Film „Schindlers Liste“ wurde im Jahr 1993 zum ersten Mal in den Kinos gezeigt. Bernhard Schlinks Bestseller „Die Vorleserin“, der vom Sujet her mit der „Passagierin“ entfernt verwandt ist, erschien im Jahr 1995. Martin Walser hielt im Jahr 1998 seine Rede aus Anlass der Verleihung des Friedenspreises. Er provozierte damit einen Skandal, dass er sich mit dem Verhältnis der Bundesrepublik zum Holocaust auseinandersetzte. Weitere Wegmarken dieser Auseinandersetzung mit dem Holocaust wären ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu nennen, Bücher von Raoul Hillberg und Eugen Kogon, die Filme von Claude Lanzmann, die Erzählungen Elie Wiesels, das Tagebuch der Anne Frank, die Romane von Primo Levi, um nur eine unvollständige Auswahl zu präsentieren, von geschichtswissenschaftlichen, soziologischen, philosophischen und theologischen Arbeiten ganz zu schweigen.

Weinbergs Oper schließt an diese Arbeiten nicht an, sondern sie springt in eine frühe Phase der Auseinandersetzung zurück. Jetzt erst wird die Oper wieder entdeckt. 2010 wurde sie bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt. Im Sommer 2013 war sie in Karlsruhe im Badischen Staatstheater zu sehen, und das Staatstheater wird sie in der nächsten Spielzeit wieder aufnehmen. Sie gehört in die Frühzeit der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ein vergessenes Kunstwerk eines beinahe unbekannten Komponisten, der allenfalls Fachleuten als Freund und Epigone Schostakowitschs bekannt war.

Eine Oper als Medium der Auseinandersetzung mit dem Grauen des Holocaust unterscheidet sich auch von Film, Sachbuch, Roman, Gedicht, Interview. Und es ist die Frage zu stellen: Gehört die Auseinandersetzung über Auschwitz und den Holocaust in ein Opernhaus?

Weinberg hätte diese Frage bejaht, sonst hätte er seine zu Lebzeiten nie gespielte Oper nicht geschrieben. Er hätte auch das apodiktische Diktum Adornos verneint. Die Facetten der späteren europäischen, nicht nur deutschen Auseinandersetzung mit dem Thema konnte er nicht kennen. An Weinberg ist zu lernen, wie er sich dem Nebeneinander von Kultur und Grauen stellte, dem Nebeneinander von Bachs Chaconne und Selektion an der Rampe.

2. Der Komponist und seine Oper

Mieczyslaw Weinberg wurde am 8.Dezember 1919 in Warschau geboren. Er war polnischer Jude, aber seine Familie war nicht religiös. 1941 floh er vor den Deutschen in die Sowjetunion, wo er sich mit Dimitrij Schostakowitsch befreundete. Weinberg schrieb im Laufe seines Komponisten-Lebens 22 Symphonien, 16 Streichquartette und 7 Opern, wovon die „Passagierin“ die erste ist. Eine Aufführung dieser Oper hat Weinberg zu seinen Lebzeiten nie gehört. Er starb am 16.Februar 1996. Der Librettist konnte wenigstens die konzertante Uraufführung der Oper noch hören und löste damit ein Versprechen ein, das er Weinberg gegeben hatte. Die polnische Schriftstellerin, welche das Hörspiel und die Romanvorlage für die Oper schrieb, besuchte mit fast neunzig Jahren die Premiere der Karlsruher Aufführung und wurde vom Publikum mit standing ovations bedacht.

In Karlsruhe ist die Bühne mit einem glänzenden, spiegelnden Boden ausgelegt. Nach dem vorderen flachen Viertel steigt ein Podest nach hinten leicht an. Zu Beginn stellen sich die Sängerinnen und Sänger des Chors auf. Auf die hintere Bühnenwand wird die ganze Zeit der schweifende Rauch einer Zigarette projiziert. Die Oper spielt auf einem Passagierdampfer, der in den fünfziger Jahren von Deutschland nach Brasilien übersetzt. An Bord befindet sich Lisa, die frühere KZ-Aufseherin, zusammen mit ihrem Mann, dem zukünftigen deutschen Botschafter in Brasilien. Der Ehemann weiß nichts von der Vergangenheit seiner Frau. Unter den übrigen Passagieren entdeckt Lisa eine unbekannte Frau, die bei ihr den Schock von Erinnerungen auslöst. Sie bringt in Erfahrung, dass die Unbekannte eine Engländerin ist, aber polnische Bücher liest. Lisa gesteht ihrem Mann, dass sie im Krieg in Auschwitz als Aufseherin gearbeitet hat. Die fremde Passagierin ist Martha, eine frühere Gefangene in Auschwitz. Sie gehörte zu der Gruppe von Insassen, die unter Lisas Aufsicht standen.

