Blick zurück (nach vorn?)

Documenta - Balkenhol – Schneider

Andreas Mertin

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, zum Konflikt zwischen den beiden Kirchen und der documenta sowie zu den kirchlichen Kunstaktivitäten nicht weiter Stellung zu nehmen. All das sprach ja durchaus für sich. Und wer wollte, konnte sich die Kunstausstellung von Stephan Balkenhol trotz des Protestes der documenta-Leitung vor Ort anschauen und sich einen eigenen Eindruck verschaffen. Und von Gregor Schneider gibt es im Band 217 des Kunstforum International Einblicke in seine Planungen und Ideen.[1] Aber in der Rückschau verschieben sich manchmal die Aspekte und es treten Gesichtspunkte in den Vordergrund, die vorher weniger wichtig waren, wo es um die Verteidigung des Rechts auf eine kirchliche Begleitausstellung ging. Dass die kirchlichen Begleitausstellungen wichtig und für Kunst und Religion produktiv sind, sagt noch nichts über die jeweils durchgeführten bzw. geplanten Ausstellungen. Und hier gibt es nun tatsächlich einiges anzumerken.

dOCUMENTA(13)

Deshalb zunächst noch einmal zur dOCUMENTA(13) selbst. Ganz sicher war diese Documenta eine gegenüber dem Gehalt von Religion offene Ausstellung. In vielem, was man auf der Documenta sah, konnten Kirchen und Theologie Momente der eigenen Arbeit und der eigenen Gedanken erkennen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass öko-feministische Gedanken in den Kirchen weit verbreitet sind – weniger freilich bei den Kirchenleitungen. Die Gemeinsamkeit ging so weit, dass einige Kunstwerke m.E. nur auf die Folie religiösen Hintergrundwissens interpretierbar waren. Das gilt etwa für Ryan Ganders präsentative Entzugs-Inszenierung in den ersten Räumen des Fridericianums. Dass Entzug und Reduktion immer auch Präsentation bedeutet, dass Wüste nicht gleich Leere ist, ist eine genuin religiöse Erkenntnis und Lehre seit Jahrtausenden. Theologen und Gemeindeglieder konnten also mit Gewinn über diese dOCUMENTA(13) gehen. Von Abwendung oder Konfrontation mit der Kirche keine Rede. Die Zuwendung zum spirituellen Gehalt der Religion war allenthalben zu spüren. Und die „säkulare Spiritualität“ war ausdrucksstark präsent. Nur leider haben die Kirchen und die Theologen die Chance zur Auseinandersetzung und zum Gespräch mit der Gegenwartskunst nicht einmal ansatzweise genutzt. Ihr documenta-Bashing übertönte alles andere. Eine differenzierte Auseinandersetzung blieb aus und steht aus.

Ansatzweise könnte man dafür auf Überlegungen von Jörg Mertin in Heft 54 von tà katoptrizómena zur säkularen Spiritualität zurückgreifen: „Der innere Raum verändert sich. Ob neuere spirituelle Bedürfnisse mittels der traditionellen Spiritualität befriedigt werden können, ist offen, aber eher fraglich. Traditionelle Spiritualität im Rahmen der katholischen Kirche war lange Zeit eine spezifische Frömmigkeit, die grundsätzlich an die soziale Figur einer Kommunität gebunden war und sich im Rahmen der Orden durch die Befolgung von Regeln auszeichnete. Während Frömmigkeit eher die allgemeine Weise, christlich zu leben, bezeichnete, war Spiritualität im beschriebenen Sinne ein elitäres Phänomen ... Demgegenüber individualisieren sich heute die inneren Räume, melden sich vielfältige spirituelle Bedürfnisse, die sich ihre eigenen Ausdrucksformen und manchmal auch Regeln suchen. Konkrete Beanspruchungen innerer Räume finden vor allem in Krisenerfahrungen und lebensbedrohenden Situationen statt.“

Man muss sehen, wie präzise die dOCUMENTA(13) auf diese Bedürfnislage Antworten suchte bzw. Angebote machte. Es ging nicht mehr um die Präsentation eines irgendwie auf Kunstaktualität abgestellten Systems der Gegenwartskunst, sondern es ging um verschiedene Artefakte und Aktionen, die nur noch einte, dass sie sich um die bedrängenden Fragen von Menschengruppen kümmerten: sei dieses die Luftverschmutzung (Amy Balkin), die Beschleunigung der Zeit (William Kentridge), die Angst vor Aggressivität (Stuart Ringholt), der Erinnerung in Zeiten der Bilderflut (Geoffry Farmer), die Zeichensetzung im Kontext eines unübersichtlich gewordenen Planeten (Guiseppe Penone), Fürsorge für das Gedeihen des Lebens (Kristina Buch).

