UNTER DEN REIFEN LIEGT DIE STADT

Stichworte / Telegramm zum Thema Stadt

Barbara Wucherer-Staar

Thomas Bayerle lässt „Continental City“ auf den Betrachter zurollen - einen großen Autoreifen, dessen Profil er aus fein gezeichneten Straßenzügen und Häuserblöcken zusammensetzt. Gleich daneben hängt ein Spielzeug: ein Autobahnabschnitt mit Autos; ein humorvoller und zugleich kritischer Blick auf den vom Verkehr strukturierten Städtebau.

Wie schnell der künstlerische Blick auf die Stadt - und auch das Phänomen Stadt selbst - sich seit den 1920er Jahren bis heute über Kontinente hinweg verändert hat, das zeigt eine einfallsreiche, klug konzipierte Schau im Museum Ostwall im Dortmunder U. Auf 1000 qm finden sich rund 260 differenzierte Szenerien von etwa 70 Künstlern, weltweit zusammengetragen aus den Niederlassungen der Sammlung Deutsche Bank, die ein Konvolut von mehr als 60.000 Arbeiten auf Papier umfasst. Sie erschließen ein anregendes Panorama, eine facettenreich zusammengesetzte Metropole, durch die man staunend, vergnügt oder auch aufgeschreckt kreuz und quer flanieren kann. Dafür gibt es einen speziellen, thematischen Stadtplan: Stadtleben - Makro / Mikro - Orte - Zeichen - Transformationsprozesse - Ästhetisierung und Utopie.

Vor allem Fotografien aber auch Zeichnungen, Gemälde, Collagen und Video weisen hin auf Idylle und Elend, rasantes Tempo ebenso wie Entschleunigung und Anonymität - fröhlich, kritisch, aber auch Perspektiven aufzeigend; viele Arbeiten passen in mehrere Themenbereiche. Ihre speziellen Blicke, so Museumsleiter Kurt Wettengl, zeigen viele „ … Möglichkeiten, diesen vom Menschen immer wieder den Lebensbedürfnissen angepassten Raum wahrzunehmen.“

Gerade für jüngere Künstler sei „Stadt“ ein Experimentierfeld, auf dem weitergedacht werde. Mit unterschiedlichen, eigenwilligen künstlerischen Strategien sind sie genaue Beobachter und nur scheinbar absichtslose Flaneure, bestätigen oder stellen in Frage, was bereits von Bauhaus-Architekten kritisiert wird: dass wirtschaftliche und industrielle Forderungen über menschlichen Grundbedürfnissen stehen. Dies steht im Gegensatz zu dem Werbebild des Stadtmarketings um internationale Investoren und qualifizierte Arbeitskräfte. Besucher sollen angeregt werden, sich selbst mit der Zukunft der Städte auseinander zu setzen, die einen immer größeren Zulauf erhalten. Macht Stadtluft wirklich frei?

Eingangs werden die sich spiegelnden Besucher einbezogen in die sich teilweise ineinander spiegelnden Fotografien des Schweizers Beat Streuli. So entstehen Sichtdialoge mit einem Farbigen im Geschäftsanzug (aus New York) und einer Mutter mit Kind in einer belebten Straße (in Martinique). Von da an erschließt sich eine eigenwillige, klug und ideenreich konzipierte, hochkarätige Schau: Vorbei an einer Wand mit 300 Familienbildern: Frauen in traditioneller Kleidung, zur Pyramide übereinanderstehende Turner und anderen Szenen (Vox Populi Tokyo, 2007) der niederländischen Fotografin Fiona Tan, verweilend bei den „Roaring Twenties“: fast könnte man mit einer jungen Frau über eine Pfütze springen, so genau hat der Fotograf Friedrich Seidenstücker den Sprung abgepasst. Kritsch, satirisch sind dagegen Otto Dix´ Studie des Sittenverfalls zum Triptychon Großstadtleben oder George Grosz´ Bürger, Damen und Militär, einer Ansammlung von Menschen im Kaffeehaus.

Die Schnappschüsse Girls in Cars von Shirin Aliabadi erfassen fröhliche junge Frauen mit Kopftuch bei einer nächtlichen Autofahrt - ist hier einer der wenigen Freiräume in einer iranischen Stadt, wo Frauen feiern dürfen? Nan Goldin gewährt Einblick in den privaten Bereich von Familie, von Freunden und von alternativer Kultur.

Orte

Ein Schwerpunkt liegt auf dem Ruhrgebiet, der „Kulturhauptstadt 2010“. Mit der Ablösung der Kohle durch Öl setzt in den 50ern die Schließung von Zechen ein. Die Strukturen der Lebensräume ändern sich. Halden werden begrünt oder von der Natur zurückerobert, Hallen für Kulturzwecke genutzt. Doch die Städte schrumpfen, die Finanzlage ist angespannt.