Die Szene verwandelt sich nun in das Konzentrationslager. Aus unbeteiligten Passagieren werden Aufseher und Insassen. Die Vergangenheit ist wieder in der Gegenwart des Schiffes angelangt. Die Aufseherin Lisa entscheidet, wer arbeiten muss und wer für die Gaskammer bestimmt ist. Martha hilft, wo sie irgend kann, ihren Mitgefangenen. Sie ist mit dem ebenfalls inhaftierten Geiger Tadeusz verlobt, der sich im Männerlager aufhält. Die beiden tauschen verbotenerweise Zettel aus. Und sie treffen sich mit Billigung Lisas, als Tadeusz eine wertvolle Geige abholen muss. Er soll für den Lagerkommandanten dessen Lieblingswalzer spielen. Tadeusz und Marta umarmen und küssen sich.

Ehe Tadeusz auf der Geige spielen kann, verwandelt sich die Szene wieder in die Gegenwart des Passagierdampfers. Die Passagiere tanzen im Ballsaal. Lisa hat Angst, denn sie ist sich nun sicher, dass es sich bei der unbekannten Passagierin um die frühere KZ-Gefangene Marta handelt. Als diese ihr geschorenes Haar zeigt, ist alles klar, obwohl Lisa Marta damals in den Bunker geschickt hatte, was einem sicheren Todesurteil gleichkam.

Die Kapelle auf dem Schiff spielt, aber eben keinen Walzer, sondern die berühmte Chaconne aus Bachs Partita für Violine solo, gemeinsam von den Streichern unisono musiziert.

Am Ende, in der letzten Szene singt Martha davon, dass Vergebung angesichts all der Toten in den Zellen, Bunkern, Gaskammern niemals möglich sein kann. Trotzdem reicht sie Lisa, die vor ihr kniet, die Hand.

Es ist eine der Besonderheiten der Karlsruher Aufführung, dass alle Rollen in der Originalsprache gesungen werden: Lisa und die anderen Aufseher singen auf Deutsch, Martha und Tadeusz auf Polnisch, weitere Gefangene auf Russisch und Französisch.

Die Bühne bleibt meist dunkel, nur die einzelnen Personen und Gruppen werden beleuchtet. Viel Wirkung entsteht durch den spiegelnden Boden und durch eine Reihe halb transparenter Schiebetüren, die immer wieder auf die Bühne geschoben werden, um den vorderen Bühnenraum abzuteilen. Am Ende, während Martha im Vordergrund über Vergebung und Erinnerung singt, hält der Chor, halb verdeckt hinter den Türen, brennende Kerzen in der Hand.

3. Lager-Madonna

Von Weinbergs Oper bleiben vor allem die Solo-Szenen mit der gefangenen Marta in Erinnerung. In Karlsruhe singt diese Rolle ganz hervorragend die polnische Sopranistin Barbara Dobrzanska. Wenn Marta allein und für sich singt, wechselt der Charakter der Musik vom rhythmisch prägnanten Ton der Aufseher- und KZ-Welt in eine melancholische, sehnsüchtige Stimmung. In einer geradezu mystischen Szene zwingt Tadeusz die Aufseher und SS-Schergen dazu, Marta als „Lager-Madonna“ zu verehren. Dafür erhält sie den blauen Umhang der Maria, den sie sich über den Kopf und um die Schultern legt. Hinter ihr senkt sich ein Strahlenkranz aus Neonleuchten auf den Boden. Martha sieht nun aus wie eine Heilige aus der traditionellen polnischen Volksfrömmigkeit. Sie singt von ihrer Liebe zum Verlobten Tadeusz.

Die gesamte Oper lebt von diesem Gegensatz zwischen individueller, beinahe mystischer Versenkung und den Massenszenen der Gewalt im Konzentrationslager und den Tanzszenen auf dem Dampfer.

