Und mischte zwischen Tag und Traum - Circus Wols

Eine Hommage

Barbara Wucherer-Staar

„Circus Wols“, ein in Fragmenten erhaltenes künstlerisches Konzept, ein „spéctacle populaire“ - aus Art (Kunst) , Idées (Ideen), Pensées (Philosophische Gedanken) und Matériel (das Material) - entstand, als er 1939-1940 in französischen Lagern interniert war. Dieses Szenario für ein Gesamtkunstwerk wurde allerdings nie aufgeführt.[1]

Er, der es konzipierte, Alfred Otto Wolfgang Schulze (1913, Berlin -1951, Paris), der seit 1932 in Frankreich lebte, bekannt als „Wols“, einer der bedeutendsten Vertreter des Informel, Maler, Zeichner, Fotograf, brachte in seinem Leben und Werk den deutschen und französischen Kulturkreis zur Synthese.

Mit etwa 40 informellen Ölbildern, entstanden 1946/47, ausgestellt in der Galerie René Drouin, Paris 1947, geht er erstmals an die Pariser Öffentlichkeit. Sie beeindruckten nur wenige Maler und Dichter, u.a. Jean-Paul Sartre, begründeten jedoch seine posthumene Rezeption, die in den 1950er Jahren beginnt; damit verbindet sich die Legende um Wols als „peintre maudit“ (der „zum Malen Verfluchte“).

Was ist so eigenartig und neu am Werk von Wols, dass es von seinem Künstlerkollegen Georges Mathieu mit so „starken“ Urteilen bedacht wurde wie „Nach ihm ist alles neu zu machen … Meisterwerke! … ein Ereignis, … das wichtigste seit den Werken van Goghs … Im ersten Anlauf hat Wols die Sprachmittel unserer Zeit genial, unabweisbar und unwiderlegbar eingesetzt und sie zu höchster Intensität gebracht … vierzig Leinwände … aus der Kreuzigung eines Menschen.“ ?

Von Anfang an setzt Wols eine bewusste Strategie der bildnerischen Mittel in den Medien Fotografie, Malerei und Zeichnung ein, mit dem Ergebnis, dass selbst noch in seinen informellen Arbeiten Figurationen in Form eines Gedächtnisbildes erkennbar sind. Darin setzt er in prozesshaften, für Interpretationen „offenen Bilder“, Linie und Farbe als energetische, nicht mehr narrative Kraft ein. Damit verbunden ist eine neue Form der Wahrnehmung: die des „hineinsehenden - Sehens“.

Zur Zeit des Kalten Krieges zählte er zusammen mit Jackson Pollock zu den Urvätern des abstrakten Expressionismus und mit zu den Künstlern, deren abstrakte Malerei als „Weltsprache“ 1959 auf der documenta 2 in Kassel ihren Höhepunkt erreichte - in jenem Museum der 100 Tage, das als Weltausstellung der zeitgenössischen Kunst zugleich eine Kampfansage an die Staatskunst in Osteuropa war. Auf Auktionen im vergangenen Jahr erzielten seine Werke unerwartete Rekordpreise - das Gemälde „Le Feu“ in einer Londoner Auktion mehr als 2 Millionen Dollar.

Eine Künstlerschau

Olaf Metzel, Künstler und Kurator der Schau „Circus Wols“ geht diesen Fragen nach in einem interessanten, vergnüglichen „Parcours zum Flanieren“, in dem nichts erklärt werden solle. Er sieht Wols als „ … Wirklichkeitszertrümmerer in seinen Arbeiten, seiner gesamten Einstellung. Gegen, gegen, gegen.“ Ein Konvolut von mehr als 30 exquisiten Aquarellen, Zeichnungen und zwei informellen Gemälden - entstanden zwischen 1936/37 bis 1951 - setzt er in Dialog mit rund 50 international renommierten Künstlern wie James Ensor, Marcel Broodthaers, Louise Bourgeois, Marlene Dumas und Sigmar Polke. Einige beziehen sich direkt auf das vielschichtige Werk des „peintre maudit“ (zum Malen Verfluchten), in anderen sieht Metzel einen indirekten Bezug, eine vergleichbare künstlerische Haltung; er eröffnet erfrischend neue Blick-Perspektiven.