Zur regionalen Erinnerung zählen Josef Albers´ Lithographien Aus der Serie Arbeiterhäuser (1917) ebenso wie die weltbekannten Konzept- und Dokumentarfotografien von Industriebauten Bernd und Hilla Bechers. Für ein vergleichendes Sehen („Industrie ist Kunst“) reihten sie unter anderem die Arbeiter-Fachwerkhäuser im Siegerland aneinander.

Bedeutet Industrie heute noch Fortschritt? Kirchners leuchtende, expressionistische Chemnitzer Fabriken hängen gleich neben der konzeptuellen Fotografie eines unzugänglichen Modells einer anonymen Fabrik (1994) von Thomas Demand. Günther Förgs IG-Farben-Haus (1996) dokumentiert den Repräsentationsbau wirtschaftlicher und politischer Macht, der unterschiedliche Bewohner und Bedeutungen hatte: 1930 als Firmensitz der IG-Farben bezogen, die Zyklon B für Ausschwitz produzierte, unter General Eisenhauer als Headquarter der Amerikaner genutzt.

Thomas Schütte lässt rätseln - ist Fifteen Monuments ein erotisches Denkmal für einen Lippenstift oder ein Symbol für anonyme Hochhausarchitektur?

Zukunft oder Alptraum Megacitiy?

Die wandfüllende Nachtaufnahme Wall Paper Installation (Dream Villa 11), eine prachtvoll beleuchtete Metropole ist für die Inderin Dayanita Singh ein Symbol ihrer eigenen sozialen und künstlerischen Freiheit. Berenice Abbott blickt durch einen schmalen Spalt tief hinunter auf eine geschäftige Wall Street Area (1936), für sie ist „das Tempo der Metropole … eines des schwindenden Augenblicks.“ Thomas Struth zeigt New Yorker Straßenschluchten menschenleer - die Gebäude von Nassau Street New York / Wall Street verweisen wie Kulissen auf gesellschaftliche und kulturelle Situationen. Der Betrachter selbst kann darin alte Filme Revue passieren lassen. Ebenso leergefegt ist Wim Wenders viereinhalb Meter breite Fotografie Ladenfassade aus Butte, Montana (2000). Andreas Gursky sortiert auf 186 x 256 cm die Stockwerke und Flure des Hyatt-Hotels Atlanta in Atlanta wie ein kleinteiliges Regal um einen Lichthof. Vereinzelt akzentuieren Zimmermädchen das Ornament.

Mehr als eine Ästhetisierung vertrauter Stadtteile sind Thomas Ruffs Nachtphotos (1993) für alle, die wissen, dass seine Aufnahmetechnik von Kamera und Nachtsichtgerät auch für die Berichterstattung über den Golfkrieg verwendet wurde.

Wie attraktiv sind Innenstädte?

Es finden sich kuriose „Unorte“ wie ein Kreisverkehr, der nur halb bepflanzt wurde oder Palmen am Straßenrand (Brigitte Bauer). Larissa Fasslers 'Er-Örterungen' über das Ereignis Stadt sind lesbar: auf Collagen aus Plakaten, Warnhinweisen, Verkehrsschildern, z.B. Regent Street Reents Park (Dickens thought it looked like a racetrack, 2009).

Roger Moore, Helmut Kohl oder Colin Powell heißen U-Bahnhaltestellen, wenn Simon Patterson sie auf einen Londoner U-Bahnplan neu notiert. Die Bilder 6 Piccadillies scheinen austauschbar, wenn Dieter Roth ein und dieselbe Ansicht des Londoner Platzes in unterschiedlichen Varianten malt.

Was bleibt?

Vielleicht werden Utopien gebaut, wie die nach Entwürfen des Architekten und Designers Richard Buckminster Fuller für eine nach biomorphen Gesetzmäßigkeiten konzipierte Unterwasserstadt mit geodätischen Kuppeln (den so genannten Domes).

Mit ihrer eindrucksvollen und poetischen schwarz-weiß- Serie Demolished (1996) macht die Turnerpreisträgerin Rachel Whiteread auf eines aufmerksam: wenn Hochhäuser und kleine Cafés gesprengt werden verschwinden auch Lebensgeschichten verschwinden.

Stadt in Sicht. Werke aus der Sammlung Deutsche Bank. Von Feininger bis Gursky, Museum am Ostwall im Dortmunder U, 20.4. - 4.8. 2013, www.museumostwall.dortmund.de

Weitere „Stadtblicke“ finden sich in: Kunstmuseum Mülheim/Ruhr (Hrsg.), Schauplatz Stadt, Gemälde, Zeichnungen, Installationen von der klassischen Moderne bis zur Gegenwart, Ausstellungskatalog 2013, Ausstellung bis 2. Juni 2013

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/83/bws12.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2013