Marthas Gegenpart Lisa ist nun nicht die gnadenlos gewalttätige Aufseherin. Sie sucht nach Ausnahmen von der vollständigen Unbarmherzigkeit ihrer Vorgesetzten. So erlaubt sie Tadeusz und Martha ein heimliches Rendezvous. Sie will auch eine zweite Begegnung erlauben, zieht diese Erlaubnis aber wieder zurück, als sie merkt, dass sie sich damit nicht die Gunst der beiden Gefangenen erkaufen kann. Denn denen ist die Solidarität mit den Mitgefangenen wichtiger als die Anbiederung im Herrschaftssystem des Lagers. Auch später, nach der Lagerzeit, auf dem Dampfer ist keine Versöhnung möglich. Zu mächtig und schwerwiegend bleiben die Gedanken an die Ermordeten. Und am Ende singt Marta von der Erinnerung an die Ermordeten und Gefolterten. Ihnen ist sie es schuldig, dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden.

4. Passagen-Orte: Schiff und Lager

Vor allem die Übergänge zwischen den Schiffs- und den Lagerszenen sind in der Karlsruher Inszenierung hervorragend gelöst. Aus den Passagierinnen werden KZ-Aufseherinnen, indem sie zur dunklen Kleidung Stiefel anziehen und einen Uniformgürtel umschnallen. Aus anderen Passagieren werden KZ-Gefangene, indem sie Schuhe und Jacken ausziehen. Alle Passagiere/Insassen tragen Koffer auf die Bühne und wieder herunter. Die Koffer bleiben dann im Ankunftsraum von Auschwitz nach der „Selektion“ zurück. Gefangene sortieren und sammeln später, was noch zu gebrauchen ist. Aber Koffer gehören ganz selbstverständlich auf den Luxusliner: Stewards bringen das Gepäck in die Kabinen.

Der Dampfer ist ein Symbol des Übergangs, des Transfers und der Passage. Er ist auf dem Weg nach Brasilien, weg vom durch den Krieg traumatisierten Europa, vor allem weg aus Deutschland. Diesen Weg suchen beide, die Täterin Lisa und das Opfer, die zuvor gefangene Marta. Die Vergangenheit tragen beide mit sich herum, darum verwandelt sich auch das Schiff so schnell wieder in ein Lager, wie in einer Traumsequenz. Dabei bleibt die Inszenierung in vielem bewusst vage und unbestimmt. Ihr Anliegen ist nicht die dokumentarische Prägnanz. Weder sind das Schiff noch das Lager als solches zu erkennen. Es fehlen Schornsteine, Kabinen, eine Reling und Offiziersuniformen; es fehlen genauso Stacheldraht, Baracken, Wachtürme und Armbinden mit SS-Runen. Das Grauen braucht keine Dokumentation. Es findet in der Erinnerung statt.

Opfer und Täterin bleiben aneinander gefesselt. Der Schrecken der Erinnerung wird zu einem anhaltenden, untoten Leben erweckt. Das Schiff kommt gar nicht voran auf seiner Reise nach Brasilien. Der Botschafter muss seiner Frau wegen auf seine Karriere verzichten. Seine „Botschaft“ will keiner mehr hören