Die Wols-Arbeiten stammen fast alle aus einer der bedeutenden Sammlungen zu seinem Werk, der Karin und Uwe Hollweg-Stiftung. Erweitert wird der Blick durch seine Grafiken zu Texten von Jean Paul Sartre, Antonin Artaud, Franz Kafka oder Jean Paulhan und (rund 70) Fotografien, die überwiegend in den 1930er Jahren entstehen. Sie geben einen hervorragenden Einblick in das Oeuvre: narrative, surrealistische Aquarelle und Zeichnungen sowie Fotografien und Arbeiten, in denen er (seit etwa 1940) sein Vokabular klassischer Themen stetig auf dynamisch energetisch gesetzte Linien und Farben reduzierte. Es entstehen kosmisch-lyrische Naturmetamorphosen, Schiffe, Stadtorganismen, Figuren, beispielsweise „Sterne“, um 1941, „Vascello all´ancora“, um 1944/45, „Le Bateau ivre“, um 1943, „Sketch of Buildings“, 1943/44, „La Femme longue (et le chien)“, um 1941, „Faces in Movement“, um 1942/43, „La grande Tête“, um 1943, „La dernière gouache“, 1951. Informelle Figurationen i. S. einer „Gesichtshaftigkeit“ mit für die Physiognomie typischen Unterscheidungsmerkmalen zeigen die beiden Ölgemälde „Le Magicien bleu“, 1946, „Composition sur fond gris“, um 1949.

Über die Grundhaltung hinaus, alles, die ganze Welt sei ein Zirkus - wie Wols nach einem Interview mit der Amerikanerin Ione Robinson von Metzel zitiert wird - finden sich in den poetisch-skurrilen, surrealistischen Bilderzählungen (Aquarellen und Zeichnungen) in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre immer wieder Motive, die aus der Welt des Zirkus´ und Wols´ Internierungszeit bekannt sind, etwa in surrealistisch-skurrilen Figur-Objekt-Montagen wie „Elefant and Boats“ (um 1939/40): ein Elefant, Schiffe mit undefinierbarer Takelage, ein Torbogen, auf dem Bäume wachsen, eine Art Turm, ein vergittertes Fenster, eine Palisadenwand , „Composition surréaliste“ (um 1939/40) oder aus dem Umkreis wie „Mademoiselle docteur“ (um 1936/37), und „Tête Fantastique“ (1936/37). Janusköpfe, die mit zu Wols´ Zirkusmotiven zählen, finden sich in „Ohne Titel“, um 1942.

Die Grundlage von Wols´ systematischer Forschung zum „Cirque Wols“, die Verbindung der surrealistischen Methode (für ihn die Untersuchung von Wahrnehmungstäuschungen in Form eines Gedächtnisbildes) mit clownesken Elementen aus der Welt des Zirkus , zeigen einen künstlerischen Prozess, in dem seiner Meinung nach die Schaffung einer neuen Darstellungsform für den Menschen möglich ist.[2]

Eines der wenigen Aquarelle, die direkt eine Zirkusmanege zeigen - „Le Cirque (prise de vue et projection simultanée)“, 1939 (Galerie Natalie Serroussi, Art Basel 2011) - zeigt in einer Manege vor Zuschauern Wols´ künstlerische Strategie einer Aufnahme und Wiedergabe in Gleichzeitigkeit: eine kleine, groteske Figuren-Szenerie wird mittels Projektor auf eine große Leinwand übertragen. Damit verbunden ist seine Untersuchung verschiedener, veränderbarer Wahrnehmungsmöglichkeiten von Wirklichkeit in seinen Bildern: Wie in einem Zerrspiegel stilisiert er bildnerische, menschliche und andere Unzulänglichkeiten zur Kunstform.

