Melancholia oder: Die Kirche im Dorf

Dokumentation des Kirchbautages 2011 in Rostock

Andreas Mertin

Thomas Erne (Hg.): Kirchbautag Rostock 2011: Kirchenraum - Freiraum - Hoffnungsraum, Marburg 2012
Klappentext: „Der 27. Evangelische Kirchbautag in Rostock hatte die Dorfkirchen in Mecklenburg zum Thema. Ein großer konfliktreicher Strukturwandel kündigt sich in Europas Regionen an. Welche Rolle spielen Dorfkirchen bei diesem Strukturwandel? Dorfkirchen sind ein starkes Motiv für bürgerschaftliches Engagement. Die Erhaltung der Dorfkirchen schafft Freiräume und Hoffnungsräume, die für das Überleben einer Region wichtig sind. Dazu muss die Kirche die Herzen der Menschen gewinnen. Wenn ihr das wie in Mecklenburg gelingt, braucht sie sich um die Erhaltung der Kirchen keine Sorgen zu machen.“


Die Zeit der bedeutenden, weil die Gegenwart verändernden Kirchbautage ist lange vorbei. Heute wird nicht mehr neu gebaut, allenfalls umgebaut, umgenutzt oder eben erhalten. Das gibt den Kirchbautagen der letzten Zeit ihren wehmütigen, ja melancholischen Duktus. Da ist viel von erhaltenswerter Bausubstanz und bedenkenswerter Geschichte die Rede, davon, was verloren geht, wenn es nicht auf die eine oder andere Art bewahrt oder in wechselnden Allianzen restituiert wird. Und vielleicht gar nicht so überraschend zeigen sich dieser melancholischen Programmatik nicht nur jene verpflichtet, die von den großen Zeiten der Institution Kirche träumen, sondern auch jene, die mit dieser Institution gar nichts anfangen können oder wollen: die Atheisten und Ausgetretenen zum Beispiel. Auch sie wollen die ‚Kirche im Dorf‘ lassen, weil sie zur historischen Identitätsstiftung hinzugehört. Wenn schon alles andere sich wandelt, dann soll doch bitte schön das Ewige Bestand haben, auch wenn man nicht daran glaubt. Sonst geht vielleicht noch der letzte Ankerpunkt des Dorfes verloren. Wenn schon nicht mehr die Bahnhöfe oder Feuerwehrhäuser wie zum Ende des 19. Jahrhunderts aussehen wie Kirchen, dann müssen diese eben selbst wieder zu sinnstiftenden Zeichen im Dorf werden.

Bausatz Pola: Dorfkirche mit Friedhof[1]

Es gehört zu den faszinierenden Beobachtungen der Kultur der Neuen Bundesländer, dass dieses Phänomen der so genannten Hybridität fröhliche Urstände feiert. Was früher die Dorfeiche oder der Dorfanger war, ist nun die Dorfkirche, die quasi im Gemeinbesitz von allen Bewohnern des Dorfes mit unterschiedlichen Interessen genutzt werden kann. Und inmitten der Orientierungslosigkeit der Gegenwart ragt die Dorfkirche dann hervor wie einst der Ararat aus der Sintflut. Das wusste schon Theodor Fontane Ende des 19. Jahrhunderts, wenn er in „Die Poggenpuhls“ schreibt:

„Als ich noch in Berlin bei »Alexander« stand, war ich mal auf Besuch in einer benachbarten Dorfkirche, drin viele Bilder waren, auch eine Sündflut. Und aus der Sündflut ragte nicht bloß, wie gewöhnlich, der Berg Ararat mit der Arche hervor, nein, neben dem Ararat befand sich auch noch in geringer Entfernung ein zweiter Berg, und auf diesem zweiten Berge stand eine Kirche. Und diese Kirche war genau die kleine märkische Dorfkirche mit einem Laternenturm und sogar einem Blitzableiter, in der wir uns in jenem Augenblick gerade befanden.“[2]  

Und genau das legt der erzählende Onkel der Malerin, an die er sich gerade wendet, zur Nachahmung nahe. Das Interessante an Fontanes Schilderung ist, dass schon bei ihm der malerisch ausgedrückte Anspruch, eine Dorfkirche wie den Berg Ararat als herausragendes Zeichen zu charakterisieren, höchst ironisch als Hybris bzw. als Merkmal einer überholten Zeit kenntlich wird.