5. Erinnerung statt Dokumentation

In einem juristischen Prozess sammeln Ankläger und Verteidiger Fakten, um die Anklage zu beweisen oder zu widerlegen. An seinem Ende steht ein Urteil, das dem Beklagten Verantwortung zurechnet und ihn haftbar macht. An den Majdanek- und Auschwitzprozessen, auch im Prozess gegen Adolf Eichmann konnte man lernen, wie schwierig und mühsam die Überführung der Täter sein konnte. Romane und Erzählungen, welche Konzentrationslager und Holocaust beschreiben, schlagen eine Schneise des Persönlichen und Biographischen in die politische Geschichte des nationalsozialistischen Terrors. Die Lebensgeschichte eines einzelnen, einer Familie oder einer Gruppe wird zur exemplarischen Auseinandersetzung. Letzteres nimmt Weinberg in seiner Oper auf, aber anders als dem Schriftsteller ist er unter den Vorbedingungen der Oper, des musikalischen Schauspiels nochmals zu einem Prozess der Konzentration, der Verdichtung gezwungen. Und Weinberg trifft in diesem Prozess der Konzentration auch psychologisch einen richtigen Punkt: Erinnerung geschieht weder linear noch chronologisch. Sie macht sich an Ereignissen der Gegenwart fest, und sie kommt demjenigen, der sich erinnert, sprunghaft und plötzlich in den Sinn. Lisa, die sich auf ein völlig anderes Leben in Brasilien vorbereitet, sieht die fremde Passagierin, die in ihr die alten Erinnerungen auslöst. Zuerst bleibt die Erinnerung ein Schock, unklar und konturlos, sie weckt nur einen Verdacht, der Lisa erstmals zu einem Geständnis gegenüber ihrem Ehemann, dem Botschafter herausfordert. Danach erst stellt sich auf dem Dampfer die verdrängte Erinnerungswelt des Lagers wieder ein: die Vergangenheit, die nicht vergehen will, weil sie nicht vergessen werden kann. Paradoxerweise kommen in dieser gleichzeitigen Erinnerung Täterin und Opfer auf demselben Dampfer zusammen, wenn auch aus unterschiedlichen psychologischen Perspektiven. Lisa will in die neue brasilianische Welt aufbrechen und wird von der Vergangenheit eingeholt. Was Marta, die Überlebende, sich in Brasilien erhofft, wird nicht gesagt. Aber die Schlussszene zeigt, dass sie unter einem moralischen Imperativ steht: Sie schuldet es ihren Mitgefangenen, diese nicht zu vergessen. Sie schuldet ihnen die Erinnerung. Diese ist der letzte Akt der Menschlichkeit, den Marta für ihre gequälten und verstorbenen Mitgefangenen leisten kann. Sie erzählt von ihnen, um ihre Geschichte nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Insofern ist die für die Oper zentrale Begegnung zwischen der Aufseherin und dem Opfer die Darstellung einer Gefangenschaft. Täter und Opfer können sich auf dem beengten und begrenzten Feld des Dampfers nicht ausweichen und nicht ignorieren. Das ist der symbolische Ausdruck dessen, dass beide an die Vergangenheit gekettet sind. Weder ein Ausweichen noch ein Ignorieren noch eine Flucht in die Zukunft sind möglich.

6. Chaconne, Volks- und Liebeslied

Am Ende verweigert Marta die Versöhnung, weil sie das Leid der Toten nicht vergessen kann. Trotzdem tauchen in den Lagerszenen immer wieder Momente des Innehaltens auf, die das absolute Grauen des Lagers mindestens ein wenig abmildern: Martas Hilfe für ihre Mitgefangenen, die Kassiber mit den Nachrichten von der vorrückenden sowjetischen Armee, die das Lager befreien wird, Martas Liebe zu ihrem Verlobten Tadeusz. Dazu kommt an mindestens zwei Stellen ein musikalischer Kontrapunkt. Zum einen spielt der Geiger Tadeusz Bachs Chaconne vor dem Lagerkommandanten, zum anderen singt eine Mitgefangene Marthas ein russisches Volkslied. Diesem Volkslied kommt in der Oper eine wichtige Funktion zu:

„Du, mein Tal, du mein Tal, grenzenlose Weite.
Was ist auf dem Feld, in dem Tal alles nicht gewachsen,
keine Pilze und Früchte, nicht Johannisbeeren,
nur ein kleiner Hain, ein kleiner grüner Hain.
Hinter diesem Hain graut schon früh der Morgen,
graut schon früh der Morgen, rollt hervor die Sonne.
Scheint die Wintersonne, wärmt nicht so wie im Sommer,
liebt mein Liebster, Liebster, liebt mich nicht wie früher...“

In der Oper wird das im originalen Russisch gesungen. Weinberg hat den Mut, dieses Volkslied gegen die Lagerwirklichkeit zu stellen, und in seiner Traurigkeit evoziert es die Welt vor dem Lager, das Idyll, in dem weder Krieg noch Vernichtung vorstellbar waren. So furchtbar es klingen mag und so abgegriffen das Lied sein mag, selbst in der Wirklichkeit des Lagers spendet es noch Trost.