Kunst für Alle – Spectacle populaire aus Künstlersicht / Parallelwelten

Metzel beginnt mit Alexander Calders technisch ausgefeiltem, poetischen Miniatur-Zirkus, mit dem er 1926 im Pariser Avantgarde-Milieu Aufsehen erregte: mit Spielzeugfiguren und -tieren aus Blech, Draht, Korken und Abfallmaterialien führte er kuriose Artistennummern auf: Hochseilakte, malade, rauchende, Ballonaufblasende Clowns u.a. (zu sehen in einem Kurzfilm von Carlos Vilardebo (1961). Es findet sich ebenso eines seiner frei im Raum schwebenden kinetische Mobiles, die eine dynamische Räumlichkeit - Raum, Zeit, Geschwindigkeit, Bewegung - anschaulich machen.

Mit der Lithographie „Salon des Cent“ (1898) verweist er auf die makabren, absurden Gestalten James Ensors und ihre Anregung auf die Surrealisten, deutschen Expressionisten sowie die Kunst nach 1945.

Neue Blickperspektiven in der Fotografie

Aus dem umfangreichen fotografischen Oeuvre von Wols, das erstmals von Laszlo Glozer aufgearbeitet wurde, finden sich rund 70 Arbeiten. Sie verweisen auf den „Zeitgeist“ des „neuen Sehens“, einer „Mehraspektigkeit des Sehens“, wie es im Bauhaus und Surrealismus praktiziert wurde. Dazu zählen Porträtaufnahmen, Clochards oder Treppen. Es finden sich skurrile Blicke auf Alltägliches wie einen Putzeimer oder ein Stück Blech, in das er zwei Löcher schneidet, so dass es zusammen mit Knoblauchzwiebeln zu einer Maske wird. Eine makabre Sicht zeigt eine Ausstellung mit Grabanlagen über der auf einer Erhöhung neben riesigen Reklamefiguren für Brühwürfel (Bouillon Cub) und Käseecken ein Zirkuszelt und eine Figur auf Stelzen stehen.

Mit einem Auftrag für den „Pavillon d´Elégance“ auf der Pariser Weltausstellung 1937 war Wols etabliert, seine Fotos wurden in renommierten Modezeitschriften publiziert. Das besondere war hier die vorgegebene Inszenierung der antlitzlosen Puppen in einer irreal ausgeleuchteten Grotte.

Metzel entwickelt ein vielschichtiges, assoziatives Beziehungsgeflecht. Mit Arbeiten von Paul Klee, Jean Fautrier, Alberto Giacometti, Michaux, Artaud, Cy Twombly, Mark Tobey oder Willem de Kooning nimmt er Bezug auf frühe kunsthistorischen Referenzen Werner Haftmanns und Ewald Rathkes.

Mit Öyvind Fahlström stellt er einen Kollegen in Wort („Wols“[3]) und Bild („Modell for >Meatball Curtain<, 1970) vor. Es finden sich mehrere Werke der „Jahrhundertkünstlerin“ Louise Bourgois wie „Portrait of Jean-Louis (1947-49) und „Ohne Titel“ (1997) und Tuscheporträts von Marlene Dumas. Eine abgerissene Plakatwand von Raimond Hains (1961) , das ironische, paradoxe Infragestellen des Museumsbetriebes von Marcel Broodthaers oder Paul Theks vehemente, schockierende Sozialsatire „Rundfahrt“ (aus der Serie „Technological Reliquaries“, 1964) ebenso wie Tuscheporträts von Marlene Dumas und Nachkriegskünstler, die inzwischen selbst Klassiker sind, beispielsweise Sigmar Polkes ironisch-experimenteller Fotoserie „Die Magie der Dinge“ oder Martin Kippenbergers „o.T. (Clarion Hotel, Saint Louis)“, 1995, „Ohne Titel“ (Price), 1990.

Für die klassische Fotografie stehen Moholy-Nagy oder Umbo, für die zeitgenössische Olaf Metzel („Porträt Raymond Hains“, 1999), Nan Goldin, Axel Huber, Andreas Gursky oder Wolfgang Tillmans.

Wols habe nichts andres gekonnt als zu malen?