Kirchenraum – Freiraum - Hoffnungsraum

Der Dokumentationsband zum Rostocker Kirchbautag 2011 gliedert sich in drei Doppelkapitel mit den leitenden Stichworten „Kirchenraum – Freiraum – Hoffnungsraum“.

Unter dem Stichwort „Kirchenraum“ findet sich zunächst das obligate Selbstlob in Form der Würdigung der Preisträger des Wettbewerbs der Stiftung KiBa für innovative Modelle der Nutzungserweiterung von Kirchengebäuden. [Ich hoffe, es gibt irgendwann einmal auch ein Analogon zu entsprechenden kritischen Preisen in der Populärkultur, nämlich eine Goldene Himbeere für schlechte Beispiele. Auch daraus kann man viel lernen.] Bereichernd und erhellend dagegen der Vortrag von Christine Johannsen zum „Demographischen Bauen“, der die historische Genese und die Herausforderungen des Kirchenbaus in Mecklenburg vor Augen führt, aber auch die Besonderheiten einen Baubestandes, der zu zwei Dritteln mittelalterlich ist. Tatsächlich erweist sich so die Situation vor Ort als ganz besondere, die schwer verallgemeinerbar ist. Da ein guter Teil der Bevölkerung nicht mehr den Kirchen angehört, müssen so ganz spezifische Modelle der Erhaltung erarbeitet werden. Wie das funktionieren kann, zeigten und erörterten im Anschluss 14 Impulsgeber.

Unter dem Stichwort „Freiraum“ äußert sich zunächst der Philosoph Werner Stegmaier zu Fragen der Orientierung. Das ist sehr lehrreich und weiterführend, aber m.E. an der einen oder anderen Stelle auch irreführend. Das Kirchen immer in der Mitte der Stadt stünden, ist keinesfalls in dieser Allgemeinheit wahr. Aus Klöstern entstandene Städte wie Münster sind tatsächlich konzentrisch aufgebaut. Oftmals aber sind gerade die bedeutenden Kirchen nicht im Zentrum, sondern am Ende eines Prozessionsweges angelegt oder sogar bewusst dezentral platziert. Uns kommt es aufgrund der horizontalen Ausrichtung nur so vor, als wären sie zentral. Wenn aber Kirchen nicht grundsätzlich in der Mitte stehen, sollte man mit entsprechenden Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Das Zweite ist das zugrunde gelegte Modell der räumlichen Strukturierung im Sinne einer Einführung in das Heilige. Das ist an sich gute katholische Tradition – aber hat hier die 500-jährige evangelische Raumauffassung, die sich von diesem Modell doch konsequent gelöst hat, keine Spuren hinterlassen? Ich sehe nicht, wie man ein Modell des Kirchenraumes als Einführung in das Heilige evangelisch durchführen kann. Die ganze Idee mit dem Blick, der in die Höhe gelenkt wird usw. wird doch von der Ästhetik Gottes, die nun gerade nach der Niedrigkeit der Magd schaut, konterkariert.[3] Im Anschluss an Stegmaiers Vortrag findet der Leser dann unter der Überschrift „Grenzwertig“ die Ergebnisse eines Entwurfsseminars, bei dem Architekten und Theologen im Blick auf den Rostocker Kirchbautag zusammen gearbeitet haben sowie weitere derartige Studien. Das zweite Kapitel unter dem Stichwort „Freiraum“ steht unter dem Aspekt „Flaneur und Beter“. Thomas Klie geht hier noch einmal angesichts des Kirchenraumes pastoraltheologisch der Differenzierung von Teilnehmern und Besuchern nach und möchte die als dogmatisch wahrgenommene Unterscheidung abmildern. Dafür gibt es – auch außerhalb der Abstimmung mit den Füßen – gute Gründe.