Die dOCUMENTA(13) bot Räume für all diese Fragen, ohne daraus einen in sich abgeschlossenen Raum zu machen. Bis in die Theoriebildung hinein blieb sie spielerisch, griff aus der Tradition das auf, was gerade passte und schloss aus, was der offenen Herangehensweise abträglich war, wie zum Beispiel eine auf den Menschen fixierte Fragestellung. Und zum ersten Mal gab es ein Documenta-Publikum, das damit auch zufrieden war, das die Frage nach der Geistesgegenwart der Kunst und nach der Zukunft der Kunst als Kunst gar nicht erst stellte und sie schon gar nicht beantwortet wissen wollte. Die Documenta verwandelte sich konzeptuell von der zu besuchenden Ausstellung, die man um der Kenntnis der Kunst nicht verpassen darf, zum Kurzurlaub, der den Alltag unterbricht und in dem man auf Ressourcensuche für die Zeit danach geht: Frischer Wind in leer geräumten Räumen (Ryan Gander), artifizielle Erinnerung an Vergangenes (Michael Rakowitz), Einsicht in kulturelle Codes anderer Länder und Völker (Nakamarra / Tjapaltjarri), Privates als Politisches (Ida Applebroog), Collapse and Recovery (Carolyn Christov-Bakargiev). Sinnressourcen. Maybe.[2]

Stephan Balkenhol

Die Ausstellung mit den Arbeiten von Stephan Balkenhol in der Kirche St. Elisabeth in Kassel war nun gerade keine Öffnung für die so charakterisierte säkulare Spiritualität, wie sie von der  dOCUMENTA(13) angeboten wurde (und man sie von der zeitgenössischen Kunst auch erwarten darf), sondern sie war eher eine Rückkehr zu traditionellen Fragestellungen. Wenn Balkenhol sich nun im Rückblick im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau als Gegenentwurf zur dOCUMENTA(13) sieht, überschätzt er sich und seine Arbeit vor Ort nicht nur maßlos, sondern bringt auch eine Tonlage in den Dialog von Kunst und Kirche, die wenig hilfreich ist. Man kann nicht seitens der Veranstalter vorher beteuern, man beabsichtige keine Konkurrenz zu d13, um dann im Nachhinein zu proklamieren, man habe aber eigentlich das bessere Programm gehabt. Das kommt keinem Veranstalter zu, der seinen Erfolg dem Umstand verdankt, dass 860.000 Menschen wegen der dOCUMENTA(13) nach Kassel gekommen sind, von denen knapp 6% den Weg in die direkt gegenüber dem Fridericianum gelegene Kirchenausstellung gefunden haben.

Und auch in der Sache bleiben viele Fragezeichen angesichts der Programmatik von Balkenhols Inszenierung in St. Elisabeth. Das Herausfordernde in der Begegnung von Kunst und Kirche in der Gegenwart ist ja nun schon lange nicht mehr, dass man überhaupt zeitgenössische Kunst in der Kirche platziert. Dieser Vorgang ist so inflationär geworden, dass er inzwischen zum Alltag gehört. Fast jeden Tag erreicht einen eine Mail oder eine Einladungskarte zu einer derartigen Ausstellung. Wenn Bildende Kunst aber Arbeit auf der Grenze ist, dann kommt es darauf an, nicht einfach nur Kunst zu zeigen – die Kirche also zum Ausstellungsraum zu machen -, sondern in den Raum zu intervenieren, sozusagen einzubrechen in den Leib Christi. Im katholischen Ordo ist der Konfliktfall häufig der Altar und die gesamte räumliche Ausrichtung der Ausstellung. Rund um den Altar gibt es die meisten und heftigsten Konfliktfälle und an der räumlichen Inszenierung lässt sich ablesen, mit welchem Modell des religiösen Raumes gearbeitet wird. Künstler können sich in den Weg stellen, können die räumliche Inszenierung jeder Kirche stören, zerstören oder bewusst machen. Sie können sich auch dem religiösen Raum unterwerfen, indem sie z.B. die vorhandene Wegekirche aufgreifen und verstärken. Sie können das Programm einer Kirche nach dem II. Vatikanum forcieren oder es zurückführen, indem sie traditionelle Fragestellungen akzentuieren. Man sieht, die künstlerische Arbeit im religiösen Raum ist voller Sprengminen und Fallen, sie ist eine Herausforderung.