Noch deutlicher wird das in einem Lied, das Marta singt. Dieses Lied nach einem Gedicht des ungarischen Schriftstellers Sándor Petöfi geht weit über Naturlyrik hinaus. In diesem Lied träumt ein lyrisches Ich. Es stellt sich vor, dass Gott danach fragt, wie es sterben will. Das weibliche Ich will in der Umarmung mit dem Geliebten sterben. Und wenn das nicht möglich ist, dann bitte im Frühling, ja im Krieg. Wie die Naturlyrik des russischen Volksliedes verwandelt sich auch das ungarische Liebesgedicht im Lager in einen Akt des Widerstands. Das Lied ruft eine Welt in Erinnerung, die das Lager widerlegt und vergessen machen will.

Am weitesten treibt Weinberg den (internen) Widerspruch gegen das Lager mit Bachs Chaconne. Diese besitzt im Gegensatz zu den beiden Gedichten keinen Text. Bachs Musik transportiert auch keine Botschaft, und dennoch wird sie im Kontext des Lagers/Schiffes zu einem der stärksten (Ausrufe-)Zeichen der ganzen Oper. Denn damit treibt Weinberg den Gegensatz zwischen Lagerwelt und europäischer Kultur auf den Höhepunkt seiner Unvereinbarkeit.

7. Volksfrömmigkeit und Versöhnung

In der Karlsruher Inszenierung wird Marta mehrfach zur Madonna: Sie legt sich den blauen Umhang um und stellt sich hinein in den Heiligenschein aus Neonleuchten. Aber damit wird sie weder zur Heiligen noch zur Wiedergängerin der Mutter Gottes. Wenn überhaupt, dann besteht die Heiligkeit Marta-Marias darin, dass sie ihren Mitgefangenen hilft. Und dieser Einsatz bricht mit dem Tod der Mitgefangenen und der bevorstehenden Befreiung des Lagers nicht ab. Marta bleibt eine Heilige der Menschlichkeit. Am Ende stellt sie in einem letzten Monolog sicher, dass ihre Hilfe sich fortsetzt. Sie weigert sich standhaft, die gequälten und ermordeten Menschen des Lagers zu vergessen:

„Marta: (…) Und ihr, meine Freunde, seid auch bei mir.
In mir sind eure Herzen, eure Tränen und euer Lächeln, in mir ist eure Liebe.
Ich weiß ja, weiß es: Wenn eines Tages eure Stimmen... verhallt sind,
die Stimmen verhallt sind, dann gehen wir zugrunde.
Ich hör’s noch: 'Keine Vergebung – niemals.'
Katja, Katjuscha... und du Vlasta... Hannah... Yvette... Und du, mein Tadeusz.
Ich werde euch, werde euch nie und nimmer vergessen...“

An dieser Schlusspassage fällt auf: Die getöteten Mitgefangenen bleiben im Gedächtnis der überlebenden Opfer lebendig. Es findet eine Art Übertragung statt. Wie eine Botschafterin und Freundin nimmt Marta die Erinnerung an die Verstorbenen auf. Daraus schöpft sie ihre Kraft und wird damit zur (politischen) Prophetin der Vergangenheit in der Gegenwart. Prophetin deshalb, weil sie gegen die grassierende Vergesslichkeit und Gleichgültigkeit angeht. Die Versöhnung, die gedanklich ins Blickfeld rückt, kann nicht billig sein. Die Erinnerung gilt jeder einzelnen Mitgefangenen, die mit ihrem Namen genannt werden. Nicht die Zahl der Toten ist wichtig, sondern die Erinnerung an ihre Lebensgeschichte. Und all das steht unter dem Gebot, nicht zu vergessen. Man kann das mit den Ohren des Theologen hören, aber weder das Libretto noch die Inszenierung gehen den Schritt hinüber, etwa zu einer politischen Theologie des Leidens (memoria passionis), wie sie Johann Baptist Metz entwickelt hat.

8. Oper über Auschwitz - Oper nach Auschwitz

Weinbergs Oper gehört in die Frühzeit des kulturellen Nachdenkens über Auschwitz, obwohl sie erst jetzt, nach einer langen Zeit der schwierigen Auseinandersetzung mit Auschwitz wieder aufgeführt wird. Das begründet den Überraschungseffekt, den sie beim Zuschauer auslöst. Weinbergs Oper lässt sich als ein Kommentar zu Adornos Diktum lesen. Sie stellt in konzentrierter Weise drei Gleichzeitigkeiten nebeneinander: diejenige von Grauen und Kultur, diejenige von Vergessen und Erinnerung und zuletzt diejenige von Ignorieren und Versöhnung.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/84/wv04.htm
© Wolfgang Vögele, 2013