Nachts ist diese Kunst nicht im Museum

Die 10-tägige Live-Art-Schau 12 Rooms im Museum Folkwang, eine Weltkunstschau mit Beiträgen aus fünf Kontinenten

Barbara Wucherer-Staar

Mit zwölf ungewöhnlichen Räumen - 12 rooms - eröffnete die diesjährige Ruhrtriennale erstmals im Museum Folkwang in Essen. Heiner Goebbels, neuer Festival-Intendant und bekannt für Events, die nicht so einfach konsumierbar sind, interessieren „die Grenzlinien, die immer noch zwischen den Künsten aufrechterhalten werden, aber längst obsolet sind". In diesem Sinne hat er Klaus Biesenbach (Direktor des MoMA PS1 – der Dependance für Gegenwartskunst des New Yorker Museum of Modern Art) und Ulrich Obrist (Co-Direktor der Serpentine Gallery , London) eingeladen. Sie entwickelten ihre Live-Art-Group-Show 11 rooms, die in Koproduktion mit der Ruhrtriennale erstmals für das Manchester International Festival 2011 konzipiert wurde, weiter. Eingeladen wurden namhafte zeitgenössische Künstler, die für dieses internationale „project in progress“ Schauspieler, Tänzer und Laiendarsteller instruierten. In zehn Tagen wechseln sich etwa 80 Performer in unterschiedlich langen Zeitintervallen ab. Für jede Version werden Arbeiten weiter entwickelt, adaptiert und neu hinzu gefügt; im nächsten Jahr in Australien sollen es 13 sein, weitere Stationen sind geplant.

Entstanden ist ein anregender Parcours durch ein Labyrinth von etwa 5qm großen, außen hellgrau angestrichenen „white cubes“. Was in den 1970er Jahren provozierte oder als Beiprogramm zu Ausstellungen oft gar nicht angeschaut wurde, wird zur Hauptattraktion im Museum: Das Prinzip der Performance wird institutionalisiert. Permanent werden flüchtige Augenblicke kreiert, die man nicht festhalten kann. Wie in einer klassischen Performance wirken Raum, Körper, Bewegung, Stimme und Zeit erst in ihrer Entstehung.

Angeregt von Eugène Ionescos Theaterstück "La Cantatrice Chauve" („Die Kahle Sängerin“), das - wie eine Skulptur im öffentlichen Raum - jahrelang in einem Theater immer wieder gespielt wurde und so den Begriff der „begrenzten Zeit“ ad absurdum führte sowie von der Skulpturengalerie der Villa Borghese und den „Living Sculptures“ von Gilbert und George wollen Obrist und Biesenbach die Grenzen zwischen Theater und bildender Kunst im Museum erweitern: öffnen Besucher eine der Zimmertüren, befinden sie sich mit den Performern auf einer Bühne. Die sonst im Museum statische Kunst bewegt sich ebenso wie der Besucher. Die scheinbar ähnlichen Kabinette unterscheiden sich in Intensität und Inhalt. Flüchtige Blicke, kurze Gespräche, unerwartete Entdeckungen wecken unterschiedliche Reaktionen: Neugierde, Vergnügen, Stille, Scheu. Während dieser direkten, intensiven Wahrnehmung vis á vis werden Betrachter zu Betrachteten, die weggehen und wiederkommen können, im Gegensatz zu einem konventionellen Museums- oder Theaterbesuch gestalten sie die Choreografie mit.

Kunstmesse, Jahrmarkt oder Improvisationsstück?

Bei Jennifer Allora & Guillermo Calzadilla geraten sie unversehens in die eigenwillige Dynamik – zügig, langsam, vorwärts, zurück - einer lebendigen Personen-Drehtür (Revolving Door, 2011). Ein reger Tauschhandel mit Alltagsdingen entwickelt sich in Roman OndaksSwap“ - eine Restaurantkarte und ihre Geschichte gegen einen Lippenstift usw. Gibt es genetische Individualität? Damien Hirst setzt in einer Arbeit von 1992 identisch frisierte und identisch angezogene eineiige Zwillinge in identischer Haltung, die jeweils das gleiche Buch lesen, unter zwei nur auf den ersten Blick gleich aussehenden "Spot Paintings". Simon Fujiwara lässt einen jungen Mann auf einer Sonnenbank Vokabeln lernen - Future / Perfect.

Für Tino Seghal fragt ein Mädchen in der Rolle der Mangafigur AnnLee eindringlich, wie in der technisierten Welt noch Leben möglich sei. Der französische Choreograf und Künstler Xavier Le Roy lässt im Zwielicht eines dunklen Raumes zwei aneinandergeklammerte Gestalten in einem unförmigen Sack sich langsam und still über den Boden bewegen.

Rauschen und Wortfetzen entstehen mit analoger Tontechnik in Lucy Ravens Raum-Ton, einer Hommage an den Klang-Komponisten Alvin Lucier (*1931). Ein Performer liest einen Text, nimmt diesen zusammen mit den Stimmen der Besucher auf, spielt diese Aufnahme ab und nimmt sie zugleich wieder auf usw.