Wie ist nun Stephan Balkenhol diese Herausforderung angegangen? Zunächst einmal fällt auf, dass er sich ganz der räumlichen Vorgabe in St. Elisabeth unterworfen hat: von der vertikalen Struktur (Mann im Turm unter dem Kreuz) bis zur horizontalen Struktur (Wegekirche mit zwei simulierten Seitenschiffen und dem Altar als Zielpunkt). Auf eine wirkliche Intervention in die religiöse Raumstruktur hat er verzichtet, darin der ersten Ausstellung vor 10 Jahren in St. Elisabeth vergleichbar. Auch damals hatte Thomas Virnich (seinerzeit im Konzert mit Tischbein-Gemälden) die Struktur der Kirche unangetastet gelassen. Balkenhol geht aber noch einen Schritt weiter, indem er das aus seinem Oeuvre vertraute Erscheinungsbild seiner Werke der christlichen Ikonographie anpasst.

Ob Künstler heute noch traditionelle christliche Figuren darstellen sollten, ist eine in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts wieder aufgegriffene Problemstellung, die inzwischen erschöpfend bearbeitet wurde. Es mag eine subjektive (auch objektiv nachvollziehbare) Herausforderung für Künstler sein, sich an Arbeiten von Donatello zu messen, aber dann will der Betrachter auch die Fortschritte von 500 Jahren Geschichte der Bildhauerkunst sehen. Zu Donatellos Zeiten war die Darstellung der Maria Magdalena eine Frage des sich Wiedererkennens des Subjekts im betrachteten Objekt. Selbst im Dommuseum von Florenz ist Donatellos ursprünglich im Baptisterium platzierte Figur noch immer von einer beeindruckenden Aktualität und eine identifikatorische Herausforderung für den Betrachter, insofern hier das Innerste nach Außen gekehrt wird.

Donatello, Maria Magdalena    Donatello, Maria Magdalena (Detail)

Dagegen erweist sich die Frau mit weißem Tuch von Stephan Balkenhol in St. Elisabeth als geradezu harmlos. Keinesfalls erreicht die anthropomorphe Skulptur jene Intensität und jene ästhetische Valenz, die Donatellos Arbeit auszeichnet. Wenn wir versuchen, das unter dem Aspekt der Hermeneutik der Kontinuität und des Bruchs zu verstehen, dann besteht die Kontinuität im Sujet und der Bruch in einer veränderten Erfahrung. De facto gibt es also nur scheinbar eine Kontinuität, weil, anders als in der Zeit Donatellos, heute das Sujet nur zum Anlass künstlerischer Arbeit genommen wird. Man sieht „im Bild nicht mehr Menschen, Landschaften, Dinge, gebildet mit Farben, Flächen und Linien, sondern man sah: Farben, Flächen und Linien, anhand von Menschen, Landschaften und Dingen in der Fläche organisiert.“[3] Wer das unterschlägt, also die moderne Entwicklung der Kunst revoziert, der muss sich auch an den vormodernen Vor-Bildern messen lassen.

Die Problematik liegt sicher nicht grundsätzlich im Werk von Balkenhol selbst begründet, dessen Arbeiten ich sehr schätze und über den ich bereits mehrfach entsprechend geschrieben habe. Im vorliegenden Falle liegt das Problem darin begründet, dass er die Ambivalenz, die sein Werk an sich charakterisiert, zugunsten einer kontextuell motivierten Vereindeutigung und einer dadurch bedingten eingeschränkten Wahrnehmungs- und Deutungsperspektive aufgegeben hat. Wo bei seinen anderen Arbeiten gerade durch die Rätselhaftigkeit des Gezeigten ein Freiraum für den Betrachter bleibt, reduziert Balkenhol in der Ausstellung in St. Elisabeth die Vielzahl möglicher Lesarten. Das kommt dem Werk nicht zugute und war auch überhaupt nicht notwendig.

Wenn man im Kirchenschiff – oder noch besser von der Empore aus – die Figuren an den Kirchenwänden betrachtet, dann wird einem ein der ästhetischen Gestaltung vorgeordnetes religiöses Themenspektrum präsentiert: der (gefallene) Mensch, die Mutter mit Kind, der Mensch und der Tod, Christus, das Menschenpaar. Im Zeitalter des Postsäkularen könnte man nun sagen, dass es doch wieder möglich sei (und auch sein müsse), derartig unbefangen die Klaviatur des Religiösen zu spielen. Und was Markus Lüpertz in St. Andreas in Köln recht ist, müsse Stephan Balkenhol in St. Elisabeth in Kassel billig sein. Während aber Lüpertz in Köln die Ambivalenz wahrt und sie genau genommen sogar steigert, geschieht dies in der Ausstellung von Balkenhol nicht. Es sind eben keine Werke auf der Grenze, sondern für mich erschreckend konventionelle Arbeiten. Dort, wo sie grenzüberschreitend hätten sein können – in einer verstörenden Bezugnahme auf den Raum – nehmen sie sich ganz zurück und werden zum beiläufigen Ausstattungsstück. Und selbst dort, wo sie aus dem Gewohnten der Wahrnehmung ausbrechen, in den angedeuteten Seitenschiffen der Kirche St. Elisabeth, entwickeln sie keinen produktiven Dialog von Kunst und Kirche. Man müsste also fragen: wo ereignet sich die Begegnung von Kunst und Religion an diesem Ort?