Aber ich glaube, wir sind hier erst ganz am Anfang der Reflexion. Ich würde – durchaus Klies Argumente aufgreifend – dennoch weiterhin an der grundlegenden Unterscheidung von Teilnehmern und Besuchern festhalten, denn ich sehe hier verschiedene Modi der Erfahrung – nämlich religiöse einerseits und ästhetische andererseits. Ich glaube, dass die Besucher im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft angesichts der von ihnen besuchten Kirchen ihr subjektives Geschmacksurteil in Kraft setzen – ihnen sind Kirchen überaus wichtig, aber eben als Kulturgüter bzw. ästhetisch zu beurteilende Objekte. Deshalb flanieren sie dorthin, so wie die Romantiker in die Gemäldegalerie gingen um Gespräche vor Gemälden zu führen. Die Teilnehmer dagegen vollziehen etwas, was mit Schleiermachers Versuch beschrieben werden kann, an die Stelle der Kantischen Kritik der Urteilskraft die Religion und das religiöse Gefühl zu setzen,[4] das hier in die Vergemeinschaftung überführt wird. Man kann nun mit Schleiermacher hoffen, dass die ästhetische Wahrnehmung von Kirchenräumen „zur Religion zu bilden“ vermag. Dass das funktioniert, dessen bin ich mir nicht sicher – gerade auch empirisch nicht. Denn es sind gerade diejenigen, die die ästhetische Urteilskraft verstärkt einsetzen, die sich zunehmend von der Kirche und der gelebten Religion entfernen.[5] In einem gewissen Sinne gilt hier abgewandelt Goethes Satz „Wer Kunst hat, hat auch Religion“, wer Kunst nicht hat, „habe Religion“.

Das dritte Stichwort „Hoffnungsraum“ wird eröffnet mit einer Besinnung von Altbischof Axel Noack zum Thema „Kirchen als kulturelles Erbe“ , es ist vor allem ein Bericht darüber, wie es gelungen ist, gegen alle Erwartungen trotz eines eklatanten Überangebots keine Kirchen zu schließen. Da kann man natürlich nur gratulieren, wäre der Preis dafür nicht eine ungebührliche religiöse Aufwertung des Gebäudes. Auch bei ihm findet sich die prekäre These, vom Mehrwert des Gebäudes in theologischer Perspektive – bis dahin, dass nichtevangelische Bedenken von Menschen, die der Kirche fernstehen, ernster genommen werden als der Usus der Kirchengemeindemitglieder. Wenn also Atheisten die Kirche gerne heilig hätten, Gemeindeglieder aber lieber als Versammlungsraum, dann wüsste ich, wie ich mich entscheide. Hier aber wird dann – wider besseren Wissens – Rücksicht auf die geistlich Schwachen genommen – auch um den Preis, statt der Heiligung des Menschen nun die Heiligung des Raumes zu betreiben. An Noacks Vortrag schließen sich Berichte über weitere Exkursionen und Reflexionen über das Verhältnis von Kirche, Raum und Nutzung an.

Kritische Anmerkungen

Was mir am Dokumentationsband vor allem auffällt, ist die Art der Argumentation, und zwar deshalb, weil sie weitgehend ohne biblische Bezüge auszukommen scheint. Dass wir uns hier bei einem „Evangelischen“ Kirchbautag befinden, der doch immerhin die Tradition des Sola Scriptura wenigstens ansatzweise pflegen sollte, wird nicht deutlich. Und wenn man sich dann doch einmal auf biblische Texte bezieht, dann auf die Tempelsehnsucht des Propheten Haggai – als ob es nicht die dem entgegenstehende Tempelkritik des Paulus gegeben hätte.

