Die Debatte über den Kirchenraum

Vom Konservatismus der Fernstehenden

Johann Hinrich Claussen 

Willkommen zu einer Debatte, die nun auf einem anderen Niveau geführt werden kann, als die Debatte, die kurz vor Weihnachten in der Presse über uns kam. Es geht um die Frage, wie Kirchen zu nutzen sind, wofür sie stehen und was wir mit ihnen anfangen wollen, wie wir sie nicht nur erhalten, sondern auch mit Leben erfüllen. Das ist eine zentrale Fragestellung. Allerdings bin ich mir sicher, das sie noch zu weiteren Skandalisierungen führen wird.

Was mir deutlich geworden ist, ist zunächst der Befund, dass unsere Stadt Hamburg so religionslos nicht ist, sondern gerade im Bezug zu den Kirchen zeigt sich eine intensive, emotional hoch aufgeladene Beziehung der Hamburger zu ihren Kirchen. In dieser Liebe vieler kirchenferner Menschen zu ihren Kirchen zeigt sich ein theologisches Problem. Denn so ganz geheuer kann sie dem evangelischen Christen nicht sein, wenn er seine Lehrgrundlagen ernst nimmt, nach denen es für den Protestantismus keine heiligen Räume gibt.

Die evangelischen Kirchen sind an und für sich nicht heilig, sondern nur insofern, als Heiliges in ihnen geschieht. Die Kirchengebäude müssen nützlich sein. Nützlich jetzt nicht in einem utililitaristischen Sinne, sondern in einem vertieften lutherischen Sinne. Die Dinge, die darin geschehen, müssen einen Nutzen haben. Sie müssen etwas bewirken, nämlich die Gemeinde erbauen, die Gewissen schärfen, Gottes Wort hörbar werden lassen. Oder wie Luther das so schlank und direkt zu sagen pflegte, wo Gott redet, da wohnt er, wo das Wort klingt, da ist Gott, da ist sein Haus und wo er aufhört zu reden, da ist auch nimmermehr sein Haus, es kann der schönste Michel sein.

Entscheidend ist also, was in einer Kirche geschieht und wozu sie genutzt wird. Deshalb sind in diesem strengen, lutherischen Sinne Kirchen Nutzbauten, aber eben Bauten für einen ganz besonderen Nutzen. Im Mittelpunkt steht dabei der Gottesdienst, der gemeindliche Gottesdienst. Daneben auch die individuelle, die eigene  Religionspflege und Erbauung, aber natürlich  auch allerlei Veranstaltungen, die einen kulturellen, einen ethischen, einen gesellschaftlichen Nutzen haben.

Da ich das zweite Wirtschaftsforum und auch das erste besucht hatte und dabei  einige ganz interessante Bildungserlebnisse in wirtschaftsethischer Hinsicht hatte, war ich gar nicht so furchtbar empört. Beim dritten Mal konnte ich nicht dabei sein. Bei den ersten beiden Veranstaltungen hatte ich jedenfalls den Eindruck, dass es eine Fülle von inhaltlichen Aspekten gab, die auch in einer Kirche verhandelt werden können.

Neben dieser allgemeinen und grundsätzlichen Fragestellung, wofür eine Kirche da ist, wozu sie nützlich sein soll, gibt es natürlich eine aktuelle Zuspitzung und die hat mit dem lieben Geld zu tun. Die Bedeutung nicht rein gottesdienstlicher, nicht rein geistlicher Nutzungen gewinnt eine neue Bedeutung aufgrund rückläufiger Kirchensteuern. Diese Situation kann dazu führen, dass eben auch durchaus angewiesen ist auf Partner, mit denen man vorher vielleicht nichts zu tun gehabt hätte - für Konzerte, Lesungen und Debatten. Viele dieser neuen Mit-, Um- und Nebennutzungen können durchaus sinnvoll sein. Zugleich aber zeigt sich daran auch ein echtes Problem. Große Sakralräume haben bei aller Weihe und Aura, die sie verströmen, ganz handfeste materielle Voraussetzungen. Klassisch sind große Kirchen nur in staatskirchlichen Zusammenhängen entstanden und bewahrt worden. Mit der konstantinischen Wende begann, streng genommen, der Kirchenbau erst und wurde später im Rahmen der kaiserlichen Kirchbaubewegungen des 19. Jahrhunderts wieder intensiviert. Nicht nur der Bau großer, repräsentativer Sakralbauten, sondern auch ihre Erhaltung - das erfordert Mittel, die nur staatlich oder jedenfalls in Kooperation mit dem Staat zu organisieren sind. Hier hat eben der lange Schatten des Staatskirchentums, unter dem wir immer noch stehen, durchaus positive Wirkungen. Die Kirchensteuer, die ungeliebte und viel geschmähte Kirchensteuer hat vor allen Dingen darin ihren großen Sinn, dass sie die Pastorenbesoldung gewährleistet, aber eben auch die Bauunterhaltung.

Wenn das Kirchensteueraufkommen nun sinkt, weil Kirchenmitglieder weniger werden oder älter werden oder überhaupt dieses Instrument an Attraktivität und Plausibilität verliert, dann ist die Frage, was nun passiert. Und dann geschieht eben ganz genau das, was auch sonst in der Kultur passiert. Wenn es der Staat nicht mehr macht, dann kommt der Markt zum Zuge, dann greift die Marktlogik. Das will ich gar nicht verteufeln. Ich will nur sagen, dann passiert etwas anderes und dann kommt es zu Vermietung und Vermarktung, zu externen Partnern und Eintrittspreisen. Und bei diesem Thema gelangt man sehr schnell an die Grenzen dessen, was man nach den schönsten theologischen Kriterien rechtfertigen kann. Hier hat natürlich der Michel eine Sonderstellung als Hamburger Wahrzeichen. Er ist in besonderer Weise attraktiv für Veranstaltungen, ist aber auch in besonderer Weise versucht. Denn es reicht ja nicht nur das Gebäude zu erhalten - teuer genug -, sondern es muss ja auch ein angemessener Betrieb vorgehalten werden.

Ein letzter Aspekt, den ich noch nennen will. Aber da suche ich noch nach einer angemessenen Bezeichnung, weil ich mit diesem Phänomen auch hadere. So fallen mir z.Z. nur Formulierungen ein, die etwas abschätzig klingen, aber so nicht gemeint sein sollen. Vielleicht haben Sie eine bessere Idee. Es geht um den Konservatismus der Fernstehenden. Je weiter Menschen von der Kirche entfernt sind, umso archaischer scheint das Bild, das sie von der Kirche haben. Im Positiven wie im Negativen, aber eben auch im Positiven. Gerade für Menschen, die in einer durch und durch säkularisierten Welt leben, sich in ihr nicht beheimatet finden, aber auch keine Gemeinde brauchen, werden Kirchen zu Projektionsflächen reiner Heiligkeit, substanzieller Sakralität, zu Gegenwelten. Das hat einen Sinn, zugleich denke ich aber darüber nach, wie diese Position weiterentwickelt werden kann, denn die Vorstellung, dass ein Kirchenraum eine Gegenwelt ist, dessen Bedeutung sich darin erschöpft, einen Kontrast zu unserer kapitalistischen Konsum- und Wirtschaftsgesellschaft aufzubauen, das fände ich zu wenig. Dann gäbe es nur die Alternative durchrationalisierte Lebenswelt oder ausgegrenzte Sakralorte, an denen eine spätmoderne Dingmagie sich ausleben kann. Damit wäre aber ein evangelisches Kirchenverständnis irgendwie ortlos geworden.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/jhc1.htm
© Johann Hinrich Claussen, 2012