Gregor Schneider

Im Kunstforum 217 hat Gregor Schneider noch einmal seine Überlegungen für die Karlskirche in Kassel skizziert und so auch für die Öffentlichkeit sein Vorhaben offen gelegt. Dabei fällt auf, dass der konkrete religiöse Raum, in dem er seine Arbeit platzieren wollte, die Kirche der reformierten Refugees, der Hugenotten, die in Kassel eine Heimstadt gefunden hatten, keine Rolle spielt. Mit der Arbeit von Ryan Gander in den Eingangsräumen des Fridericianums hat die in Religionssachen viel gescholtene Carolyn Christov-Barkagiev daher mehr Sensibilität für die ästhetischen Implikationen des Glaubens der Hugenotten bewiesen als Gregor Schneider mit seinem Konzept. Ich glaube, er hat überhaupt nicht verstanden, in welcher Kirche mit welcher Geschichte er ausstellen sollte. Es wirkt so, wenn mir der etwas krude Vergleich erlaubt ist, als wenn man Veganern ein Bankett aus Schweinefleisch und Kalbshaxen anbietet, damit sie über die Vielfalt der Ernährung nachdenken. Wie kann man in eine Kirche der das Bilderverbot als Kultbildverbot streng befolgenden Reformierten ernsthaft die hinduistische Götterwelt eintragen wollen? Dazu muss man nicht einmal religiös musikalisch sein, es reicht etwas kulturhermeneutische Sensibilität, um hier zurückhaltend zu sein. Nun ist das nicht allein Schneider vorzuhalten. Die spezifische Tradition der reformierten Theologie hätten die Verantwortlichen in Kassel, allen voran der Bischof und die von ihm Beauftragten mit dem Künstler kommunizieren müssen. Offenkundig war diesen die reformierte Tradition aber nicht so wichtig, dass sie den Künstler darauf aufmerksam gemacht und ihn um Rücksicht gebeten hätten. Es geht nicht darum, dass man keine Bilder in eine reformierte Kirche bringen dürfe – das ist ein populäres Missverständnis. Reformierte haben ein ausgezeichnetes Gespür für Bilder und Bildende Kunst. Es geht darum, das sie eine kulturelle Schranke gegenüber Kultbildern errichtet haben. Man muss nur im Heidelberger Katechismus lesen, um das zu verstehen. So heißt es in Frage 98: Dürfen denn nicht die Bilder als „der Laien Bücher“ in den Kirchen geduldet werden? Antwort: Nein; denn wir sollen uns nicht für weiser halten als Gott, der seine Christenheit nicht [Jer 10, 8; Hab 2, 18-19] durch stumme Götzen, sondern durch die lebendige Predigt seines Wortes unterwiesen haben will. [2. Petr 1, 19; 2. Tim 3, 16-17]. Die Antwort auf Frage 97 erlaubt dagegen ausdrücklich das Abbilden der Schöpfung und der Geschöpfe. Derartiges ist m.E. leicht kommunizierbar und ich kenne keinen Künstler, der das dann nicht in seine Reflexionen aufnimmt. Gregor Schneider hat nun angekündigt, er wolle versuchen, sein Projekt bei der nächsten Documenta 2017 zu realisieren. Ich hoffe, davon wird Abstand genommen – zumindest für die Karlskirche. Was immer man als Konsequenz aus der Absage dieser Ausstellung zieht, es kann nicht der Sinn sein, einen Fehler 5 Jahre später zu wiederholen.

Anmerkungen

[1]    Schneider, Gregor: Die Fouls der Documenta. Ein Gespräch mit Helga Meister. In: dOCUMENTA(13). Ruppichteroth: Kunstforum International 217, S. 354–357.

[2]    Vgl. auch den Kommentar von Dirk Schwarze http://dirkschwarze.net/2012/09/17/eine-der-funf-wichtigsten-documenta-ausstellungen/

[3]   Erich Franz: Die zweite Revolution der Moderne in: ders. (Hg.), Das offene Bild (Ausstellungskatalog), Stuttgart 1992, S. 11.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/79/am411.htm
© Andreas Mertin, 2012