Was mir noch als problematisch auffällt, ist, dass die Rede vom Heiligen angesichts des Kirchenbaus inzwischen so selbstverständlich geworden zu sein scheint, dass mit kritischen Einwänden gar nicht mehr gerechnet wird. Das Lob der Profanität, das den Protestantismus einst auszeichnete („Das Auffallendste und Bezeichnendste an der Lebensführung des protestantischen Menschen ist ihre radikale Weltlichkeit" – Friedrich Gogarten[6]), scheint nicht mehr en vogue zu sein oder – wahrscheinlicher – es wird aus dem Konzert theologischer Stimmen bewusst ausgeblendet. Der modernitäts- und aufklärungsoffene Tonfall liberaler Theologie klingt in diesem Dokumentationsband des Kirchbautages jedenfalls nicht an. Zugespitzt gesagt ist es eher die Programmatik des Durchschnitts, die hier artikuliert wird, eine Programmatik, die sich von allen Akzentuierungen abwendet und den Common Sense auf der Ebene des kleinsten gemeinsamen Nenners sucht. Das wird vor allem deutlich, wenn der Kirchbautag sich am Ende zu einigen programmatischen Sätzen aufschwingt, die allerdings entweder an Banalität kaum zu überbieten sind oder derartig steil daneben sind, dass man sich wundert, wie ein vernünftiger Mensch sie artikulieren kann. So heißt es etwa:

„Kirchengebäude stehen stellvertretend für Kirche“ – einen solchen Satz muss man mehrmals lesen, um sich klar zu machen, was die Verfasser damit wohl sagen wollen. Soll das ein empirisch-kritischer Satz sein? Oder ist es ein normativer Satz? Ganz sicher ist es kein biblisch fundierter Satz. Kirchengebäude stehen theologisch sicher nicht stellvertretend für Kirche – sei diese nun die sichtbare oder gar die unsichtbare Kirche. Was ist denn hier mit „Kirche“ gemeint? Die verfasste Kirche? Meint der Satz also nur: Die Bürger nehmen die Gebäude der Kirche als Symbole der Institution Kirche wahr, wie Altbischof Noack sagt? Ein solcher Satz wäre trivial, aber er zeigt noch nicht, dass die so vorgenommene Verknüpfung auch sinnvoll ist. „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ Was Paulus in 1. Kor. 3, 16 artikuliert, ist doch gerade der explizite Widerspruch gegen eine Theologie, die einer Verdinglichung des Evangeliums in Gebäuden das Wort redet. Nein, Gott macht sich nicht in und an Gebäuden fest und wenn die Menschen das noch hundertmal glauben. Wer das lehrt – und sei es in anthropologischer Rücksichtnahme -, lehrt kaum christliche Theologie. Selbstverständlich können kirchliche Bauten einer Theologie und einer religiösen Konzeption entsprechen. Die von der Wegekirche sich abwendenden ellipsoiden Raumkonzeptionen im Sinne des II. Vatikanums zeigen das deutlich. Stellvertreter aber ist jemand, der „bei Abwesenheit des eigentlichen Funktionsinhabers dessen Funktion übernimmt“. Und das können Kirchengebäude eben nicht. Ich hoffe, darin besteht ein common sense.

„Die Zukunft der Dorfkirche entscheidet über die Zukunft des Dorfes“ – im Lichte der paulinischen Lehre ist auch das eher ein vernichtender Satz über die Theologie und den Glauben einer Gemeinde, insofern sich nicht mehr an der Theologie oder dem Glauben, sprich der Verkündigung, die Vitalität einer (Christen- wie Bürger-) Gemeinde zeigen soll, sondern an ihrem Gebäudebestand. Und auch ohne Kirchengebäude wird es in Zukunft Dörfer geben; selbstverständlich auch christliche geprägte Dörfer. Kirchengebäude sind Hülsen, äußere Rahmungen des liturgischen Geschehens. Es geht auch ohne sie – freilich nicht besser, eher schlechter, aber es geht. Jedenfalls sind sie keine conditio sine qua non des homo religiosus und auch keine notwendige Voraussetzung christlichen Glaubens.