Je 30 Minuten dauert die Sequenz einer Performance nach einer Proportionsstudie des idealen Menschen der Renaissance nach Vitruv, die höchste Disziplin erfordert: in Höhe eines Altarbildes findet sich eine hell ausgeleuchtete nackte Performerin mit gespreizten Armen und Beinen über einem Fahrradsattel, den Blick ins Leere richtend (Marina Abramovic, Luminosity, 1997). In einem der eindrucksvollsten Kabinette, dem poetischen Mirror Check von Joan Jonas, erstmals 1970 aufgeführt, untersucht eine Frau mit einem Handspiegel sukzessive ihren nackten Körper vor ihrem sich synchron bewegenden Schattenriss an der Wand.

Ein banaler Bühnentrick gerät zur Politperformance: mitten im Rückwärtsfall eingefroren, knapp über dem Boden schwebt eine junge Frau mit ausgebreiteten Armen und fallendem Haar. Der chinesische Künstler Xu Zhen führte In just a Blink of an Eye (In nur einem Augenblick) erstmals 2005 mit chinesischen Wanderarbeitern auf, die auf einem unsichtbaren Gestell liegen, das unter weiten Jeans und Hemd versteckt ist. Höllensturz oder Himmelfahrt? Provokativ stellt Santiago Sierra in einem neonhellen Raum einen Mann stellvertretend für Veteranen aus Kriegen in Jugoslawien, Bosnien, Kosovo, Serbien und Somali mit Blick zur Wand in eine Ecke.

Einen sehr direkten, jedoch makaber wirkenden Hinweis auf das heute verwaltete, durchorganisierte und anonyme Sterben und Entsorgen außerhalb der Gesellschaft liefert die umfangreiche, wandfüllende Email-Korrespondenz zwischen John Baldessari und diversen Institutionen. Sein „Vorschlag für ein Stück mit Leiche, unrealisiert“ (1970) - man sollte auf einen Leichnam aus der gleichen Perspektive sehen, wie auf den Leichnam Jesu in einem Gemälde Andrea Mantegnas - bleibt aus ethischen Gründen auch in Essen unrealisiert. Bis auf weiteres findet die Auseinandersetzung mit dem Thema nur im Metaprozess der umfangreichen Email-Korrespondenz statt.

Eine Persiflage auf die humanistische perfekte Bildtradition wird erst bei längerem Hinsehen wahrgenommen: Wie in einem Spiegel brisanter gesellschaftlicher Ausgrenzung lässt die Brasilianerin Laura Lima mit einer speziellen Dramaturgie eine Grenze überschreiten. Für Männer=Fleisch/Frauen=Fleisch – Flach legt sie Körperbehinderte, denen man bei ihrer Geburt eine längere Lebenszeit nicht zugetraut hätte, in einem heimelig ausgeleuchteten Cube auf den Boden und zieht die Zimmerdecke bis auf Kniehöhe herunter. Bücken sich Neugierige, wechselt Lachen in Nachdenklichkeit; doch nicht alle schauen lange genug, um Behinderung und verstörende Spasmen der Protagonisten wahrzunehmen.[1]

Live-Art-Performances, mit der immer mehr Künstler experimentieren, konzentrieren sich auf Raum und Zeit, auf Prozesse, auf Bewegung und Stimme als in der Zeit stattfindende Ausdrucksformen des Körpers. Als Spiegel gesellschaftlicher Phänomene sind sie allgemein verständlich, zeitlos und immateriell, sie können in der Phantasie des Betrachters weiter erlebt werden. Man kann wissen, was es ist, so die Kuratoren, aber man sollte sich nie ganz sicher sein.

Man darf aber nie vergessen: mit den Museumsbesuchern geht abends auch die lebendige Performance-Kunst nach Hause in den Alltag.


12 Rooms Live Art / Group Show; Museum Folkwang, Essen ; 17. - 26. August 2012; weitere Stationen sind geplant. Mit Marina Abramovic´, Allora & Calzadilla, John Baldessari, Simon Fujiwara, Damien Hirst, Joan Jonas, Xavier Le Roy, Laura Lima, Roman Ondák, Lucy Raven, Tino Sehgal, Santiago Sierra, Xu Zen -
www.ruhrtriennale.de / www.museum-folkwang.de


[1]    Lima geht es um Fremdheit und Widersprüche, wobei der menschliche Körper wichtig für soziale Beziehungen ist. Hier hinterfragt sie (alltägliche) Kommunikation zwischen Behinderten und Nichtbehinderten. Das Projekt entstand in Kontakt mit dem Integrationsmodell Essen - einem Wohnträger für behinderte Menschen. In einem Interview berichtet einer der Protagonisten, dass manche Besucher gleich zu ihm hineinkriechen möchten; er fände es gut, heißt es, wenn das erlaubt wäre. In der Kunstgeschichte gibt es eine lange Tradition, die gesellschaftliche Außenseiter als „Menschenkuriosität“ etwa im Zirkus oder auf Jahrmärkten vorführte. Berühmt wurde die Fotografie Siamesische Zwillinge (1860) der Gebrüdern Courret. Die Fotoserie Auge um Auge (1998-2000) des polnischen Künstlers Artur Żmijewski zeigt Körperbehinderte, denen „gesunde“ Personen fehlende Glieder und Körperteile liehen.          

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/bws7.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2012