Es zeigt sich - gerade in der Zusammenschau mit weiteren Künstler-Positionen -, dass Wols zwar als „Figur auf der existenzialistischen Bühne“ eines Jean-Paul Sartre gilt, darüber hinaus jedoch mit Kalkül von Anfang an bildnerische Grundlagen erarbeitet hat, die im Kontext seiner Generation lesbar sind und in unterschiedlichster Weise Einfluss auf nachfolgende Künstlergenerationen haben.[4] Zur Stimmigkeit der Schau trägt auch die eigens auf das großzügige Raumkonzept zugeschnittene, wechselseitige korrespondierende Hängung bei.

 

Weserburg Museum für moderne Kunst / Teerhof 20 / 28199 Bremen, bis 28.5.2012, Katalog 28,00 EUR

Teilnehmende Künstlerinnen und Künstler: WOLS • Antonin • Artaud • Alighiero Boetti • Louise Bourgeois • Marcel Broodthaers • André Butzer • Alexander Calder • George Condo • Bruce Conner • Constant • Anton Corbijn • Guy Debord • Marlene Dumas • James Ensor • Öyvind Fahlström • Jean Fautrier • Günther Förg • Alberto Giacometti • Nan Goldin • Andreas Gursky • Philip Guston • Raymond Hains • Andy Hope 1930 • Axel Huber • Sergej Jensen • Asger Jorn • Martin Kippenberger • Paul Klee • Bernd Koberling • Addi Køpcke • Willem de Kooning • Zoe Leonard • Olaf Metzel • Henri Michaux • László Moholy-Nagy • Albert Oehlen • Roberto Ohrt • Blinky Palermo • Sigmar Polke • Dieter Roth • Eugen Schönebeck • Norbert Schwontkowski • Daniel Spoerri • Andrea Stappert • Paul Thek • Wolfgang Tillmans • Mark Tobey • Tatiana Trouvé • Cy Twombly • Umbo

Anmerkungen

[1]    In seinem Lebenslauf, den er für ein Visum in die USA für das Emergency Rescue Committee des amerikanischen Journalisten Varian Fry sendet schreibt Wols (1940-42): „Während der Zeit meiner Internierung … durchdachte und sortierte (… ich …) meine Pläne. Mein Hauptmanuskript, an dem ich seit zwei Jahren arbeite, trägt den Titel >>Zirkus Wols<< … ein Handbuch, das nicht nur eine neue Art der Arbeitstechnik entwirft, sondern auch ein Verhältnis zur Kunst allgemein, zu Wissenschaft, Philosophie und menschlichem Leben herstellen möchte. Dieser >>Zirkus Wols<< ist ein Vorschlag, die Geschmacksbildung und die öffentliche Meinung auf demokratische Weise zu betreiben, populär werdende Bereiche, die bis jetzt bestimmten Klassen vorbehalten waren. Hier vermisse ich die Möglichkeit zu Zusammenarbeit und Forschung, sowie die moralische und künstlerische Förderung. Ich hoffe, rasch Menschen und Institutionen in U.S.A. für mein Werk oder Teile meines Werks zu interessieren.“ In: Hans-Joachim Petersen (Hg.), Wols, Die Aphorismen, München: Schirmer/Mosel, 2010, S.138.

[2]    Ausführlich in: Barbara Wucherer, Ein Phänomen des Stolperns, Wols´ Bildnisse 1932-1951 in den Medien Fotografie, Malerei und Zeichnung. Studien zur Problematik der Porträtdarstellung im 20. Jahrhundert, Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1999.

[3]    Öyvind Fahlström, Wols, in: Circus Wols. The Life & Work, hg. Von Peter Inch, Todmorden, Lanc. U.K., 1978, o.S.

[4]    Zur Aktualität des Wols´schen Werkes siehe auch Kay Heymer, Susanne Rennert (Hg.), „Le grande geste!: Informel und Abstrakter Expressionismus 1946-1964“, Köln: DuMont, 2010 (museum kunstpalast düsseldorf).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/78/bws5.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2012