Die Art der Trivialisierung der Reflexion über den Kirchenbau verdeutlichen vielleicht die folgenden Sätze von Peter Schüz aus seiner Rostocker Predigt über das Heilige im Kirchenbau. Er führt dort nach einem einleitend geschilderten Akt-Performance-Beispiel wortwörtlich aus:

„Dieses Gefühl der Entweihung kennt jeder, denn es holt uns alltäglich ein: Wenn zum Beispiel ein liebgewonnenes Gebäude abgerissen wird, wenn eine vertraute Umgebung oder eine anheimelnde Situation durch Fremdeinwirkung verändert oder in ungewohnte Bahnen umgelenkt wird. Die 68er unter Ihnen fassten derartigen Situationsweltschmerz früher gerne mit Alexandras Liedzeilen zusammen: Mein Freund der Baum / ist tot / er fiel im frühen Morgenrot.“

Wenn ich so etwas lese (oder im Gottesdienst höre) bin ich jedes Mal fassungslos. Das argumentiert auf dem Niveau der volkstümlichen Hitparade – verbogen von vorne bis hinten. Entweiht werden können nur geweihte Dinge. Liebgewonnene Gebäude, vertraute Umgebungen, anheimelnde Situationen (ach diese Adjektive!) oder die von Schüz im Anschluss genannten Mercedessterne gehören definitiv nicht dazu. Die Redeform „das ist mir heilig“ ist (wie unschwer am ‚mir‘ erkennbar ist) übertragene Rede und meint: das ist mir wichtig wie etwas Heiliges (das, wenn das Wort einen Sinn haben soll, ein objektives Geschehen wiedergibt, das einem widerfährt). Und für die Rede „das löst in mir ein Gefühl von Entweihung aus“ gilt Analoges: das ist für mich wie eine Entweihung. Es geht um Vergleiche und nicht um Äquivalenzen. Die Unterschiede, die keinesfalls banal sind, sondern aufs Ganze gehen, sollte man als Prediger kennen und benennen. Wenn jemand kämpft wie ein Löwe ist er noch lange keiner. Wenn wir erst einmal anfangen, den zum Vergleich herangezogenen Sachverhalt für identisch mit der Sache zu halten (also den Vergleichsmaßstab zu nivellieren), können wir das theologische Geschäft gleich ganz aufgeben. Denn dann geschieht die Verkündigung des Wortes Christi auf derselben Ebene wie der Fußball, das Rockkonzert oder der Museumsbesuch. Für wen das alles gleichgültig ist, der mag das kultivieren, darf sich dann aber nicht wundern, wenn den Menschen der Fußball, das Rockkonzert oder der Museumsbesuch wichtiger wird als der Kirchenbesuch, denn sie sind alle Mal begeisternder, mitreißender und sinnlich-reflexiver als dieser. Aber sie sind auch etwas grundlegend anderes als Religion.

Dass Schüz darüber hinaus meint, die 68er hätten ausgerechnet die Schlagersängerin Alexandra geschätzt und ihre Liedtitel zitiert, gehört nun absolut ins Reich der ungezügelten Fantasie. Es grenzt schon fast an üble Nachrede. Wenn man selber als Prediger Alexandra schätzt – die immerhin tragischer Weise einen Mercedesstern zu Schrott gefahren hat -, dann sollte man dies nicht stellvertretend den 68ern zuweisen. Alexandra war das exakte Gegenteil der gesellschaftlichen Anliegen der 68er-Generation: ein durch und durch künstliches Marketingprodukt ihres Managers Beierlein.[7] Formen religiöser Rede aber, die so oberflächlich agieren, wie diese, sind gut jiddisch gesprochen: Schmonzetten. Kitsch. Plausibel erscheint mir der homiletische Rekurs auf Alexandra und ihr Lied nur darin, dass er die Stimmung spiegelt, die manchen Dorfkirchen-Apologeten charakterisieren dürfte: die Sorge, sich um ein vertrautes Phänomen der Kindheit nicht ausreichend gekümmert zu haben, so dass es nun den gesellschaftlichen Entwicklungen zum Opfer fällt: Bald wächst ein Haus aus Glas und Stein, dort wo man ihn hat abgeschlagen, bald werden graue Mauern ragen, dort wo er liegt im Sonnenschein. Gegen solch verklärenden Romantizismen war Caspar David Friedrich mit seinen Ruinenkirchen Aufklärer durch und durch. Da kann man sich allenfalls auf die späte Romantik berufen, die nicht zufällig zum Katholizismus konvertierte.

