Melancholie des Anfangs

Besprechungen ausgewählter Videoclips XXXV

Andreas Mertin

David Bowie – Where are we now?

Nach Jahren den Schweigens hat David Bowie Anfang 2013 ein neues Stück produziert und samt Videoclip publiziert. Unter dem Titel „Where are we now?“ blickt Bowie melancholisch zurück auf die Anfänge und seine Zeit in Berlin von 1976-1978. Damals entstand Bowies wohl bekanntestes Stück „Heroes“, das von zwei Liebenden handelt, die sich an einer Mauer küssen. Bowie: „Das ist eine Mauer neben dem Studio. Sie ist ungefähr 20 bis 30 Meter entfernt vom Studio, der Regisseur schaut direkt darauf. Ein Geschützturm thront auf der Mauer, in dem die Wachposten sitzen, und jeden Mittag trafen sich ein Junge und ein Mädchen darunter. Sie hatten eine Affäre. Und ich dachte: Von all den Orten, an denen man sich in Berlin treffen kann, warum sucht man sich da ausgerechnet eine Bank unter einem Wachturm an der Mauer aus?“

Nach Bowies eigener Auskunft bezog er sich dabei unter anderem auch auf das Gemälde „Liebespaar zwischen Gartenmauern“ des Expressionisten Otto Müller (1874-1930) aus dem Jahr 1916, auf dem vor einem sich verengenden Weg zwischen zwei Mauern sich ein Liebespaar küsst.

Bedingt durch die Inszenierung von Tony Oursler ist auch der Clip zu „Where are we now“ stark von der Bildenden Kunst beeinflusst. Er eröffnet mit einem Blick in ein Künstleratelier mit diversen gesammelten Gegenständen, Kristallen, zerbrochenen Fensterrahmen, Leitern usw. und erfasst dann ein Puppenpaar, das vor einer Videoleinwand sitzt. Die Gesichter der Puppen sind mit verzerrten Bildern der Gesichter von David Bowie und einer Frau () gefüllt. Im Hintergrund sehen wir auf Bilder aus der Vergangenheit Berlins. Die Kamera wechselt von der Betrachterperspektive direkt in die Filmwiedergabe und zeigt Szenen der Berliner Mauer, des Fernsehturms am Berliner Alexanderplatz und des Berliner Doms. Sie kehrt dann wieder in die Atelierszene zurück. Während der ganzen Zeit wird der Liedtext in das Bildgeschehen eingeblendet. Nach 3 Minuten sehen wir zum ersten Mal David Bowie „real“ im Atelier stehen, zu seinen Füßen ein Sack mit der Aufschrift „Thank you for Shopping with me“ während ein kleiner Hund durchs Bild läuft. Gegen Ende erfasst die Kamera das Atelier in der Totale während auf der Leinwand die Siegessäule zu sehen ist. David Bowie und die Frau verschwinden aus den Puppenmasken und der Clip ist zu Ende.

Der Liedtext ist eine melancholische Rückbesinnung auf die Anfänge und das, was daraus geworden ist: a man lost in time ... (near KaDeWe) ... Where are wie now? Er hat kaum etwas infrage Stellendes wie noch „The hearth’s filthy lesson“, es ist fast schon ein Abgesang. Vieles hängt nun davon ab, was auf dem angekündigten Album „The Next Day“, das im Frühjahr erscheinen soll, präsentiert wird. Ein wenig mehr Spirit dürfte schon sein.

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P.S.: Ich habe wenige Jahre später für kurze Zeit in Berlin studiert und im Zentrum der Stadt in der Hardenbergstraße gewohnt. Es war die Zeit der Häuserbesetzungen. Aber ich habe die Stadt nicht so melancholisch in Erinnerung. Vielleicht sind die vier Jahre Zeitdifferenz von Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre schon viel, die Nachkriegszeit spielte zu meiner Zeit keine Rolle mehr, die 69er-Zeit wahr lange vorbei, der Aufbruch (auch im Sinne der Erhaltung) war wichtiger als alles andere. Ich würde heute nicht melancholisch auf das Berlin der 80er Jahre blicken (wie es auch in Wim Wenders Werbeclip für Samsungs Galaxy Note II zum Ausdruck kommt: a la – damals stand noch die Mauer), ganz im Gegenteil.

Der Reichtum der intellektuellen Kultur, der sich zwischen Kurfürstendamm und Hardenbergstraße zeigte (z.B. die fast zeitgleich zu „Heroes“ gegründete Berliner autorenbuchhandlung, in der ich zum ersten Mal Arno Schmidts „Zettels Traum“ im Original sah), inspiriert mich heute immer noch. Und davon ist Berlin ja weiterhin geprägt.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/81/am426.htm
© Andreas Mertin, 2013