Dass Rudolf Otto inzwischen zu den vierzehn Nothelfern der am Kirchenbau Interessierten aufgestiegen ist, überrascht mich nicht wirklich. Was mich aber überrascht ist die Tatsache, dass jemand glaubt, die Menschen in Mecklenburg würden ihre Dorfkirchen wegen des in ihnen sich zeigenden(!) Mysterium tremendum et fascinans[8] erhalten und pflegen wollen. Ein Blick in die Deutsche Literatur seit Luther zeigt schnell, dass sich mit Dorfkirchen Vieles assoziieren lässt (vor allem Hochzeiten), aber kaum ein „Geheimnis, das Furcht und Zittern auslöst und zum Entzücken führt“. Rudolf Otto argumentiert schließlich mit Begriffen aus der Erfahrung des Erhabenen (also in Kantischer Tradition), während das vorherrschende Adjektiv der Dorfkirche in der deutschen Literatur eher „klein“ ist – und auch bis in die Gegenwart die Konnotation des Idyllischen behalten hat.

Abschließend noch eine kurze Anmerkung zur ästhetischen Gestaltung des Buches. Sicher, es ist ein Dokumentations- und Erinnerungsband. Aber muss deshalb nahezu jede Seite am unteren Rand mit kleinformatigen Bildchen vollgepfropft werden? Das bringt Bilder in eine Position der Beliebigkeit und zeigt, dass man sie nicht schätzt. Hier wäre weniger mehr gewesen.

Anmerkungen

[1]    Das Vorbild, 1889 erbaut, steht in Alt Rehse, einem Dorf südlich von Neubrandenburg.

[3]    Vgl. Thaidigsmann, Edgar (1987): Gottes schöpferisches Sehen. Elemente einer theologischen Sehschule im Anschluss an Luthers Auslegung des Magnificat. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie (NZSTh), H. 29.

[4]    Vgl. dazu Müller, Ernst (1998): Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung. In: Herrmann, Jörg; Mertin, Andreas; Valtink, Eveline (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute: Fink, Wilhelm, S. 144–164. Müller, Ernst (2004): Ästhetische Religiosität und Kunstreligion in den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus: Akademie Verlag Berlin.

[5]    Vgl. Mertin, Andreas (1991): Ars ante portas? Skeptische Erwägungen zur Kunstvermittlung in der Kirche. In: Kunst und Kirche, H. 3.

[6]    Zit. nach Richard Schaeffler (1979), Was dürfen wir hoffen, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft

[7]    Man lese nur einmal den erkennbar von Fans verfassten Artikel in der Wikipedia zur Sängerin Alexandra: „Bald darauf wurde der Schallplattenproduzent Fred Weyrich bei seiner Suche nach Talenten auf die tiefe, rauchige Stimme der Sängerin aufmerksam und sah eine Marktlücke, in der er Alexandra positionieren konnte. Unter dem Management von Hans R. Beierlein wurde Alexandra zum Star aufgebaut; mit ihren melancholischen Liedern und ihrem Aussehen passte die aufstrebende Künstlerin ganz in ein Format, das bisher noch nicht von der deutschen Schlagerbranche vermarktet wurde: Russland.“ Heute würde man sagen: dem Osten.

[8]    Otto, Rudolf (1979): Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. München: Beck.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/81/am428.htm
© Andreas Mertin, 2013